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KRIEG/1536: Versöhnung im Munde wetzt die NATO das Messer (SB)



Der russischen Führung sollte schmerzlich bewußt sein, wem der weltweite "Antiterrorkrieg" letzten Endes gilt. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten haben sich selbst zu einem permanenten Kriegszug mandatiert, der in der Konsequenz die ultimativen Rivalen Rußland und China spaltet und einen nach dem andern zu erledigen trachtet. Die aktuellen Kämpfe werden um die günstigste Ausgangsposition für die letzte Schlacht geführt, wobei die NATO ihre konfrontative Offensive zwangsläufig mit dem Versuch, dem russischen Bären Zug um Zug Fesseln anzulegen, durchsetzen muß. Wohl wissend, daß ein Schulterschluß Moskaus und Beijings die westlichen Mächte vor unlösbare Probleme stellen würde, sah der Entwurf einer Expertengruppe um die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright für den im vergangenen Jahr auf dem Gipfel in Lissabon beschlossenen neuen strategischen Entwurf der NATO die enge Einbindung Rußlands vor. Was die nordatlantische Allianz anbot, war natürlich keineswegs die von Moskau geforderte Mitgliedschaft. Vielmehr ging es um eine Beschwichtigungspolitik auf Grundlage des beiderseitigen Interesses, den "internationalen Terrorismus" zu bekämpfen, sprich die hegemonialen Bestrebungen befristet zu verschränken, ohne dabei die Einkreisung Rußlands zu bremsen, geschweige denn zurückzufahren.

Zu einer partiellen Kooperation kommt es im Falle des Krieges in Afghanistan, den zu führen die NATO auf Transportwege durch Rußland angewiesen ist. Russische und amerikanischen Spezialeinheiten gehen gemeinsam gegen Drogenhändler vor, Rußland bildet Offiziere der afghanischen Armee aus und könnte Hubschrauber nach Kabul liefern. Während sich aber Moskau im Gegenzug eine stärkere Kooperation bei der Entwicklung eines regionalen Sicherheitssystems für Afghanistan und seine Nachbarn wünscht, geht es der NATO darum, die Russen für verstärkte Handlangerdienste zu erwärmen. Das ist der feine, aber in seiner Konsequenz entscheidende Unterschied zwischen den strategischen Ambitionen der NATO und pro-westlichen Hoffnungen in Teilen der russischen Führung.

War die NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Brachialgewalt quer durch Osteuropa bis an die Tore Rußlands vormarschiert, so geht sie nun daran, notdürftig verschleiert unter der Absichtserklärung auszubauender Kooperation die Schlinge in Feinarbeit zuzuziehen. In der Moskauer Führung reicht die Einschätzung, wie mit diesem Dilemma umzugehen sei, von tiefem Mißtrauen gegenüber jedem engen Kontakt mit dem Intimfeind bis zu einer pro-westlichen Strömung, die ihr Heil an der Seite des größten Räubers sucht und dafür ein gewisses Maß an Subordination für unvermeidlich hält. Da die NATO stets aus einer Position der Stärke handelt, ist der Übergang zwischen real überlegener Waffengewalt und Propaganda so fließend, daß man von seiten Rußlands immer wieder auf den Busch klopft, um die Lage auszuloten und womöglich doch Risse in der näherrückenden Phalanx auszumachen und zu vertiefen. Da jedoch alle konkreten Vorschläge Moskaus, die auf eine Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe und eine Architektur friedlicher Koexistenz hinauslaufen, von der NATO zurückgewiesen werden, mäandert die russische Regierung zwischen Versöhnungsangeboten und martialischen Warnungen.

In diesem Kontext ist die jüngste Offensive Präsident Dmitri Medwedews zu sehen, der in einer Sondererklärung den Ausbau der strategischen Nuklearkräfte ankündigte. Darüber hinaus werde Rußland die ballistischen Raketen mit den neuesten Sprengköpfen ausrüsten, um den US-Raketenschild durchbrechen zu können. Im Westen und im Süden des Landes würden modernste Waffen aufgestellt, die in der Lage seien, den europäischen Raketenschild zu zerstören. Medwedew hat eigenen Angaben zufolge das Verteidigungsministerium beauftragt, unverzüglich einen Raketenfrühwarnradar in der Stadt Kaliningrad in Dienst zu stellen. Beim Aufbau eines Systems der Luft- und Weltraumverteidigung werde vor allem der Schutz der Atomwaffenanlagen verstärkt. Notfalls werde die russische Regierung auf die Abrüstungspolitik verzichten und einen Ausstieg aus den Abrüstungsverträgen in Erwägung ziehen. Medwedew erinnerte daran, daß Rußland aus dem START-Vertrag, der von beiden Seiten als Symbol des Neustarts zwischen beiden Ländern bezeichnet wurde, auch wieder aussteigen könne. [1]

Zwar hatten sich Rußland und die NATO beim Gipfel in Lissabon darauf geeinigt, bei der europäischen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten. Die Verhandlungen gerieten jedoch unvermeidlich in eine Sackgasse, da das westliche Militärbündnis die zentrale russische Forderung ablehnt: Die NATO verweigert eine Garantie, daß der Raketenschirm nicht gegen das russische Atompotential gerichtet ist. Das US-Raketenabwehrsystem richtet sich allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz auf längere Sicht eindeutig gegen Rußland, weshalb der Streit darum zu den brisantesten Fragen in den russisch-amerikanischen Beziehungen gehört.

Die Pläne der US-Regierung, in Tschechien eine Radaranlage und in Polen Abfangraketen aufzubauen, hatten in Moskaus heftige Kritik ausgelöst. Gegenwärtig verfügen die USA über strategische Abfangbasen in Alaska und Kalifornien, während Rußland nur eine Abfangbasis der Raketenabwehr in der Nähe von Moskau besitzt. Nun wollen die USA eine dritte Abfangbasis im eigenen Land aufbauen, was der Schaffung eines weltumspannenden Raketenabwehrsystems gleichkommt, das das Kräfteverhältnis dramatisch verschieben könnte.

Am 17. September 2009 gaben US-Präsident Barack Obama und Verteidigungsminister Robert Gates bekannt, sie hätten die Pläne zum Aufbau des US-Raketenabwehrsystems geändert. Die USA verschoben die Stationierung der bodengestützten Raketenabwehrelemente in Europa auf 2015, wobei die gesamte Infrastruktur in vier Phasen bis 2020 vollständig errichtet werden soll. Bis die ersten Bodenobjekte entstehen, sollen US-Kriegsschiffe mit Abfangraketen die europäische Küste überwachen.

Unter George W. Bush hatten die USA im Juni 2002 den Ausstieg aus dem ABM-Vertrag bekanntgegeben. Wie der damalige US-Präsident behauptete, sei die Einrichtung des Raketenschildes "ein weiterer wichtiger Schritt" zur Vorbeugung der Gefahren des 21. Jahrhunderts, die vor den USA und deren Verbündeten stehen. Dabei zog sich Washington stets auf den fadenscheinigen Vorwand zurück, die europäische Raketenabwehr gelte der Abwehr von möglichen Raketenangriffen seitens der Pariastaaten Nordkorea, Irak, Iran, Syrien und zeitweise auch Libyen. Beim Rußland-NATO-Gipfel im November 2010 schlug Präsident Medwedew vor, das Raketenabwehrsystem unter Beteiligung Rußlands nach Sektoren aufzuteilen. So könnten russische Abfangraketen bei Rostow-am-Don den iranischen Raketenstützpunkt Isfachan im Visier haben, während die moderne Radaranlage bei Armawir in der Region Krasnodar für die Raketen verantwortlich wäre, die einen Schutz vor den iranischen Mittelstreckenraketen bieten. Daß die NATO auf diese Vorschläge zur konkreten Zusammenarbeit nicht eingeht, liegt auf der Hand. Selbst um den Preis, die Propaganda zu perforieren, es gehe ausschließlich um die Abwehr iranischer Raketen, ist das westliche Bündnis nicht bereit, Rußland an entscheidender Stelle einzubeziehen.

Nach einem Treffen mit US-Präsident Barack Obama am 12. November in Honolulu hatte Medwedew mitgeteilt, daß die beiderseitigen Positionen weit auseinander lägen. Seine aktuelle Ankündigung ist eine Konsequenz aus der Blockadehaltung Washingtons, wobei er betonte, daß Rußland den Dialog mit den USA fortsetzen wolle. Man schließe zwar nicht die Tür für weitere Verhandlungen und eine Zusammenarbeit, behalte sich jedoch in jeder Phase des Aufbaus der US-Raketenabwehr angemessene Schritte vor. "Wenn unsere Partner fair und verantwortungsvoll handeln und auf unsere rechtmäßigen Sicherheitsinteressen Rücksicht nehmen, dann werden wir eine Einigung erzielen können - davon bin ich überzeugt", so Medwedew. Andernfalls müßte Russland "nach anderen Antworten suchen".

Der ideologische Konter der NATO ließ nicht lange auf sich warten. So erklärte deren Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zynisch, "solche (wie die von Medwedew angedrohten) Stationierungen wären eine Erinnerung an die Vergangenheit und unvereinbar mit den strategischen Beziehungen, die die NATO und Russland im Geist eines Dialoges aufbauen wollen. Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr würde deutlich zeigen, dass die NATO und Russland Sicherheit gemeinsam und nicht gegeneinander schaffen können." Unterdessen wiederholte die US-Regierung die Propagandaformel, das geplante Raketenabwehrsystem der NATO richte sich nicht gegen Rußland. Außenamtssprecher Mark Toner behauptete gar, die US-Regierung habe sich stets offen und transparent gegenüber Russland verhalten. Die Raketenabwehr sei die Konsequenz aus einer wachsenden iranischen Bedrohung für die amerikanischen Verbündeten. "Wir haben es den russischen Stellen über zahlreiche Kanäle erklärt, dass das Raketenabwehrsystem ... Russlands strategisches Abschreckungspotenzial nicht bedroht und nicht bedrohen kann", so Toner. Rußland habe keinen Grund, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. [2]

Um zu verschleiern, daß die russische Führung allen Grund hat, den westlichen Mächten zu mißtrauen, die Zusammenarbeit im Munde führen, während sie hinterrücks das Messer wetzen, zogen sich die hiesigen Mainstreammedien auf die Pseudoerklärung zurück, Medwedew wolle lediglich durch Säbelrasseln im Wahlkampf Punkte sammeln. Der Kremlchef sei Spitzenkandidat der Regierungspartei Geeintes Rußland bei der Parlamentswahl am 4. Dezember und wolle im kommenden Jahr Ministerpräsident werden. Auch 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges sähen viele Russen noch immer in den USA ihren größten Feind. Dem Kriegsgegner von morgen Paranoia anzudichten, wenn er sich schon heute bedroht fühlt, könnte beinahe den Eindruck erwecken, die NATO wolle das zu Ende bringen, was einst von deutschem Boden ausging.

Fußnoten:

[1] http://de.ria.ru/opinion/20111124/261549090.html

[2] http://www.n-tv.de/politik/Medwedew-droht-mit-Raketen-article4846351.html

24. November 2011