Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1653: Von welchem Krieg ist eigentlich die Rede? (SB)



Schon die Frage nach den Fluchtursachen ging ins Leere, und das nicht, weil die Menschen nicht eins und eins zusammenzählen könnten. In Politik und Medien besteht kein Interesse daran, das ganze Ausmaß der Ausplünderung und Verwüstung, das im Globalen Süden nicht zuletzt zugunsten der luxuriösen Ausstattung der Komfortzone europäischer Metropolengesellschaften angerichtet wird, zu thematisieren. Das produzierte nicht nur moralische Verrenkungen, sondern legte einen Handlungsbedarf frei, demgegenüber die Aufnahme einiger Millionen Kriegsflüchtlinge eine Kleinigkeit ist. Die selbstverständliche Inanspruchnahme ressourcenintensiver Produkte von der Tiefkühlkost bis zur Billigkleidung und einer weltumspannenden Mobilität, deren abgasgesättigter Schweif Wetterkatastrophen hinterläßt, bringt einen "imperialen Lebensstil" hervor, der der Sklavenarbeit auf den Soja- und Agrospritplantagen Brasiliens ebenso bedarf wie der Vertreibung indigener Bevölkerungen von ihrem Land, um Urlaubern ein CO2-neutrales Gewissen zu verschaffen.

Wo Verschmutzungsrechte das nichterfolgte Niederbrennen eines Waldes zu einer Ware machen, mit der andernorts angeblich klimaneutrale Asche erzeugt werden kann, kann die Paradoxie eines Wertwachstums, dessen Substanz aus der Anhäufung dadurch verursachten Elends besteht, nicht erstaunen. Am unteren Ende des Produktivitätsgefälles, das die Renditen der Investitionen schon aus der Beschleunigung ihres bloßen Falls heraus in luftige Höhen treibt, herrschen Elend und Zerstörung in einem Ausmaß, das als Produktivfaktor in Wert zu setzen keine Erfindung des neoliberalen Kapitalismus ist. Was ihn allerdings zu neuen Rekorden der Verwertung verbliebener Rohstoffe und Arbeitsmöglichkeiten treibt, ist die finanz-, verkehrs-, rechts- und kommunikationstechnische Allgegenwart eines Weltmarktes, den handels- und ordnungspolitisch in verwertbarer Form zu halten immer auch eine Aufgabe gewaltsamer Interessendurchsetzung ist.

Je steiler der Hang, der den Frieden der Paläste vor dem Krieg der Hütten schützt, desto flacher fällt die Analyse dieses Gewaltverhältnisses aus. Analog zu der mit zynischen Begründungen erfolgenden Abwehr aus Not und Gewalt entstandener Wanderungsbewegungen geht im Chor gerechter Empörung, nun endlich befinde sich Europa im Krieg, die lange Vorgeschichte der terroristischen Bedrohung unter. Im Globalen Süden hat das Morden seit dem erklärten Ende des Kolonialismus nicht aufgehört, die Beteiligung Europas inklusive, gerne auch unter anderen Begrifflichkeiten. Nach den Stellvertreterkriegen der Blockkonfrontation und dem millionenfachen Sterben in Vietnam begann eine Ära ordnungspolitischer Feldzüge, deren imperialistische Stoßrichtung wahlweise als humanitäre Friedenserzwingung, die Übernahme von Schutzverantwortung, als Krieg gegen den Terrorismus oder militärische Abrüstungsmaßnahme ausgewiesen wurde, wenn man sich derartige legitimatorische Winkelzüge nicht ohnehin ersparte.

Schon der Iran-Irakkrieg in den 1980er Jahren wies deutliche Spuren eines von dritter Seite her geschürten Konfliktes auf, in dem zwei Mittelmächte zur Ader gelassen wurden, was dem lachenden Dritten Hegemonialansprüche ersparte, die Kolonialsubjekten noch niemals zustanden. 1991 wurde der Irak mit UN-Mandat erklärtermaßen in die Steinzeit zurückgebombt, um in einem 13 Jahre währenden Hungerembargo für die finale Eroberung 2003 ausgezehrt zu werden. Die weitgehend säkularisierte Gesellschaft dieses industriell entwickelten Landes zerfiel in eine Ruinenlandschaft, in der ethnisch-konfessionelle Folgekriege von einer Brutalität tobten, die es den Eroberern schließlich leichtmachte, sich mit dem erreichten Stand an sozialer Zerstörung zufriedenzugeben und abzuziehen. Die beabsichtigte Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens war in einer Weise erfolgt, an der ein Nero seine Freude gehabt hätte. In den Folterkellern wurden die Lautstärkeregler zu ohrenbetäubendem Crescendo aufgedreht, während Bagdad brannte und Soldaten lustige Menschenpyramiden bauten.

Das Torpedieren der arabischen Aufstandsbewegung durch die kriegerische Intervention in einem Libyen, das zuvor ein guter Partner bei der EU-europäischen Flüchtlingsabwehr war und das bis heute in Trümmern liegt, durch die Instrumentalisierung der syrischen Demokratiebewegung für den Regime Change in Damaskus, die Aufrüstung der saudischen Aufstandsbekämpfung mit deutschen Waffen und die Anerkennung des ägyptischen Militärregimes als zweckdienlicher Partner sind weitere Facetten eines Schreckenszenarios, das ganze Generationen traumatisierter Kinder einem Dasein in absehbarer Armut überläßt. Die ihnen bereitete Hölle sichtbar zu machen bedarf keines modernen Dante, weil die zu schmerzerfüllten Grotesken menschlicher Physis erstarrten Babies, deren Mütter im irakischen Fallujah Uranmunition und weißem Phosphor ausgesetzt waren, jede vorstellbare Höllenphantasie übertrifft. Die ehemalige US-Außenministerin Condoleezza Rice wußte schon, warum sie die flächendeckende Bombardierung des Libanon durch die israelische Luftwaffe 2006 als "Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens" bezeichnete - nur noch mit derartigen Metaphern aus dem emotional positiv besetzten Bereich menschlicher Reproduktion lassen sich die Schmerzen der Opfer frei nach der Logik "kreativer Zerstörung" in neue Lebenschancen ummünzen.

Daß aus diesem Schoß - um im Bilde zu bleiben - eine Islamisierung des Terrorismus kroch, hat mit der Religion im eigentlichen Sinne so viel und so wenig zu tun, wie es bei entsprechend desaströsen Umständen in den beiden anderen monotheistischen Glaubenssystemen der Fall gewesen wäre. Der Versuch des IS, sich als Staat zu konstituieren, verliefe nicht so erfolgreich, wenn die an ihn ergangene Kriegserklärung Frankreichs nach den Anschlägen vom 11. November in Paris ihm nicht willkommene Nahrung gäbe. Dabei war der von Präsident Hollande ausgerufene Kriegsfall de facto längst im Gange, bombardierte die französische Luftwaffe doch schon seit September 2014 Stellungen des Islamischen Staates (IS) im Irak und weitete die Angriffe im September 2015 auf Syrien aus. Obwohl es auch bei diesen Angriffen zu zivilen Opfern kam und der Märtyrermythos, der dem IS Rekruten zutreibt, neue Nahrung erhielt, handelte es sich in der Lesart der französischen Regierung sinngemäß um eine polizeiliche Maßnahme.

Doch wessen Ordnung wird eigentlich wo hergestellt? Was erreichen die führenden NATO-Staaten damit, daß sie in der Region zwischen Afghanistan und Marokko jahrzehntelang währende Kriege führen, anderes als eine stetige Verschlimmerung der Lage? Was haben sie von den Menschen zu erwarten, denen in der militärischen Phase des weltweit geführten sozialen Krieges jegliches Lebensrecht abgesprochen wird, wenn sie sich zufällig in der Nähe einer per Drohne zugestellten Exekution aufhalten?

So wenig Fluchtursachen auf ernstzunehmende Weise in Rechnung eigener Interessenpolitik gestellt werden, so wenig wird angesichts der Opfer von Brüssel darüber nachgedacht, wie es sein kann, daß die lebensvernichtende Gewalt militärischer Mittel im beanspruchten Sinne demokratischer Rechtsstaatlichkeit wie schon zur Zeit des europäischen Kolonialismus nur eine Richtung kennt. Das hat wenig mit dem IS zu tun, über dessen Barbarei es keine zwei Meinungen gibt, aber viel mit einer Staatsräson, die sich eine exekutive Ermächtigung anmaßt, in der Ankläger, Richter und Henker zu einer Instanz ausführender Gewalt verschmelzen und die Aufhebung jeglicher Gewaltenteilung im erklärten Ausnahmezustand auch noch die legalistischen Weihen parlamentarischer Absegnung erhält.

Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar 2015 wurde die Einheit der Nation auf eine Weise beschworen, die für Bürgerinnen und Bürger Frankreichs, die sich dadurch nicht vertreten fühlten, strafrechtliche Folgen haben konnte. Nach den Anschlägen von Paris wurde dann zu Notstandsmaßnahmen gegriffen, deren gesetzliche Grundlagen im Kolonialkrieg gegen die Unabhängigkeit Algeriens wurzeln. Die weitreichenden Vollmachten der Sicherheitsbehörden, Menschen ohne richterliche Genehmigung zu verhaften, tagelang ohne anwaltlichen Schutz zu vernehmen oder Hausarrest über sie zu verhängen, richteten sich meist gegen die muslimische Bevölkerung Frankreichs, wurden aber auch, wie beim Klimagipfel in Paris, für Versammlungsverbote genutzt, die sozialökologische Gruppen betrafen. Etwa zwei Dutzend Terrorismus-Verfahren wurden als Ergebnis von 3400 Hausdurchsuchungen eingeleitet, davon hatte das Gros die sogenannte Verherrlichung des Terrorismus, also Gesinnungsdelikte, zum Gegenstand.

Wenn nun auch in Kommentaren deutscher Tageszeitungen der Kriegszustand erklärt und im Rundfunk über vermeintliche Sicherheitslücken debattiert wird, als könne totale Sicherheit etwas anderes als die Aufhebung aller Freiheit bedeuten, dann hat das mit den 31 Todesopfern und 270 Verletzten von Brüssel nur bedingt zu tun. Man kann davon ausgehen, daß die meisten dieser Menschen ihren ganz normalen Alltagsgeschäften nachgingen und nicht darüber nachdachten, daß ihr Lebensstil zum Ziel eines Angriffs in einem Krieg werden sollte, den sie für die Freiheit, im Supermarkt zwischen tausend verschiedenen Produkten auswählen oder einen spritschluckenden SUV fahren zu können, vielleicht gar nicht hätten führen wollen. Was immer der in Medien und Politik geführte Diskurs aus diesem, früheren und künftigen Terroranschlägen macht, ist darin, daß er ganz anderen Zwecken und Zielen als denen der Betroffenen dient, den Motiven der Terroristen, ihnen völlig fremde Menschen zu ermorden, vielleicht ähnlicher, als der Gegensatz zwischen religiös aufgeladener IS-Barbarei und dem zivilisierten Imperialismus EU-europäischer Genese glauben macht.

23. März 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang