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KRIEG/1511: NATO über alles ... Westerwelle auf dem Altar der Wertegemeinschaft (SB)



Kein Krieg mehr ohne Deutschland, lautet die Devise, unter der Außenminister Guido Westerwelle nach Strich und Faden demontiert wird. Nicht nur gemünzt auf sein Agieren in der Libyenfrage, sondern zur exemplarischen Abschreckung ihm nachfolgender Minister nimmt die präventive Kriegführung die Gestalt einer medialen Treibjagd an. Daß sich über dem FDP-Politiker aufgrund seiner notgedrungenen Gutheißung der NATO-Intervention in Libyen ein zweiter Kübel rhetorischen Schmutzwassers ergießt, könnte nicht besser dokumentieren, daß es weit mehr zu bereinigen gibt als eine Entscheidung der Bundesregierung, die in Übereinstimmung mit Brasilien, Rußland, Indien und China, also zwei Vetomächten und zwei weiteren großen Schwellenstaaten, erfolgte und aufgrund derer sich die Bundesrepublik wie viele andere NATO-Staaten direkter militärischer Aktionen in Libyen enthalten wollte. Die deutsche Außenpolitik soll auf Linie der aggressivsten Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats, der NATO-Staaten USA, Frankreich und Britannien, eingeschworen werden, um die politischen, finanziellen und humanen Kosten künftiger Regulationskriege breiter verteilen zu können.

Daß Westerwelle fast unisono die Unberechenbarkeit deutscher Außenpolitik angelastet wird, erhellt die machtpolitische Ratio, die sie begründen soll. Wenn Unberechbarkeit darin besteht, durch die nicht erfolgte militärische Unterstützung der libyschen Rebellen gegen die Interessen Deutschlands zu verstoßen, dann wäre ein Handeln berechenbar, das sich an die gesetzlichen und vertraglichen Grundlagen deutscher Außenpolitik hielte, und gerade das soll verhindert werden.

So tönt etwa die Ehrenvorsitzende der FDP in Hessen, Ruth Wagner, im Deutschlandfunk, "dass in der Außenpolitik man zu bestimmten Prinzipien steht, die gemeinsam erarbeitet worden sind in der NATO, und es ist die historische Wahrheit, dass ohne den militärischen Einsatz die libysche Revolution nicht da wäre, wo sie heute ist". [1] Die Bundesrepublik wurde 1955 Mitglied im Nordatlantikvertrag und hat seinen weit hinter der heutigen Praxis des Militärbündnisses zurückgebliebenen Wortlaut trotz der Forderung einzelner Fraktionen bislang keiner parlamentarischen Revision unterzogen. Mithin gilt nach wie vor, daß die NATO-Staaten kollektive Selbstverteidigung ihres Bündnisgebiets betreiben, weswegen Wagner sich auch nicht auf Vertragsrecht, sondern die Erarbeitung bestimmter Prinzipien beruft. Als globale militärische Ordnungsmacht hat die NATO längst jegliche formale Legalität hinter sich gelassen, was der Libyenkrieg auf besondere Weise belegt.

Nachdem die Eroberung der Zentrale der Rebellen in Bengasi durch die Regierungstruppen und das dafür prognostizierte Massaker ausblieben, war der originäre Auftrag des UN-Mandats praktisch erfüllt. Alle weiteren Maßnahmen der NATO haben zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung wie unter den Konfliktparteien gefordert, weil das UN-Mandat als fadenscheiniger Vorwand zur Erwirtschaftung eines Regimewechsels in Tripolis und des Einsetzens einer neuen, den Interessen der Aggressoren dienlichere Regierung mißbraucht wurde. Mit Wagners offenem Eingeständnis, daß die NATO auf Seiten der Rebellen kämpfte, verrät sie selbst die Prinzipien der UN-Resolution, die die Bundesrepublik weder unterstützte noch verhinderte. Westerwelle dafür zu rügen, sich nicht an einer Scharade zur weiteren Zerstörung des Völkerrechts beteiligt zu haben, belastet seine Gegner mit der Hypothek der von ihnen aufgebotenen Moral angeblich mangelnden Eintretens für Freiheit und Demokratie.

Da derartige Argumente Gift für die machiavellistische Hegemonialpolitik der NATO-Staaten sind, unterbleibt die konkrete Bilanzierung dieses Krieges. Die humanitäre Krise nach fünf Monaten Bombardierung durch die NATO ist mindestens teilweise der gezielten Zerstörung der libyschen Infrastruktur geschuldet, die Möglichkeit eines dauerhaften Bürgerkriegs ist längst nicht ausgeräumt, und wie viele Menschen noch bei der Eroberung der Stadt Sirte, an der die NATO weiterhin mit Bombardierungen beteiligt ist, sterben werden, wird in den nächsten Tagen entschieden. Über die zahlreichen Kriegsflüchtlinge, die im Mittelmeer ertrunken oder bei der Überfahrt verdurstet sind, redet ohnehin niemand mehr, gehen diese doch selbstverständlich auf das Konto einer EU, deren Regierungen zwar Milliarden zur Vorbereitung von Aggressionskriegen aufbieten, die jedoch kaum Millionen für die Versorgung verfolgter und verelendeter Migranten ausgeben wollen. Gewährt eine ihrerseits nicht eben reiche Bevölkerung wie die Syriens jahrelang mehr als einer Million Flüchtlinge aus dem von den USA und ihren Verbündeten angezettelten Irakkrieg Asyl, so provozieren schon einige tausend Boat People, die einen den Interessen westlicher Hegemonialpolitik dienlichen Krieg fliehen, rassistische Ressentiments europäischer Bevölkerungen, die diese Aggression gleichzeitig in großer Zahl unterstützen.

Hätte die NATO die Rebellen nicht aktiv mit militärischen Mitteln und der Übertragung des Eigentums der libyschen Regierung in ihre Hände zum Erfolg geführt, dann wären die Schäden sehr viel geringer gewesen. Dann allerdings hätten sich die EU-Regierungen weiterhin mit einem unbequemen Machthaber in Tripolis herumschlagen müssen, dessen repressive Qualitäten angeblich viel menschenfeindlicher wären als die anderer Despoten, mit denen man sich in Washington, Brüssel und Berlin arrangiert. Keiner der Kriegsbefürworter versucht dies ernsthaft zu vertreten, weil er Gefahr liefe, auf peinliche Weise widerlegt zu werden. Dementsprechend beschränkt sind die intellektuellen Fähigkeiten jener Maulhelden, die meinen, ihr Mütchen an einem bereits gefallenen Politiker kühlen zu müssen. Mit einer Definitionshoheit, die von denjenigen Interessen geleitet wird, denen Libyen bei aller Kooperation ein noch zu unberechenbarer Vertreter der Länder des Südens war, läßt es sich so fröhlich depravieren, daß selbst simple Denkschritte nicht mehr überblickt werden.

Man führt einen imperialistischen Krieg aus opportunistischen Erwägungen und diffamiert all diejenigen, die nicht uneingeschränkt auf der Seite der Aggressoren stehen, nämlicher Aggression. Was in Jugoslawien am Beispiel eines vom Kopf auf die Füße gestellten Appeasment-Vorwurfs getan wurde, wiederholt sich in der antitotalitären Rhetorik, mit der einer dubiosen Rebellenfraktion die Verwaltung des neokolonialistischen Lehens angetragen wird. Einem einst auf den Spuren von Wehrmacht und SS wandelnden Jugoslawienkrieger wie Joseph Fischer ist kein Superlativ zu billig, um die eigenen Großtaten nicht auf dem Rücken seines Nachfolgers zu heiligen. Wer "das größte außenpolitische Debakel seit Gründung der Bundesrepublik" ausgerechnet darin erkennt, nicht an einem imperialistischen Krieg teilgehabt zu haben, der kennt nur das eine Prinzip, daß alle Prinzipien bis zu ihrer immanenten Widerlegung dehnbar sind. So kommentiert er den mandatswidrigen Einsatz westlicher Spezialkommandos am Boden und den Versuch, Muammar al Gaddafi direkt zu bombardieren, im aktuellen Interview mit dem Spiegel: "Die meisten Resolutionen des Sicherheitsrats sind interpretationsfähig." Westerwelle fehlten die "Grundüberzeugungen", der "Realitätsverlust regiert, die Verneinung des doch für sonst alle Offensichtlichen" [2].

Was immer Fischer als so unabdingliche wie unhinterfragbare Letztbegründung dieses Waffengangs im vielsagenden Numinosum elitärer Selbstevidenz beläßt, seine eigene Grundüberzeugung scheint vor allem darin zu bestehen, machtpolitischem Kalkül auch gegen geschriebenes Recht oder menschliche Interessen zum Ziel zu verhelfen. Der Elder statesman der Grünen ist ein prototypischer Vertreter jenes machiavellistischen Konsenses, laut dem Kriege ideologischer, sozialer wie militärischer Art ein normales Regulativ politischer Widerspruchslagen sind. Was der ehemalige Linke Fischer einst als faschistoide Umwertung aller Werte attackiert hätte, vollzieht der Kapitallobbyist Fischer heute im Namen jener Macht, über die nicht zu verfügen die Aggressivität seines Karrierestrebens begründet.

Wenn von Sachzwängen und Opportunitätslogik umstellte Politiker einen der ihren auf dem Altar höherer Werte opfern, dann ist das Massaker an niederen, als unproduktiv, kulturfremd und antagonistisch ausgemachten Feinden nicht fern. Den Widerspruch der Gewalt gewaltsam zu tilgen hat schon immer eine besonders perfide Form moralischer Selbstvergewisserung hervorgebracht. Nicht weit davon entfernt, als Sympathisant Gaddafis in die Jagd auf diesen einbezogen zu werden, muß der aggressive Frontkämpfer gegen das subalterne Element erleben, daß er sich bei der Verortung "spätrömischer Dekadenz" in der Adresse geirrt hat. Unberechenbar sind die Sachwalter einer Staatsräson, die mit dem Ausnahmezustand in der Hinterhand die Ratio des imperialistischen Krieges predigen, weil ihnen die Nöte und Sorgen, die Wünsche und Hoffnungen der Mehrheit ganz normaler Menschen in aller Welt nicht fremder sein könnten.

Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1540957/

[2] http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,druck-782871,00.html

29. August 2011