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KRIEG/1636: Flucht nach vorne - Poroschenko will Krieg internationalisieren (SB)




Die Reaktion der russischen Regierung auf den ukrainischen Artilleriebeschuß, bei dem ein russischer Bürger starb und vier Personen verwundet wurden, war unmißverständlich. Das russische Außenministerium bezeichnete den Vorfall als Aggression der Ukraine auf das eigene Hoheitsgebiet und warnte die Regierung in Kiew vor "unwiderruflichen" Konsequenzen. Die Brutalität, mit der der ukrainische Präsident Petro Poroschenko gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, spricht dafür, daß es ihm längst nicht mehr nur um die Eroberung der abtrünnigen Gebiete im Osten des Landes geht. Der vom Oligarchen zum Politiker mutierte Präsident tritt angesichts der großen ökonomischen und militärischen Schwierigkeiten, die seine Regierung nur mit äußerer Hilfe bewältigen kann, die Flucht nach vorne an. Er setzt auf eine Internationalisierung des Konflikts auch zum Preis eines Krieges mit der Russischen Föderation in der Hoffnung, dadurch Unterstützung durch die EU und USA in einem Ausmaß zu erhalten, das die eigene Machtstellung aufwertet und stabilisiert.

Poroschenko hat die Aufständischen zu "Terroristen" erklärt und führt einen dementsprechend grausamen Krieg gegen die Bevölkerung, aus der sie hervorgehen. Ergebnisoffene Verhandlungen mit den Rebellen sind, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, nicht vorgesehen. Ohne deren vollständige Kapitulation, sprich die Abgabe ihrer Waffen, sollen keine politischen Gespräche stattfinden. Sein Verteidigungsminister Valeri Geletej hatte zwar noch vor wenigen Tagen den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Rußlands Verhandlungen über einen einvernehmlichen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen in Aussicht gestellt, doch offensichtlich geht man in Kiew nun aufs Ganze. Dafür spricht auch die Erklärung Poroschenkos vor dem Nationalen Sicherheitsrat am Freitag, mit der er den Rebellen Vergeltung androhte. Für jeden gefallenen ukrainischen Soldaten sollten sie mit Dutzenden und Hunderten ihrer Leute bezahlen, so der Präsident, der den Militanten damit die gleiche Vergeltungspraxis androhte, mit der Wehrmacht und SS sowjetische Partisanen bekämpften. Kein Terrorist werde aus der Verantwortung entlassen, sondern bekomme, was er verdiene, kündigte Poroschenko in der Sprache jener Selbstgerechtigkeit an, mit der sich jede noch so blutige Gewalttat rechtfertigen läßt.

Allein bei Luftangriffen am Samstag sollen die ukrainischen Streitkräfte tausend Rebellen getötet haben. Auch wenn dies von den Verteidigern der Städte Donezk und Luhansk bestritten wird, so hat Kiew mit der Aufstufung der angeblichen Antiterroroperation zu einem "Totalangriff" klargestellt, daß sie kein Blutbad scheut. Wer der Behauptung, es gehe um die Einigung des Landes, so entschieden zuwiderhandelt, hat offensichtlich anderes vor. Daß Poroschenko eine Ausweitung des Krieges in Richtung Rußland im Schilde führt, belegt auch seine Aussage, daß die Krim ukrainisch bleiben wird. Da die Regierung in Washington die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte weiterhin finanziell unterstützt und die EU am Samstag offiziell ihre Sanktionsliste um elf Personen aus der Regierung der international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk erweitert hat, weil diese die, wie es offiziell heißt, "territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine bedrohen", verfügt der Präsident der Ukraine über die Rückendeckung, ohne die er Rußland nicht militärisch herausfordern könnte.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Poroschenko letzte Woche in einem Telefonat aufgefordert, "bei seinem legitimen Vorgehen gegen die Separatisten die Verhältnismäßigkeit zu wahren". Auf eine Stellungnahme aus dem Kanzleramt zur jüngsten Eskalation durch die Regierung in Kiew wartet man bisher vergebens. Diese nur unter kosmetischem Vorbehalt - was kann bei der Bombardierung einer Zivilbevölkerung "verhältnismäßig" sein - stehende Unterstützung Poroschenkos belegt, daß die Ukraine auch weiterhin zu einem Frontstaat gegen die Russische Föderation aufgebaut und wirtschaftlich wie administrativ in die Einflußsphäre der EU integriert werden soll. Die dazu erforderliche Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens konnte erst nach dem Sturz der Regierung unter Präsident Viktor Janukowitsch gelingen, und sie zeitigt schon jetzt die zu erwartenden Ergebnisse, die Janukowitsch davon abhielten, einen für sein Land im Endeffekt ungünstigen Vertrag zu unterzeichnen.

So hat EU-Handelskommissar Karel De Gucht am Freitag bei Gesprächen mit dem russischen Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew und dem ukrainischen Außenminister Pawel Klimkin eingestanden, daß die Liberalisierung des Handels im Rahmen des Assoziierungsabkommens die Verhältnisse auf dem ukrainischen Markt auf riskante Weise verändere. Davor hatte die Moskauer Regierung stets gewarnt, allerdings nicht im Sinne eines erpresserischen Ultimatums, wie russophobe Politiker und Journalisten behaupten, sondern aufgrund der rationalen Bewertung ihrer außenwirtschaftlichen Beziehungen. Daß diese immer auch die Interessen nationaler Staats- und Privatunternehmen reflektieren, ist der Standortlogik aller kapitalistischen Staaten geschuldet, wie entsprechende Maßnahmen der EU gegenüber ihren Handelspartnern belegen. Die von De Gucht attestierten wirtschaftlichen Risiken betreffen unter anderem den durch das Abkommen ermöglichten Zustrom dafür nicht vorgesehener zollfreier Waren auf die russischen Märkte. Dies wiederum kann die Wirtschaft der Ukraine belasten, weil Rußland den Handel mit dem Nachbarn zum Schutz der eigenen Märkte vom Freihandels- auf das Meistbegünstigungsprinzip umstellen will.

Diese und andere Nachteile, die der Bevölkerung der Ukraine aus der einseitigen Anbindung ihres Landes an die EU erwachsen, als auch die mit ultimativem Druck von der EU verlangte Freilassung der rechtmäßig zu einer Haftstrafe verurteilten Politikerin Julia Timoschenko hatten dazu geführt, daß sich Janukowitsch schlußendlich weigerte, das seit langem verhandelte Abkommen zu unterzeichnen. Der Vertrag, der die Ukraine zwar den administrativen und wirtschaftlichen Interessen der EU öffnet, ihr allerdings den Zugang zu den Privilegien einer Vollmitgliedschaft vorenthält, sind ein Grund für viele Menschen in der Ostukraine, sich den Folgen des Sturzes Janukowitschs zu widersetzen. Ein weiterer ist die von den neofaschistischen Kräften, die auf dem Euromaidan groß wurden und maßgeblich am Umsturz beteiligt waren, ausgehende Bedrohung aller russischstämmigen wie politisch linksstehenden Menschen. Auch wenn die neofaschistischen Parteien keine großen Erfolge an der Wahlurne hatten, ist die Funktion des Rechten Sektors als militanter Stoßtrupp der Kiewer Regierung nach wie vor für alle Menschen gefährlich, die sich der neuen Herrschaft nicht unterwerfen wollen.

Warnungen deutscher Politikerinnen und Politiker vor den Neofaschisten, die fünf hochrangige Posten in der Regierung des Landes besetzen und vor allem Einfluß auf die staatlichen Gewaltorgane ausüben, wurden hierzulande als übertrieben verharmlost oder gar als böswilliger politischer Angriff verunglimpft. Wie begründet sie waren und sind, beweist nicht zuletzt Poroschenko, wenn er sich der Sprache der Nazis bei der Bekämpfung der ostukrainischen Rebellen bedient. Sein Versuch, den engen Handlungsspielraum seiner vollständig auf die Kreditierung der EU und USA angewiesenen Regierung zu erweitern, indem er den Einsatz in Richtung eines Krieges mit Rußland erhöht, ist zu durchsichtig, um von den Regierungen der NATO-Staaten nicht durchschaut zu werden. Daß diese die brutale Aggression der ukrainischen Streitkräfte gegen die eigene Bevölkerung für legitim erachten, läßt Schlimmstes befürchten.

14. Juli 2014