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KRIEG/1649: Angriff auf die Freiheit ...? (SB)



Die Regel- und Rechtlosigkeit des terroristischen Angriffs ist dem rechtsgestützten Charakter des globalen Verteilungskampfes durchaus adäquat. Der soziale Krieg gegen die Armen und Mittellosen ist in der Permanenz seiner Katastrophen so alltäglich, daß er in seinem systematischen und absichtsvollen Charakter kaum mehr wahrgenommen wird. Demgegenüber erscheint der terroristische Angriff auf die Unversehrtheit des zivilen Lebens in einer westeuropäischen Metropole als willkürlicher Bruch in einem Kontinuum gutversorgter und -geschützter Existenz. Vergessen wird allzuleicht, daß die Zäsur des Notstands, der nun in Frankreich ausgerufen wurde, schon zuvor in einem Ausnahmezustand manifest wurde, der den freiheitlichen Anspruch des Landes, das mit der französischen Revolution die bürgerliche Verfassungsordnung durchsetzte, weitgehend unterlaufen hat. Der anwachsende Widerspruch von sozialem Aufbegehren und staatlicher Repression läßt nicht nur in Frankreich alle konstitutionelle Rhetorik als bloße Wundpflaster erscheinen.

Wenn, wie in Paris geschehen, eine Gruppe bewaffneter Männer in bloßer Mordabsicht loszieht, um Menschen völlig unterschiedslos von ihrem religiösen Bekenntnis, ihrem Alter und Geschlecht oder ihrer gesellschaftlichen Stellung um des Schreckens der monströsen Bluttat willen umzubringen, dann erfüllt die Anomie archaischer Grausamkeit keinen anderen Zweck als eben den, anderen Menschen Schmerz zuzufügen. Dies, wie es die Bundeskanzlerin tut, als "Angriff auf die Freiheit" zu verstehen wirft die Frage auf, welche Freiheit gemeint ist. Sicherlich nicht die Freiheit, seine Arbeitskraft unter dem ökonomischen Zwang, fast jeden Preis akzeptieren zu müssen, zu verkaufen, oder bei ausbleibender Erwerbsarbeit kein Kunde der Arbeitsagentur zu werden und hungrig unter Brücken zu schlafen. Eher schon die Freiheit, als Unternehmer und Investor die Früchte eines Reichtums zu ernten, der von vielen Menschen erarbeitet wurde, die häufig nur auf der Basis knapper Überlebenssicherung an ihm teilhaben können. Sicherlich auch die Freiheit, die Privatisierung eines überschuldeten Staates wie Griechenland auch gegen die Lebensinteressen seiner Bevölkerung auf eine Weise durchzusetzen, als habe das Raubrittertum lediglich seine Form, aber niemals seine Praxis verändert.

Die terroristischen Angriffe von Paris stehen in einer Reihe mit zahllosen grausamen Anschlägen im Nahen und Mittleren Osten, die infolge der dort unter dem Vorzeichen der Durchsetzung von Freiheit und Menschenrechten geführten Kriege so alltäglich sind, daß sie hierzulande kaum eine Kurzmeldung wert sind. Der von einer US-geführten Allianz im Irak erzwungene Regimewechsel in Bagdad hat Tausende von Menschen das Leben gekostet, die allein bei terroristischen Anschlägen starben. Hunderttausende mußten ihr Leben einer Kriegs- und Embargopolitik lassen, die stets mit der Herrschaft von Recht und Gesetz begründet wurde. Libyen, Algerien, Syrien, Palästina - wo man hinschaut, hat der europäische Kolonialismus Schlachtfelder hinterlassen, auf denen die NATO-Staaten bis heute eine rücksichtslose Interessenpolitik betreiben, die die Menschen dort gegen deren europäischen Führungsmächte aufbringt. All dies wurde im Kern seiner Legalität niemals bezweifelt, da durch den Nomos aufgeklärter Verfassungsstaaten begründet.

In Suruc und Ankara wurden innerhalb weniger Monate zwei äußerst blutige Anschläge durch IS-Terroristen begangen, die auf die türkische und kurdische Linke zielten. Weder die weithin belegte Unterstützng des IS durch die AKP-Regierung, die offene Feindseligkeit, mit der der türkische Präsident der säkularen Bevölkerung des Landes gegenübertritt, der von ihm aufgekündigte Friedensprozeß mit der PKK noch die Anhaltspunkte dafür, daß Innenminister Selami Altinok mehrere Hinweise auf den schlimmsten Anschlag in der türkischen Geschichte ignoriert haben soll, veranlaßten die Bundesregierung dazu, Kritik an der Regierung in Ankara zu üben. Ganz im Gegenteil, Erdogan wird, um die europäische Flüchtlingsabwehr in die Türkei vorverlagern zu können, unter anderem dadurch umworben, daß die von ihm massiv verfolgte kurdische und türkische Linke auch in der Bundesrepublik verstärkter Repression ausgesetzt ist. Dabei handelt es sich um Opfer des IS-Terrorismus, wie die Angriffe der vermeintlichen Gotteskrieger auf das kurdische Kobane im Norden Syriens belegen, und Vertreter säkularer Werte, die den angeblichen Idealen der Europäischen Union nicht näherstehen könnten.

Die Ratio eines Imperialismus, der den Nahen und Mittleren Osten dauerhaft auf dem Stand einer Peripherie billiger Arbeitskraft und Ressourcen für die kapitalstarken und hochproduktiven Zentren Westeuropas belassen soll, gebiert Ungeheuer wie den IS und andere terroristische Gruppen. Das entschuldigt deren Taten keineswegs, aber die Frage der Schuld läßt sich auch nicht durch die Irrationalität terroristischer Anomie beantworten. Den eigenen Anteil an der Entstehung grausamer Formen der Gewaltanwendung nicht aus dem Auge zu verlieren, ist die einzige Möglichkeit, die von Angela Merkel beschworenen Werte der Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Freude an der Gemeinschaft zu erhalten. Auch diejenigen nicht auszuschließen, die irgendwo auf der Welt verhungern, verdursten, von ihrem Land vertrieben werden oder anderweitig Opfer meist männlicher Gewalt werden, hieße, das von Merkel im gleichen Atemzug beschworene Credo individueller Selbstverwirklichung im Kapitalismus auf den Prüfstand der allgemeinen Verträglichkeit dieser Verwertungsordnung zu stellen.

Es ist jedoch weder erkennbar, daß die Bedingungen des Welthandels und der internationalen Arbeitsteilung auf sozial gerechtere Füße gestellt werden, noch daß die größten Emittenten klimaschädlicher Gase die schon jetzt massiv zerstörerischen Folgen des Klimawandels so ernst nehmen, daß die erforderlichen Einschnitte in ihre gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse durchgesetzt werden. Statt dessen steht zu befürchten, daß die Anschläge von Paris eine weitere Zuspitzung staatlicher Repression und rassistischen Hasses zeitigen. Von politischer Freiheit zu reden, ohne soziale Gleichheit herzustellen, wird auch in Zukunft Mörderbanden hervorbringen, deren Haß so grenzenlos ist, daß er sich gegen das eigene Leben richtet, um es einem blutigen Fanal zuliebe wegzuwerfen.

14. November 2015


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