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KRIEG/1525: Greueltaten der Milizen im Schatten des NATO-Massakers in Libyen (SB)



Der frühere libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi ist gemeinsam mit seinem Sohn Mutassim in der Wüste begraben worden. Seinen zu Lebzeiten geäußerten Wunsch wie auch das Anliegen seines Stammes, ihn in seiner Heimatstadt Sirte zu beerdigen, mit Füßen zu treten, unterstreicht zweierlei: Den neuen Machthabern ist daran gelegen, mit allen Demütigungen Gaddafis selbst über den Tod hinaus ihren Triumph zu überhöhen und jede differenzierte Erinnerung an das für beendet erklärte alte Libyen zu löschen. Zugleich zeugt der Entschluß, ihn an einem geheim gehaltenen Ort zu verscharren, von ihrer Furcht, daß die Menschen eher früher als später aus ihrem substanzlosen Freudentaumel erwachen und erkennen könnten, was ihnen mit dem von den westlichen Mächten aufgezwungenen Regimewechsel angetan wurde.

Am Tag zuvor hatte der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, das Land für befreit erklärt und darüber hinaus zu Toleranz und Respekt sowie zur Einhaltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit aufgerufen. Diese hehren Ziele sprechen der grausamen Tötung Gaddafis Hohn, der angeschossen und blutüberströmt von einer johlenden Menge durch die Straßen gezerrt und dann mit einem Kopfschuß exekutiert wurde. Da die Vorwürfe einer gezielten Tötung nicht verstummten, kündigte Dschalil die seit Tagen geforderte Untersuchung an. Wie er auf einer Pressekonferenz in Bengasi behauptete, hätten alle Libyer darauf gebrannt, Gaddafi wegen seiner Verbrechen vor Gericht zu stellen: "Die Libyer wollten ihn im Gefängnis und gedemütigt sehen." [1]

Daß der maßgeblich von Frankreich und Britannien installierte Übergangsrat für alle Libyer zu sprechen beansprucht, liegt in der zwielichtigen Natur dieses Marionettenregimes. Die vorgehaltene Absicht, Gaddafi den Prozeß zu machen, darf bezweifelt werden. Dabei wären zwangsläufig zahlreiche Fakten zu Tage getreten, die weder der Übergangsrat, noch die westlichen Mächte in aller Öffentlichkeit erörtert sehen möchten. Als Diktatoren diskreditierte und zum Abschuß freigegebene Staatsführer zu erniedrigen, zu quälen und zu töten, ist integraler Bestandteil der Doktrin, man müsse die Welt mit Angriffskriegen um jeden Preis von solchen Despoten befreien. Die Inszenierung von Gerechtigkeit und Demokratie darf jedoch nicht übers Ziel hinausschießen und den Charakter der rachsüchtigen Abrechnung allzu deutlich hervortreten lassen.

Daher rührt das in den westlichen Medien kolportierte "Befremden" angesichts der Zurschaustellung des getöteten Machthabers. Während nach muslimischem Brauch ein Leichnam innerhalb eines Tages beerdigt werden soll, war die halbnackte Leiche Gaddafis mit der Einschußwunde am Kopf tagelang in einer Kühlhalle in Misrata ausgestellt worden. Zuletzt erhielten Schaulustige angesichts des Verwesungsgeruchs einen Mundschutz, während Wachen wegen auslaufender Körperflüssigkeiten den Raum mit Plastikplanen auslegten. Den in langer Schlange anstehenden Menschen auf derart krasse Weise vor Augen zu führen, wer gewonnen und wer verloren hat, schmeckte den Verbündeten nicht. Die Milizen des Übergangsrates zu Freiheitskämpfern hochzustilisieren, hatte enorme Mühe gekostet, die man nicht durch ungezügelte Racheorgien gefährdet sehen will.

Dies gilt um so mehr, als die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Anhaltspunkte für ein Massaker unter 53 Gaddafi-Anhängern in Sirte gefunden hat. Die Leichen lagen auf einem Grundstück nahe einem Hotel, das zum Zeitpunkt des Todes der Männer von Gaddafi-Gegnern kontrolliert worden war. Die Blutspuren, Einschüsse im Grasboden und die Verteilung der Geschoßhülsen deuteten darauf hin, daß die meisten Opfer gemeinsam an dieser Stelle erschossen worden seien, hieß es in dem Bericht. Bei einigen der Toten waren die Arme mit Plastikbändern hinter dem Rücken zusammengebunden. Human Rights Watch forderte den Übergangsrat auf, "eine unverzügliche und transparente Untersuchung der offensichtlichen Massenhinrichtung einzuleiten und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen". [2]

Sollte sich die Massenerschießung eindeutig den Milizen zuschreiben lassen, wäre dies das schwerste Kriegsverbrechen, das diesen in ihrem acht Monate währenden Kampf nachgewiesen werden konnte. Es liegt auf der Hand, daß diese Zählweise nur einige wenige dokumentierte Greueltaten berücksichtigt und mit deren Klassifizierung als Sonderfall des Kriegsverbrechens Gefahr läuft, demgegenüber die Kriegsführung als solche zu legitimieren.

Während das mutmaßliche Massaker der Milizen rege Beachtung in den westlichen Medien findet, verschwindet dahinter der Luftkrieg der NATO fast bis zur Unkenntlichkeit. Der kanadische General Charles Bouchard verteidigte in seinem Hauptquartier in Neapel den Angriff auf einen Konvoi von 175 Fahrzeugen, mit dem Gaddafi aus Sirte flüchtete. "Wir hatten die Befürchtung, dass die Kämpfer aus Sirte sich mit Resten der Kämpfer aus Bani Walid zusammenschließen und dann Zivilisten in einer Stadt als Geiseln nehmen könnten", behauptete Bouchard. "Wir haben daher beschlossen, den Konvoi aufzubrechen und in kontrollierbare Teile aufzuspalten. Wir haben unsere Waffensysteme zweimal auf den Konvoi gerichtet und dieses Ziel erreicht." Auf einigen Fahrzeugen hätten sich Raketen und Maschinengewehre befunden: "In unserer Einschätzung war das eine eindeutige potenzielle Bedrohung der Zivilbevölkerung."

Angesichts der Größe des Konvois kann man sich ausmalen, wie viele Menschen bei diesem Luftangriff getötet wurden, den der befehlshabende General im kalten Jargon hochtechnologischer Vernichtungsgewalt bilanziert. Eingewoben ist wie immer der legalistische Vorwand, man habe akute Gefahr für die Zivilbevölkerung abgewendet. Der Verdacht, es könne sich bei einem gezielten Angriff auf eine Kolonne Flüchtender ebenfalls um ein Kriegsverbrechen handeln, soll gar nicht erst an die Oberfläche öffentlicher Wahrnehmung dringen. Zufrieden zieht Bouchard einen Schlußstrich: Die NATO sieht das Ziel ihres Angriffskriegs in Libyen erreicht, der Nationale Übergangsrat hat die Kontrolle übernommen. "Die Gefahr organisierter Angriffe von Resten des Gaddafi-Regimes ist vorbei", bilanziert der kanadische General, als habe es die verfrühten Siegesmeldungen in Afghanistan und im Irak nie gegeben.

Was den Menschen in den weithin verwüsteten libyschen Städten auf unabsehbare Zeit bevorsteht, mag die Explosion eines Treibstofflagers in Sirte unterstreichen. Dort wurden ersten Berichten zufolge mehr als 100 Menschen getötet, die für dringend benötigten Treibstoff an einem Tank anstanden. Offenbar löste ein Kurzschluß die gewaltige Detonation aus, die das Lager in Flammen aufgehen ließ. Wochenlange Angriffe der Milizen und der NATO auf die Stadt, die durch den Beschuß mit schweren Waffen in großen Teilen zerstört wurde, verschlechterte die Versorgungslage der Bevölkerung dramatisch. [3] Zehntausende flohen aus Sirte, um nicht dem unterschiedslosen Bombardement zum Opfer zu fallen. Wer dennoch in den Trümmern ausgeharrt hat, um wenigstens die verbliebenen Reste seiner Habe zu retten, sieht sich nun mit einem alltäglichen Überlebenskampf um das Notwendigste konfrontiert.

Weit davon entfernt, an die langfristigen sozialen Verheerungen eine Träne zu verschwenden, schwadroniert man westlicherseits vom Anbruch einer neuen Zeit in Freiheit und tatkräftigem Wiederaufbau des Landes. Mustafa Abdul Dschalil und der Übergangsrat sollen's richten, weshalb man keinen Anstoß an seiner Erklärung nimmt, die Scharia werde die Grundlage des künftigen Rechtssystems bilden. Jedes Gesetz, das gegen die strengen islamischen Vorgaben der Scharia verstoße, sei nicht mehr rechtskräftig, erklärte er in einer Rede an die Nation. Was andernorts einen Aufschrei der Entrüstung ausgelöst hätte, wird nonchalant im Gestus längst fälliger Aufklärung zur Kenntnis genommen.

"Libyen will die Scharia - na und?", titelt Niels Kruse als Kommentator des Magazins Stern. [4] "Scharia in Libyen? Bloß keine Panik!", wiegelt Björn Blaschke im ARD-Hörfunkstudio Kairo ab. [5] Beide kommen zu dem durchaus zutreffenden Schluß, daß die Rechtssprechung in nahezu jedem muslimischen Land auf der Scharia fußt, die selbst in einigen westlichen Ländern unter bestimmten Umständen Berücksichtigung finde. Die Scharia sei etwas, das in den verschiedenen Rechtsschulen der islamischen Welt höchst kontrovers diskutiert wird. Da es sich im Grunde um eine Art islamkonforme Anleitung für alle Lebensbereiche handle, werde die im Westen weithin mißverstandene Scharia sehr unterschiedlich ausgelegt. So wohltuend sich der Rat der beiden Journalisten, man möge sich aller vorurteilsbefrachteten Reflexe enthalten, von der ansonsten vorherrschenden Islamfeindlichkeit abhebt, kann man sich doch eines Unbehagens nicht erwehren.

Wie Kruse schreibt, trete eine rabiate Auslegung der Scharia in Diktaturen und Autokratien besonders häufig auf. Dies diene in erster Linie der Herrschaftssicherung, da sich die Machthaber als Hüter des wahren Glaubens gebärdeten und "legitimiert" mit dem Segen Gottes, jede Form von Aufbegehren unterdrückten. Wenn beide Autoren konstatieren, das neue Libyen beginne gerade erst, das künftige Rechtssystem zu diskutieren und herauszubilden, erstaunt die Bereitwilligkeit, mit der man dem Übergangsrat beste Absichten und dem proklamierten neuen Libyen eine demokratische Zukunft ins Stammbuch schreibt. Nicht die Scharia ist das Problem, sondern der von der NATO herbeigebombte und den Milizen überantwortete Regimewechsel, der die von Gaddafi im Zaum gehaltenen Widersprüche einer Stammesgesellschaft aufgebrochen und den vergleichsweise hohen Sozialstandard des Landes pulverisiert hat. Ein blutiger und langanhaltender Machtkampf der verfeindeten Fraktionen dürfte ebensowenig abzuwenden sein wie ein Verfall der Lebensverhältnisse für die Mehrheit der Bevölkerung. Daß auf diesem Nährboden reaktionäre und repressive Strömungen gedeihen, steht außer Frage, zumal sie ein geradezu zwangsläufiges Folgeprodukt des weit größeren Vernichtungspotentials der westlichen Angriffsmächte sind.

Fußnoten:

[1] http://www.focus.de/politik/ausland/konflikte-gaddafi-in-der-wueste-beerdigt_aid_677877.html

[2] http://www.stern.de/politik/libyen-massaker-an-gaddafi-anhaengern-in-sirte-1742517.html

[3] http://www.stern.de/politik/ausland/libyen-dutzende-tote-durch-explosion-in-sirte-1742816.html

[4] http://www.stern.de/politik/ausland/die-aera-nach-gaddafi-libyen-will-die-scharia-na-und-1742581.html

[5] http://www.tagesschau.de/kommentar/scharia104.html

25. Oktober 2011