Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1408: Zerstören, um aufzubauen ... Standardlüge der NATO-Kriegführung (SB)



Schon seit acht Jahren wird der Krieg in Afghanistan mit der Aussicht darauf geführt, daß später alles besser sein wird. Ersteinmal muß gehobelt werden, müssen Späne fliegen, bevor das Werkstück, der neue, demokratisch verfaßte Staat, zu einem vollwertigen Mitglied der internationalen Gemeinschaft wird. Die Kriegführung der NATO-Staaten am Hindukusch lebt von Anfang an davon, daß Perspektiven einer friedlichen und lebensfähigen Gesellschaft entworfen werden, die zu erreichen zuvor jedoch der radikalen Ausmerzung ihrer Gegner bedarf. So auch die aktuelle ISAF-Offensive in der südafghanischen Provinz Helmand, die mit 15.000 US-amerikanischen und afghanischen Soldaten die größte Militäroperation seit Eroberung des Landes vor acht Jahren ist.

Nun also gehen die US-Streitkräfte und die Truppen der vom Westen protegierten afghanischen Regierung mit "überwältigender Gewalt", wie es in einer Verlautbarung der ISAF heißt, gegen sogenannte "Aufständische" vor, die das Angebot der Regierung nicht annehmen, sich zu reintegrieren und sich in den politischen Prozess einzugliedern (Welt Online, 13.02.2010). Was sich anhört, als ob die "Terroristen", wie die Taliban von deutschen Politikern auch gerne genannt werden, sich aus irrationaler Lust an der Zerstörung ihres eigenen Landes oder aus ungeteiltem Machtstreben gegen die NATO-Truppen und die von ihnen geschützte Regierung des Präsidenten Hamid Karzai stellten, läßt sich auch als legitimer Widerstand gegen ausländische Besatzer darstellen, die dem Land eine politische Ordnung aufoktroyieren, die nicht alle seiner davon betroffenen Bürger akzeptieren wollen. Die Bedingung der Besatzungsgegner für die Teilnahme am Prozeß einer Regierungsbildung besteht im Abzug der ausländischen Truppen, weil diese ansonsten einen Einfluß auf die politische Neuordnung des Landes nähmen, die in erster Linie ihre Interessen reflektierte und nicht die der afghanischen Bevölkerung. Diese Forderung wird dem Anspruch der Afghanen auf souveräne Eigenstaatlichkeit jedenfalls eher gerecht als eine von außen durchgesetzte politische Ordnung des Landes.

In jedem Fall legt der Einsatz massiver militärischer Gewalt auch unter dem Vorbehalt, daß die Soldaten, wie die ISAF behauptet, sich besonders darauf konzentrierten, die Zivilbevölkerung zu schützen, das Zeugnis umfassenden Scheiterns ab. So ist diese zu großen Teilen aus dem Kriegsgebiet im Bezirk Marjah, in dem rund 120.000 Afghanen leben, geflohen, weil sie weiß, daß sie ansonsten zu einem legitimen Ziel der Angreifer wird. Da die Taliban einen Guerillakrieg führen, gilt die Bevölkerung zumindest so weit als legitimes Kriegsziel, als sie den sogenannten Aufständischen zugeschlagen wird. Dies wird in der Darstellung der Besatzer üblicherweise in das Bild gefaßt, daß die Taliban die Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild mißbrauchten. Es ist nicht nur einmal geschehen, daß sich Angaben der ISAF über angeblich bei einem Angriff der NATO-Truppen ums Leben gekommene Taliban als irreführend erwiesen, weil das Gros der Opfer tatsächlich aus Zivilisten bestand.

Westliche Politiker, unter ihnen US-Präsident George W. Bush, forderten nach dem 11. September 2001, daß die Bekämpfung des Terrorismus auch mit der Verbesserung der Lebenslage in den Ländern einhergehen müssen, aus denen die Attentäter stammten oder in denen sie sich großer Zustimmung erfreuten. Was ist konkret geschehen? Die Verelendung in den Ländern des Südens und der Hunger in der Welt nehmen zu statt ab, kaum eines der Versprechen, mit denen die kapitalistische Globalisierung als Wachstumsmodell beworben wurde, hat sich erfüllt. Statt dessen haben die inneren Widersprüche dieses Verwertungssystems eine längst nicht ausgestandene Weltwirtschaftskrise ausgelöst, die insbesondere zu Lasten der Armen geht, weil sie bei der Erfüllung ihrer existentiellen Bedürfnisse vor immer größere Schwierigkeiten stehen.

In Afghanistan haben sich laut UN-Angaben zwischen 2004 und 2008 alle wichtigen Sozialindikatoren deutlich verschlechtert, und dieser Zeitraum liegt vor dem akuten Stadium der Weltwirtschaftskrise. Desto unglaubwürdiger ist das Fantasma eines, wenn nur die Taliban und andere Regierungsgegner besiegt würden, prosperierenden Landes, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung von rund 45 Jahren flugs auf westliche Standards steigt. Diese Perspektive, mit der die Bundesregierung die weitere Anwesenheit der Bundeswehr im Land und die Entsendung zusätzlicher Soldaten rechtfertigt, wurde bereits durch vorherige Ankündigungen so gründlich widerlegt, daß es keinen Anlaß gibt, nun davon auszugehen, daß sie unter noch größerem Gewalteinsatz erreicht wird. Der Aufmarsch weiterer Soldaten wird nur einen Effekt haben - immer mehr Afghanen werden sich gegen die Besatzer wenden, die ihnen auch heute nicht die versprochenen Verbesserungen, sondern nichts als Tod und Zerstörung bescheren.

Es ist daher zutiefst unlauter, diesen Krieg damit zu verkaufen, daß nun endlich der zivile Wiederaufbau beginnen und damit alles anders werde. Die in Deutschland geführte Debatte um die Regelsätze bei Hartz IV fördert unmißverständlich zutage, daß eine kapitalistische Gesellschaft nicht nur nichts zu verschenken hat, sondern daß ihre Funktionstüchtigkeit auf jenen sozialen Diskrepanzen beruht, die kapitalistische Verwertung erst profitabel machen. Warum also sollte man hungernden Menschen in einem fernen Land aufhelfen, dessen Bevölkerung kaum Aussichten auf eine wirtschaftliche Verbesserung hat, die sie über das in ihrer Region übliche Massenelend hinaus erhöbe, geschweige denn daß die deutsche Exportindustrie dort große Geschäftschancen witterte?

Die Befriedung Afghanistans ist Bestandteil eines Weltordnungskriegs, in dem geostrategische und bündnispolitische Interessen verfolgt werden, bei denen die betroffenen Menschen nicht einmal Schachfiguren, sondern, wenn sie denn wahrgenommen werden, Kollateralschäden sind. Die zu rechtfertigen erfordert ein wenig Aufwand, hat aber, wie die Debatte um den Bombenangriff auf zwei Tanklaster bei Kunduz zeigt, den produktiven Nutzen einer Gewöhnung an die beim Hobeln abfallenden Späne. Auch dafür gibt es administrative und juristische Formen, die, wenn sie das Blutbad nur ordnungsgmäß einfassen, die Kriegsbereitschaft und -tüchtigkeit der Bundesrepublik verbessert haben.

13. Februar 2010