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KRIEG/1664: Deutsche Kriege, deutsche Richter - Kein Massaker in Kundus? (SB)



Als am 17. September bei einem mehrstündigen US-Luftangriff auf eine Position der syrischen Regierungstruppen nahe der Stadt Deir ez-Zor fast 200 Soldaten getötet oder verwundet wurden, sprach das Pentagon von einem Versehen. Obgleich alle Zeichen darauf hindeuteten, daß es sich dabei um eine vorsätzliche Sabotage des Waffenstillstands gehandelt hatte, rief die fragwürdige Version, man habe bei dem Angriff irrtümlich auf falsche Daten zurückgegriffen, keinen nennenswerten Widerspruch seitens der deutschen Leitmedien auf den Plan, von Einwänden der Bundesregierung ganz zu schweigen.

Nur zwei Tage später wurden bei einem Angriff auf einen Hilfskonvoi nahe der syrischen Stadt Aleppo mehr als 20 Zivilisten getötet. Obgleich Rußland ausgeschlossen hatte, daß das syrische oder russische Militär in den Vorfall verwickelt war und die umstrittene Frage der Urheberschaft nun von einem Untersuchungsausschuß geklärt werden soll, sprachen Vertreter der Berliner Regierungskoalition unmittelbar nach dem Vorfall von einem Kriegsverbrechen, verübt durch die syrischen Streitkräfte und gedeckt durch die Führung in Moskau.

Wird da mit zweierlei Maß gemessen? Wohl kaum, legt doch ein und dieselbe Deutungsmacht Kriegsereignisse ganz im Sinne ihrer Interessenlage aus. Das gilt auch für den verheerendsten Angriff in der Verantwortung deutscher Soldaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das Massaker von Kundus. Dort bombardierten am 4. September 2009 kurz vor 2 Uhr morgens zwei Kampfjets der NATO die beiden entführten Tanklaster. Dabei wurden laut Bundesverteidigungsministerium 91, nach Angaben des Rechtsanwalts Karim Popal 137 Zivilisten getötet. Die Bundesregierung hatte zunächst geleugnet, daß es zivile Opfer gab, später mußte jedoch der zuständige Verteidigungsminister Franz-Josef Jung zurücktreten. Schließlich wurden 91 Opfer anerkannt, denen man jeweils pauschal 5000 US-Dollar zukommen ließ, ohne damit ein Schuldeingeständnis zu verbinden.

Popal vertritt zwei Hinterbliebene aus Afghanistan, die von der Bundesrepublik Deutschland Schadensersatz für ihre bei dem Luftangriff ums Leben gekommenen Angehörigen verlangen. Ein Vater, dessen zwei Kinder bei der Bombardierung getötet wurden, sowie eine Mutter von sechs Kindern, die ihren Mann und Ernährer der Familie verlor, klagen auf Entschädigungszahlungen in Höhe von 40.000 Euro beziehungsweise 50.000 Euro. Der Bremer Anwalt spricht von einem Verstoß gegen das Völkerrecht und wirft dem damaligen Kommandeur für Kundus, Georg Klein, eine grob fahrlässige Amtspflichtverletzung vor. Er habe trotz der Zweifel auf seiten der US-Jetpiloten die Bombardierung der Laster und der Menschenmenge veranlaßt. Videoaufnahmen eines Aufklärungsflugzeugs belegten, daß überwiegend Zivilisten an den feststeckenden Tanklastern versucht hatten, Benzin zu zapfen.

Klein hatte mit dem von ihm befohlenen Bombenangriff ein Zeichen gesetzt, daß die Bundeswehr ihrer Verantwortung im Norden des besetzten Afghanistan uneingeschränkt nachkomme. Dort sicherten deutsche Truppen die kriegswichtige Nachschublinie, ohne die eine Blockade der Konvois in Pakistan die westlichen Okkupationsstreitkräfte binnen kurzer Zeit lahmgelegt hätte. Indem der deutsche Offizier den Luftschlag ohne Vorwarnung und mit geballter Vernichtungskraft anordnete, drohte er all jenen, die es wagen sollten, den Nachschub auf der Nordroute zu gefährden. Mithin war der Tod von weit über hundert Zivilisten aus Perspektive westlicher Kriegsführung am Hindukusch ein strategischer Durchbruch.

Daß deutsche Gerichte den Versuch, Bundeswehr und Bundesregierung für dieses Massaker wie überhaupt für ihre Kriegsführung juristisch in die Pflicht zu nehmen, abschlägig behandeln würden, stand zu befürchten. Das Landgericht Bonn (11. Dezember 2013 - 1 O 460/11) wies die Klage ab, worauf das Oberlandesgericht Köln (30. April 2015 - 7 U 4/14) die Revision ablehnte. Nun hat auch der Bundesgerichtshof (Az.: III ZR 140/15) die Forderung nach einer Entschädigung mittels einer haarsträubenden Ausflucht - pardon, grundsätzlichen juristischen Erwägung - zurückgewiesen. Wie der Vorsitzende Richter Ulrich Hermann in seiner Begründung ausführte, sei das deutsche Amtshaftungsrecht nicht auf Auslandseinsätze der Bundeswehr anwendbar: "Das Handeln eines Beamten kann nicht mit dem eines Soldaten in einer Gefechtssituation gleichgesetzt werden." [1]

Warum das? Den Betroffenen stehe kein unmittelbarer völkerrechtlicher Anspruch zu, da Schadensersatzansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen grundsätzlich nur dem Heimatstaat zustehen, der seinen Staatsangehörigen diplomatischen Schutz gewährt. Allerdings scheitert nach Ansicht der Richter auch ein Anspruch aus nationalem Recht. Der im Grundgesetz formulierte amtshaftungsrechtliche Anspruch sei auf militärische Handlungen der Bundeswehr im Rahmen von Auslandseinsätzen nicht anwendbar. Der historische Gesetzgeber habe seinerzeit weder die Aufstellung deutscher Streitkräfte noch deren Beteiligung an Kampfhandlungen im Ausland im Blick gehabt. Auch in der Folgezeit sei keine gesetzgeberische Entscheidung dahingehend erfolgt, den Anwendungsbereich der Amtshaftung auf militärische Kampfeinsätze im Ausland auszudehnen, heißt es in der Begründung.

Wer angesichts dieser bundesrichterlichen Winkelzüge noch nicht das Handtuch geworfen hat, wird immerhin mit der Pointe belohnt. Es sei nicht Aufgabe der Gerichte, einen Schadenersatzanspruch für solche Fälle zu entwickeln, urteilte der BGH. Dies könne nur der Gesetzgeber tun, zumal ein solcher Anspruch eine "weltweit einmalige Situation" darstellen würde und eine nicht eingrenzbare Haftung für Völkerrechtsverstöße von Bündnispartnern nach sich ziehen könnte, so Herrmann. Daher bleibe der Bundesgerichtshof bei seiner Rechtsprechung: "Solche Ansprüche sind im Verhältnis der Staaten untereinander abzuwickeln." [2]

Daß der BGH kein Faß aufmachen will, indem er eine Haftung für Völkerrechtsverstöße nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der Bündnispartner zuläßt, heißt keineswegs, daß er einen solchen Verstoß im vorliegenden Fall erkennen könnte. "Die getroffene militärische Entscheidung war völkerrechtlich zulässig", befand der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung. Wie Karim Popal hingegen erklärte, sei der BGH aus seiner Sicht gar nicht zuständig, über die Anwendbarkeit des Amtshaftungsrechts zu entscheiden. Der Anwalt kündigte daher eine Verfassungsbeschwerde an. Im Zweifel will er bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gehen. Dort liegt bereits eine Beschwerde gegen die Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungen gegen Klein vor, der längst den Rang eines Brigadegenerals bekleidet.

Daß die Richter dem damaligen Oberst Klein keine Pflichtverletzung vorwerfen wollten, bezeichnete Popal erfrischend unjuristisch als "völlig daneben". Die Hinterbliebenen seien sich sicher, "dass mittlerweile dieses Verhalten der Bundesrepublik Deutschland, sich nicht für die Toten zu entschuldigen und auch keinen Schadenersatz zu leisten, in Afghanistan den Hass auf Deutsche fördert", so Popal.

Beifall findet die Entscheidung des BGH bei der FAZ, die ihrerseits bekräftigt, daß der Angriff von Kundus "kein Kriegsverbrechen, keine Verletzung des Völkerrechts" gewesen sei. Eine Pflicht zur Entschädigung der Opfer sei "mit Recht verneint" worden. Zum einen sei die Amtshaftung ersichtlich nicht für den Krieg geschaffen worden, zum anderen hätte Deutschland mit einer solchen Entschädigungsregel weltweit einzigartig dagestanden. Daß die Bundesrepublik als Exportweltmeister, Führungsmacht Europas und künftig auch nachwachsender Juniorleitwolf auf den Kriegsschauplätzen von Afrika bis Zentralasien gern einzigartig dastehen möchte, hat eben seinen Preis: Wenn es um die Entschädigung von Kriegsopfern oder gar mutmaßliche Kriegsverbrechen der Bundeswehr geht, fürchtet man das Alleinstellungsmerkmal plötzlich wie der Teufel das Weihwasser.


Fußnoten:

[1] http://www.heise.de/tp/news/Verfahren-wegen-Bombenangriff-in-Kundus-2009-soll-weitergehen-3342708.html

[2] http://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bgh-iiizr14015-kundus-opfer-hinterbliebene-schadensersatz-amtshaftungsrecht/

7. Oktober 2016


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