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KRIEG/1401: Unzulängliche Opferbilanz des Afghanistankriegs (SB)



Laut der UN-Mission in Afghanistan sind letztes Jahr 2412 Zivilisten im Krieg zwischen den Besatzern und der Gegnern getötet worden. Für die insgesamt um 14 Prozent angestiegene Zahl der Opfer sollen den Vereinten Nationen zufolge in rund zwei Drittel der Fälle die Taliban und andere Gruppen des Widerstands verantwortlich sein, während rund 25 Prozent der Toten durch Kampfeinsätze der NATO ums Leben kamen. Die übrigen Opfer ließen sich laut UNAMA keiner Konfliktpartei zuordnen.

Die bis auf die letzte Stelle genaue Gesamtzahl der zivilen Kriegsopfer ist schon deshalb in Frage zu stellen, weil die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) die zivile Seite der Besatzungspolitik repräsentiert und sich in ihren Informationen maßgeblich auf Angaben der Kabuler Regierung, der NATO und der internationalen Hilfsorganisationen beruft. So wurden Behauptungen der NATO, bei ihren Angriffen Taliban getötet zu haben, häufig durch Angaben von Überlebenden gekontert, die ein ganz anderes Bild der Ereignisse vermittelten. Wo es keine Überlebenden gibt oder deren Informationen aus politischen Gründen unterdrückt werden, fallen auch keine zivilen Kriegsopfer an.

Des weiteren sind auch die Opfer der massiven materiellen Not zu den Kriegstoten zu zählen, hat die dem Land aufoktroyierte Ordnung es doch trotz der Unsummen, die für seine militärische Beherrschung ausgegeben werden, nicht vermocht, den grassierenden Hunger, die medizinische Unterversorgung und die schlechten Wohnmöglichkeiten der Afghanen auch nur zu lindern. Wenn das ausgewiesene Ziel, den Menschen des Landes zu einem besseren Leben zu verhelfen, nach neun Jahren internationaler Besetzung nicht dazu geführt hat, die seit seiner Eroberung fast unveränderte durchschnittliche Lebenserwartung von 44 Jahren zu erhöhen, um nur einen der desaströsen Sozialindikatoren zu nennen, der die Stagnation der zivilen Entwicklung Afghanistans dokumentiert, dann sind die Besatzer zu einem Gutteil für das soziale Elend verantwortlich zu machen.

Wenn sich die Regierungen der NATO-Staaten nun zuguteschreiben, durch eine weniger aggressive Strategie einen Rückgang der zivilen Opfer bewirkt zu haben, dann muß es keineswegs dabei bleiben. Die US-Regierung selbst geht davon aus, daß die Kampftätigkeiten mit der Aufstockung ihrer Truppen in Afghanistan und dem Beginn des Frühlings drastisch zunehmen werden. In Washington hat man sich offensichtlich vorgenommen, die Stärke der Besatzungsgegner, die ein Drittel des Landes unter ihrer Kontrolle haben sollen, zu brechen. Die Regierungen der 140.000 Soldaten, mit der die NATO-Staaten in diesem Jahr am Hindukusch präsent sein werden und die von einer fast ebensogroßen Zahl ausländischer Söldner und Sicherheitskräfte für Kampfeinsätze freigesetzt werden, drängen auch angesichts der wachsenden Kritik ihrer Bürger an diesem Krieg auf eine Entscheidung.

Nicht zu vergessen bei einer Bilanzierung des zivilen Blutzolls, der den Afghanen auch deshalb abverlangt wird, weil die militärische Aufrüstung der Regierung Karzai durch die NATO-Staaten zu einer Bürgerkriegssituation geführt hat, sind die zivilen Opfer des Krieges in Pakistan. Da die US-Regierung, die beide Kriege unter dem Kürzel AfPak subsumiert, erheblichen Druck auf die Regierung in Islamabad ausübt, den Rückzugsraum der Taliban in der Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan zu sperren, und die Forcierung der Aufstandsbekämpfung durch Präsident Asif Zardari zu einer bürgerkriegsartigen Entwicklung in Teilen des Landes geführt hat, sind die offiziell mehr als 12.000 Kriegstoten des letzten Jahres zur Opferbilanz Afghanistans hinzuzurechnen. Allein 700 von ihnen gehen laut Regierungsinformationen aus Islamabad direkt auf das Konto US-amerikanischer Drohnenangriffe.

Was immer mit diesem Blutzoll erkauft werden soll, kann nicht im Interesse der Bevölkerungen beider Länder liegen. Glaubwürdig wären die angeblichen Bemühungen der Besatzer um das Wohl der Afghanen bestenfalls dann, wenn ihre materielle Situation deutlich verbessert würde. Tatsächlich fördert der Krieg eine aus den Töpfen der Besatzungsmächte und der mit ihnen verbundenen Hilfsorganisationen geschöpfte Stimulierung ganz bestimmter, für die Logistik und Einsatzfähigkeit der NATO-Truppen wichtiger Sektoren der Infrastruktur und Wirtschaft. Ansonsten bleibt es bei einer Drogenökonomie, die die Herrschaftstrukturen innerhalb der afghanischen Gesellschaft zementiert und ihrerseits Tote bei Kämpfen um das lukrative Geschäft produziert. Der bisher einzige Ansatz, der afghanischen Gesellschaft zu einer gerechteren Ordnung zu verhelfen, wurde von den USA und ihren verbündeten in den 80er Jahren gezielt sabotiert. Seit das Land zum Austragungsort eines Stellvertreterkriegs zwischen den Großmächten des Kalten Krieges wurde, ist es ein Opfer der geostrategischen Interessen dritter Parteien. Die Behauptung, allein die Taliban oder andere Besatzungsgegner wären für diese desolate Situation verantwortlich, läßt sich nur unter Ausblendung dieses Hintergrunds aufstellen.

13. Januar 2010