Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1627: Des Siegers Vasall - Völkerrecht zwischen Kosovo und Krim (SB)




Nach dem Eingeständnis des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder, durch die Beteiligung der Bundeswehr am Jugoslawienkrieg das Völkerrecht gebrochen zu haben, werden die Kritiker der per Referendum beschlossenen Loslösung der Krim von der Ukraine und ihres Anschlusses an die Russische Föderation immer wieder mit dem Argument konfrontiert, daß sich aus der Position des Rechtsbrechers schwerlich mit rechtlichen Mitteln argumentieren lasse. Die darauf in winkeladvokatischer Stereotypie erfolgende Entgegnung macht geltend, die beiden Fälle seien nicht miteinander vergleichbar, da die jugoslawische Regierung im Kosovo schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen habe, während die Bevölkerung auf der Krim keiner ernstzunehmenden Bedrohung ausgesetzt sei.

Zweifellos ist der Sache des Friedens, der durch das Gewaltverbot der UN-Charta gesichert werden soll, nicht dadurch gedient, daß ein Rechtsbruch mit dem anderen legitimiert wird. Im Falle der Regierungen, die den Überfall der NATO auf Jugoslawien zu verantworten haben, hält man es mit dem internationalen Recht jedoch seit jeher so, es nach eigenem Gutdünken so willkürlich auszulegen, daß es seinem Anspruch zuwiderlaufenden Zwecken genügt. So wurde während des Jugoslawienkriegs zu Recht die Frage gestellt, wieso die NATO gegen Jugoslawien vorgeht, aber die nicht minder blutige Unterdrückung der Kurden in ihrem Mitgliedstaat Türkei akzeptiert, um nur ein Beispiel für seine selektive Anwendung zu nennen. An dieser hat sich auch dadurch nichts geändert, daß insbesondere Rechtswissenschaftler aus NATO-Staaten behaupten, das Völkerrecht sei den veränderten Bedingungen der globalen Staatenordnung anzupassen und erzeuge in seiner formalrechtlichen Anwendung mehr Schaden als Nutzen.

Da den fünf Ständigen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat bei der Entscheidung über Krieg und Frieden eine Art Monopolstellung zukommt, sind alle anderen Staaten ihnen im Zweifelsfall auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Mit dem Ende der Sowjetunion und der Rückstufung Rußlands auf das strategische Maß einer Regionalmacht wurde insbesondere in den jugoslawischen Sezessionskriegen versucht, die Bedeutung der Vereinten Nationen als überstaatliche Instanz der Friedenssicherung durch die Handlungsgewalt der NATO zu schwächen, um der mit dem Verschwinden des Hauptfeinds überflüssig gewordenen Militärallianz neue, dem demokratischen Imperialismus dienende Legitimation zu verschaffen.

Der im Vergleich zwischen Kosovo 1999 und Krim 2014 in Anspruch genommene formalrechtliche Charakter des Völkerrechts ist insofern unhintergehbar, als er sich strikt auf die Norm des Gewaltverbots und die seine nur im Ernstfall befristete mögliche Einschränkung beruft. So lange souveräne Staaten als Rechtssubjekte der Vereinten Nationen prinzipiellen Schutz vor militärischer Aggression geltend machen können, so lange eröffnet der formale Charakter des internationalen Rechts ihnen auch Handlungsmöglichkeiten, wenn die davon betroffenen Bevölkerungen dem Anspruch der Friedenssicherung entgegengesetzte Maßnahmen erleiden müssen. Dies ist nicht zuletzt einer Inanspruchnahme des Primats der Souveränität geschuldet, die vom zentralen Zweck jedes Staates, die Bevölkerung seines Territoriums dem Zwang zur Verrichtung fremdbestimmter Arbeit zu unterwerfen, nichts wissen will.

Daß dieses Gewaltverhältnis auch nach dem Ende der ideologisch bestimmten Blockkonfrontation und der Durchsetzung kapitalistischer Marktwirtschaft in aller Welt kriegerische Konfrontationen zwischen und in Staaten entfacht, hat die Behauptung des "freien Westens", durch den aggressiven Charakter des sowjetischen Imperialismus zur Aufrüstung gezwungen zu sein, überzeugend widerlegt. Es ist der innere Widerspruch des warenproduzierenden Systems selbst, für seine überbordende Produktivität immer weniger Lohnarbeit zu benötigen und diesen Mangel durch die finanzkapitalistische Bewirtschaftung von Rechts- und Eigentumstiteln aller Art nicht kompensieren zu können, der soziale Konflikte und kriegerische Eskalationen erzeugt.

So steht der vom UN-Sicherheitsrat aufgrund der Besetzung Kuwaits durch irakische Truppen mandatierte Golfkrieg 1991 am Anfang einer langen Kette kriegerischer wie ökonomischer Gewaltanwendung, die insbesondere den geostrategischen Interessen der USA im Nahen und Mittleren Osten diente. Die systematische Zerstörung der zivilen Infrastruktur des Landes, weit über 100.000 Kriegstote in der Zivilbevölkerung und die anschließende Aushungerung des Landes durch das UN-mandatierte Wirtschaftsembargo, das den Tod von mindestens 500.000 Kindern bewirkte und die Entwicklung des Landes um mehrere Generationen zurückwarf, mündeten 2003 in die völkerrechtswidrige, dennoch nachträglich von den Vereinten Nationen durch die Einsetzung des Aggressors als Ordnungmacht de facto legalisierte Eroberung des Landes.

Obwohl damit bewiesen war, daß die formalrechtlich korrekte Anwendung des Völkerrechts ihrem beanspruchten Zweck zuwiderlaufende Ergebnisse zeitigen und damit den Interessen kriegführender Staaten genügen kann, erweiterten die der NATO angehörenden UN-Mitglieder die Schlagkraft des humanitären Interventionismus durch die 2005 von der UN-Generalversammlung als rechtlich nicht verbindliche Deklaration eingeführte Schutzverantwortung. Diese Einschränkung des Verbots, in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten mit militärischen Mitteln einzugreifen, steht nicht anders als das damit relativierte Gewaltverbot der UN-Charta zur Disposition nur derjenigen Staaten und Regierungen, die über das dafür notwendige militärische und politische Handlungsvermögen verfügen. So erweist sich die Praxis, globale Hegemonialkämpfe und ökonomische Zwangslagen absichtsvoll zu ignorieren, um anhand eines vermeintlich partikulären Konflikts einen Rechtsbruch geltend zu machen, auch im aktuellen Fall als strategisches Mittel zum machtpolitischen Zweck.

So oder so des Siegers Vasall, wird das Völkerrecht auf eine Weise geltend gemacht, die die strategische Einzwängung Rußlands durch die Osterweiterung der NATO und die Nachbarschaftspolitik der EU leugnet, um sie durchzusetzen. Zu behaupten, man könne die völkerrechtswidrige Abtrennung des Kosovo von Serbien nicht mit dem bevorstehenden Anschluß der Krim an die Russische Föderation vergleichen, dementiert mithin, daß ein egalitäres Völkerrecht in einer von konträren Interessen und asymmetrischen Machtverhältnissen bestimmten Staatenordnung wenn überhaupt, dann durch den wertfreien Charakter seiner Normen gewährleistet werden kann.

Indem die NATO-Staaten den universalen Anspruch der UN-Charta durch den moralischen Primat, sich in die Angelegenheiten souveräner Staate einmischen zu müssen, wenn deren Regierungen gewaltsam gegen die eigene Bevölkerung vorgehen, zum Instrument ihrer Interessen gemacht haben, maßen sie sich die Definitionshoheit über den "gerechten Krieg" an. Der Verabsolutierung des Rechts geht das Unrecht der kapitalistischen Globalisierung, Millionen Menschen als unproduktive Existenzen auszugrenzen und ihre überflüssig gemachte Arbeitskraft notdürftig zu alimentieren, wenn sie nicht ohnehin Armut und Hunger ausgesetzt werden, zwingend voraus. All das bei der Beurteilung des russischen Vorgehens in der Ukraine nicht zu berücksichtigen, sondern im Brustton unschuldiger Empörung einen Rechtsbruch anzuprangern, legt den gewaltsamen, die materielle wie physische Sicherheit aller Menschen riskierenden Kern rechtsförmiger Interessenpolitik frei.

17. März 2014