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KRIEG/1420: Marionette in Kabul schlägt über die Stränge (SB)



Zwei Seelen wohnen, ach, in Hamid Karzais Brust, wobei der Statthalter der Besatzungsmächte in Kabul derzeit seine afghanische Saite mit nie gekannter Intensität anklingen läßt, als liege ihm daran, die Grenzen seiner Brauchbarkeit im Dienst der Okkupation auszuloten und dies zugleich als Drohgebärde zur Untermalung seiner Unentbehrlichkeit in Stellung zu bringen. Bei einem Treffen in der Stadt Kandahar gab der Präsident von Gnaden westlicher Regierungen vor rund 1.500 Stammesältesten in Begleitung des Oberkommandierenden der NATO- und US-amerikanischen Truppen in Afghanistan, General Stanley McChrystal, bekannt, er werde die geplante Offensive in der Region blockieren, sollte diese nicht von der örtlichen Bevölkerung unterstützt werden. "Ich weiß, daß ihr besorgt seid. Seid ihr besorgt?", fragte er die versammelten Stammesältesten. "Ja, das sind wir", riefen etliche zurück. "Nun", fuhr Karzai daraufhin fort, "wenn ihr besorgt seid, wenn ihr damit nicht glücklich seid, dann wird es keine solche Operation geben." (Neue Zürcher Zeitung 05.04.10)

Das war starker Tobak, ist doch die geplante größte Offensive gegen den afghanischen Widerstand in der Region seit Beginn des Krieges vor mehr als acht Jahren das militärische und propagandistische Kernstück der sogenannten neuen Doktrin im Zuge des mißlingenden Unterfangens, die Afghanen endlich auf die Knie zu zwingen. Karzai wurde sogar noch deutlicher und sprach bei diesem Treffen Sachverhalte aus, die zwar offensichtlich sind, aber gerade deswegen von Seiten des Besatzungsregimes tabuisiert werden. Afghanistan, so erklärte er, werde zur Ruhe kommen, wenn die Bürger daran glaubten, daß ihr Präsident keine "Marionette", sondern unabhängig sei. Die Mitarbeiter der Regierung sollten sich nicht von "Ausländern" in ihre Arbeit hineinpfuschen lassen. Er habe dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama bereits gesagt, daß er das afghanische Volk nicht durch Krieg zusammenhalten könne: "Seit acht Jahren geht das nun schon so. Wir wollen Frieden und Sicherheit."

General McChrystal blieb offenbar die Spucke weg, denn er äußerte sich nicht zu den Worten Karzais. An Stelle seines Oberkommandierenden spielte der US-amerikanische Generalmajor William Mayville die fatalen Äußerungen mit den Worten herunter, der Präsident sei beim Vorhaben der Offensive "mit an Bord" und versuche nur, Unterstützung bei den Stammesältesten zu bekommen. Das mag durchaus die Absicht des doppelzüngigen Statthalters sein, der sich damit als unverzichtbarer Türöffner anzudienen versucht. Dennoch dürfte die Amerikaner und deren Verbündete beträchtlich irritieren, wie weit Karzai inzwischen die Vorwürfe gegen die westlichen Staaten treibt, denen er vor wenigen Tagen vorgehalten hat, sie wollten ihn und das Parlament schwächen wie auch Wahlen in Afghanistan verhindern. Bei dieser Bezichtigung mischte Karzai absurde Vorwürfe, der letztjährige Wahlbetrug sei von Ausländern wie dem früheren stellvertretenden UNO-Sondergesandten Peter Galbraith und dem Chef der EU-Beobachterkommission, Philippe Morillon, sowie den Botschaften begangen worden, mit der Äußerung, nur ein dünner Vorhang trenne die Aufbauhilfe von einer Invasion, wobei er sich in Teilen seiner Rede in Kabul der Terminologie des nationalen Widerstands bediente.

Dies rief eine heftige Reaktion in Washington hervor, worauf Karzai bei Außenministerin Clinton anrief, um ihr zu versichern, er habe nicht ihre Regierung, sondern ausländische Medien kritisiert, die ihn als Wahlbetrüger diskreditierten. In diesem Gespräch bekräftigten angeblich beide Seiten die Partnerschaft ihrer Länder, wobei der afghanische Präsident für die Unterstützung und die Opfer der internationalen Gemeinschaft gedankt habe. Nachdem die Kontroverse somit eingedämmt schien, legte Karzai in Kandahar erneut nach, als gelte es, seine Landsleute mit allen Mitteln davon zu überzeugen, daß er kein Wechselbalg im fernen Kabul, sondern einer der ihren ist.

Verunsichert ihn die internationale Kritik an seinem Bruder Ahmed Wali Karzai, der augenscheinlich den Drogenhandel im Süden des Landes kontrolliert und dessen Hausmacht für den Präsidenten lebenswichtig ist? Sieht er sich unter dem Vorwurf massiven Wahlbetrugs und der Forderung nach einer unabhängigen Wahlkommission in die Ecke gedrängt? Sind seine jüngsten Manöver dem Zweck geschuldet, die Hintermänner im Washington und den europäischen Hauptstädten von seiner Unentbehrlichkeit zu überzeugen? Oder ist er sich inzwischen sicher, daß der Erfolg der Okkupation untrennbar mit seinem politischen Schicksal verwoben ist? Womöglich tritt er bereits ins berüchtigte Stadium des amoklaufenden Kollaborateurs ein, der den Entzug der Unterstützung fürchtend den mächtigen Bündnispartnern die Pistole auf die Brust zu setzen versucht.

Am Vortag seines Auftritts in Kandahar hatte Karzai etwa 60 Parlamentsabgeordnete zusammengetrommelt, bei denen es sich größtenteils um seine Anhänger handelte, und sie abgekanzelt, weil sie den von ihm eingebrachten Gesetzentwurf zur Veränderung des Wahlrechts nicht unterstützt hatten. Diese Reform sollte ihm unter anderem das Recht einräumen, alle Mitglieder der Wahlbeschwerdekommission zu ernennen, die bislang von den Vereinten Nationen, dem Obersten Gerichtshof und der afghanischen unabhängigen Menschenrechtskommission benannt werden. Das Gremium befaßt sich mit Vorwürfen mutmaßlichen Wahlbetrugs und hat die massiven Manipulationen beim fragwürdigen Wahlsieg Karzais im August letzten Jahres dokumentiert, was der Präsident künftig zu verhindern trachtete.

Wie ein Teilnehmer an diesem Treffen unter der Bedingung, daß sein Name nicht genannt wird, durchsickern ließ, habe Karzai gedroht, er werde sich den Taliban anschließen, sofern die Parlamentarier und die internationale Gemeinschaft nicht aufhörten, ihn unter Druck zu setzen. (New York Times 04.04.10)

Manche westlichen Kommentatoren geben daher der Befürchtung Ausdruck, Karzai entfremde sich schlichtweg den Besatzungsmächten und nähere sich statt dessen dem Iran und China an, deren Interessen und Engagement am Hindukusch zwangsläufig in Widerspruch zu jenen der Westmächte stehen. Auch hat der Präsident jüngst ausgiebige Gespräche mit Vertretern Gulbuddin Hekmatjars wie auch der Taliban geführt, die durchaus auf einen erstarkten Wunsch nach einer innerafghanischen Lösung unter seiner Beteiligung hindeuten könnten. Da stabile politische Strukturen und ein plausibler Aufbauplan nicht in Sicht sind, vollzieht Karzai womöglich längst eine Kehrtwende, um sich andere Bündnispartner zu sichern.

Die Debatte, wie man Karzai zur Räson bringen könnte, schlägt dieser Tage hohe Wellen, wobei die allesamt nicht überzeugenden Ansätze von einem Ausbau der bislang weitgehend fehlenden Bürgerbeteiligung an der Regierungsbildung auf allen Ebenen über eine verstärkte diplomatische Herangehensweise, die bisher kaum Resultate vorzuweisen hat, bis hin zur Abzugsdrohung oder gar dem tatsächlichen Abzug reichen. Peter W. Galbraith, der nach seinen Vorwürfen gegen Karzai unter der Bezichtigung, er betreibe die Absetzung des Präsidenten, von der UNO seines Amtes enthoben worden war, plädiert für Abzug: Es mache keinen Sinn, Truppen mit einer Mission zu betrauen, die nicht beendet werden kann, mag diese noch so wichtig sein. Aufstandsbekämpfung setze nun einmal einen glaubwürdigen Partner vor Ort voraus, den man in Afghanistan nicht besitze.

Mag man Galbraiths Auffassung insofern teilen, als Hamid Karzai kein glaubwürdiger Partner ist, so krankt seine Argumentation wie auch die gesamte derzeit in den westlichen Mainstreammedien geführte Diskussion an der grundsätzlichen Unterstellung, die Besatzungsmächte engagierten sich in Afghanistan, um das Land zu befreien, zu befrieden und aufzubauen. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sind gekommen, um sich dauerhaft am Hindukusch festzusetzen, wobei Abzug in diesem Zusammenhang nur bedeutet, wie im Irak die Hauptstreitmacht an andere Kriegsschauplätze zu verlegen, während ein reduziertes Kontingent von den Stützpunkten aus die Stellung halten und die Kontrolle gewährleisten soll. Daher handelt es sich bei der diskutierten Abzugsdrohung um reine Fiktion, da die Okkupationsstreitkräfte das Land erst dann in erheblichen Teilen verlassen wollen, wenn die wichtigsten Kriegsziele erreicht worden sind.

Hamid Karzai wurde als Marionette der Besatzungsmächte installiert, was den Vorwurf, er sei kein glaubwürdiger Partner, nachgerade absurd macht. Alle Wünsche der westlichen Regierungen zu erfüllen und zugleich seinen Landsleuten eine legitime politische Führung zur Wahrung ihrer Interessen vorzugaukeln, ist schlichtweg unmöglich, weshalb er wie jeder Kollaborateur mindestens zwei Gesichter wechselweise zur Schau tragen muß. Sorgen macht den Alliierten allerdings, wie weit sich Karzai gegenwärtig auf afghanischer Seite aus dem Fenster hängt. Während sie nämlich drohen, ihn fallenzulassen, müssen sie ihn zugleich halten, da andernfalls ihre achtjährigen Bemühungen bis hin zur Duldung seines massiven Wahlbetrugs Makulatur würden, die im eisigen Wind des afghanischen Widerstands verweht.

6. April 2010