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KRIEG/1482: Afghanistan nicht nur für UN-Mitarbeiter der gefährlichste Ort (SB)



Für die Menschen in Afghanistan existieren keine Grenzen des Krieges - allenfalls Zonen mit zeitweise eingeschränkten Kampfhandlungen. Niemand kann sicher davor sein, nachts von einem Kommando ausländischer Spezialkräfte drangsaliert, verschleppt oder umgebracht zu werden. Unvorhersehbar schlagen Bomben und Raketen ein, explodieren Sprengsätze. Soweit es sich um einen Guerillakrieg handelt, gibt es weder klare Fronten, noch eindeutig identifizierbare Konfliktparteien. Hinzu kommen Armut und Hunger, die in den zehn Jahren des westlichen Besatzungsregimes gewachsen sind. Wenn all das und vieles mehr für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zutrifft, stellt sich die Frage, warum Ausländer, die sich im Land aufhalten, davon ausgenommen sein sollten. Bilanziert man das Gefälle existentieller Voraussetzungen, wird man zwangsläufig darauf stoßen, daß die bloße Präsenz ausländischer Organisationen angesichts aufwendiger Unterbringungs-, Versorgungs-, Transport- und Schutzmaßnahmen Kosten und Aufwände erforderlich macht, die das Lebensniveau ganzer einheimischer Dörfer oder Städte auf Jahre hinaus heben könnten, stellte man ihnen die entsprechenden Mittel auf eine für sie nutzbare Weise zur Verfügung.

Das Standardargument, internationale Helfer zählten zu den "Guten" und seien gekommen, um unter denkbar größten persönlichen Risiken und Opfern die Afghanen beim Aufbau des Landes zu unterstützen, ist von dem imperialistischen Anspruch durchdrungen, auf einer höheren Stufe als die Klientel der Hilfsmaßnahmen zu stehen. Solange man sich nicht zu der Erkenntnis durchringt, daß das Grundverhältnis jenes zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten bleibt, da jedes Quentchen materiellen Unterschieds einem Unterlegenen abgepreßt ist, bleibt das Burgtor verschlossen, hinter dem man sich vor den Opfern und Folgen raubgestützter Überlebenssicherung abzuschotten versucht.

Ohne ausländischen Helfern, die mitunter schon vor dem aktuellen Krieg in Afghanistan tätig waren, persönliches Engagement im geringsten abzusprechen, oder sämtliche Hilfsorganisationen in einen Topf zu werfen, gilt es doch einige grundsätzliche Fragen zu stellen. Angesichts eines Besatzungsregimes, dessen strategisches Interesse an der Okkupation dieser Weltregion sich mit dem Schleier vorgeblicher Befreiung und Aufbauhilfe tarnt, steht jede Hilfsmaßnahme zwangsläufig im Spannungsfeld einer ideologisch verbrämten Aggression, die sich ihrer mindestens als Feigenblatt bedient und sie längst immer tiefer einzubinden sucht. So stellt zwar die Doktrin zivil-militärischer Zusammenarbeit einen Entwicklungssprung der Einvernahme dar, gegen den sich die Hilfsorganisationen verständlicherweise verwahren, doch wäre dieses Konzept von vornherein absurd, gäbe es nicht grundsätzliche Übereinkünfte und Allianzen zwischen dem "guten" und dem "bösen" Arm westlicher Intervention.

Die Bedenken der Helfer, sie würden von den Militärs immer enger in die Pflicht genommen und geräten dadurch zwangsläufig ins Visier des afghanischen Widerstands, sind nachvollziehbar. Aus afghanischer Sicht verschwimmen demnach die Grenzen zwischen den verschiedenen Fraktionen ausländischer Präsenz bis zur Unkenntlichkeit, wenn deren Soldaten Seite an Seite mit Zivilisten in Erscheinung treten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man mit dieser vielfach kolportierten Einschätzung den Afghanen nicht wiederum eine wie auch immer bedingte Unfähigkeit unterstellt, ihnen fremde Verhältnisse zu durchschauen und differenziert zu bewerten. Müßte nicht in einem Land, das von jeher von rivalisierenden Clans und wechselnden Bündnissen geprägt war, aber zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte von einer feindlichen Macht dauerhaft besetzt werden konnte, weshalb man es auch den "Friedhof der Imperien" nennt, die Fähigkeit, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, lebensnotwendig und daher besonders hoch entwickelt sein? Kommen Afghanen zu dem Schluß, daß man besser keinem Fremden trauen und sie alle zum Teufel jagen sollte, muß dies also nicht zwangsläufig eine Fehleinschätzung sein.

Angesichts der Beiläufigkeit und Gleichgültigkeit, mit der das alltägliche Sterben von Afghanen durch westliche Waffengewalt registriert und abgehakt wird, mutet der Aufschrei der Empörung in Reaktion auf den Tod mehrerer Mitarbeiter der Vereinten Nationen in Nordafghanistan nicht nur unverhältnismäßig an. Wie die dabei gebrauchten Formeln nahelegen, nutzen westliche Politik und Medien diesen Zwischenfall zu einer weiteren Offensive der Bezichtigung. Wie es dazu hieß, habe "ein aufgebrachter Mob radikaler Moslems", die nach Polizeiangaben von einem Vorbeter in der Moschee aufgewiegelt worden seien, eine zunächst friedliche Demonstration bei Erreichen des UN-Büros in Masar-i-Scharif in einen gewalttätigen Angriff verwandelt. Die Menge habe die Wachmänner überwältigt, das UN-Gelände gestürmt und das Gebäude in Brand gesteckt. [1]

UN-Untergeneralsekretär Alain Le Roy, der für alle Friedensmissionen verantwortlich ist, berichtete, daß die offenbar bei dem Angriff getöteten nepalesischen UN-Soldaten alles versucht hätten, um das Gelände zu schützen. Es seien jedoch einfach zu viele Angreifer gewesen, da "Hunderte, vielleicht Tausende Demonstranten, viele bewaffnet", vor dem UN-Büro zusammengeströmt waren. Der Angriff galt seines Erachtens jedoch nicht direkt der UN, sondern irgendeinem internationalen Ziel.

Anlaß zu diesem Ausbruch des Zorns gab offenbar eine allerdings fast zwei Wochen zurückliegende Koranverbrennung, die der einschlägig bekannte US-Prediger Terry Jones am 20. März im Rahmen eines Tribunals gegen den Islam gemeinsam mit einem weiteren Prediger durchgeführt hatte. Der 58jährige hatte bereits im vergangenen Jahr mit einer solchen Aktion gedroht, davon jedoch nach internationalen Protesten abgelassen. [2] Nun wies er die Schuld am Tod der UN-Mitarbeiter in Afghanistan zurück. Dafür fühle er sich in keiner Weise verantwortlich, sagte er der britischen BBC. In einer Erklärung sprach der fundamentalistische Geistliche dem Islam zudem die Friedfertigkeit ab: "Der Islam ist keine Religion des Friedens." [3]

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sprach von einem "abscheulichen und feigen Anschlag", der unter keinen Umständen gerechtfertigt werden könne. Er wies seinen Sondergesandten Staffan de Mistura an, sofort zum Tatort zu eilen und die Hintergründe des Überfalls zu klären. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen forderte von der afghanischen Regierung eine lückenlose Aufklärung und Konsequenzen. Der deutsche Vizebotschafter Miguel Berger sprach sich in der von Deutschland beantragten Sondersitzung für eine schnelle und entschiedene Reaktion aus. Die Regierung müsse handeln und die Schuldigen der Justiz zuführen, verlangte auch Kolumbiens UN-Botschafter Nestor Osorio, der soeben turnusgemäß den Vorsitz des Gremiums für den Monat April übernommen hat. US-Präsident Barack Obama verurteilte den Anschlag auf die "tapferen Männer und Frauen", die sich für den Aufbau Afghanistans eingesetzt hätten. Auch die Gewerkschaft der UN-Mitarbeiter reagierte mit Abscheu und erklärte, daß wieder einmal Menschen getötet worden seien, die einfach nur dem Volk in einem kriegsgeplagten Land helfen wollten.

In zahlreichen Städten der islamischen Welt protestierten Muslime gegen die Koranverbrennung, doch nirgendwo mit vergleichbaren Folgen wie in Masar-i-Scharif. Dort starben drei ausländische UN-Mitarbeiter, vier nepalesische Soldaten und mehrere Angreifer, eine Reihe weiterer Menschen trug Verletzungen davon. Die Rede ist nun vom schlimmsten Angriff auf die UN in Afghanistan seit Beginn des internationalen Einsatzes im Jahr 2001. Im August 2009 wurden zwei UN-Helfer durch eine Autobombe in Kabul getötet und zwei Monate später starben fünf Mitarbeiter beim Angriff auf ein UN-Gästehaus. Am Heiligen Abend 2009 wurde ein Mann vor einem Lebensmittellager des Welternährungsprogramms in Kandahar getötet, im Juni vergangenen Jahres ein Helfer in Kabul erschossen.

Nach Angaben der UN-Gewerkschaft gehört Afghanistan zu den gefährlichsten Dienstorten für die Mitarbeiter der Vereinten Nationen. So beklagenswert dieser Zustand ist, sollte man abschließend doch noch einmal daran erinnern, daß Afghanistan insbesondere für Afghanen der gefährlichste Ort ist, den zu verlassen ihnen nur selten freisteht.

Anmerkungen:

[1] Blutige Proteste in Afghanistan. UN bestürzt über Tötung von Mitarbeitern (02.04.11)
http://www.sueddeutsche.de/politik/blutige-proteste-in-afghanistan-un-bestuerzt-ueber-toetung-von-mitarbeitern-1.1080487

[2] Afghanistan. Sicherheitsrat verurteilt Angriff auf UN-Büro (02.04.11)
http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-04/afghanistan-angriff-un

[3] Masar-i-Scharif. Tod von UN-Mitarbeitern - Pastor weist Schuld zurück (02.04.11)
http://www.focus.de/politik/ausland/konflikte-afghanistan-nach-koran-verbrennung-ueberfall-auf-un_aid_614432.html

2. April 2011