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KRIEG/1692: Kabul - Wünschelrutenlaufen ... (SB)



In Afghanistan herrscht Krieg, und Abschiebungen in dieses Land sind nicht zu rechtfertigen. Das ist auch der Bundesregierung bekannt, die wider besseren Wissens absurdeste Lügen auftischt, um ihre Abschiebepraxis zu rechtfertigen und die Bevölkerung für dumm zu verkaufen. Obgleich UN-Organisationen, NGOs, Kirchen und selbst die Regierungen mehrerer Bundesländer zahllose Belege für die verheerende Sicherheitslage in Afghanistan vorgelegt haben, die jede Rückführung verbieten sollten, sind Christdemokraten, Sozialdemokraten und Teile der Grünen nicht bereit, ihren Krieg gegen Flüchtlinge zu beenden. Deutschland ist führend in der vorgelagerten Flüchtlingsabwehr, in deren Rahmen die Regierungen anderer Länder gekauft oder erpreßt werden, die Flucht nach Europa zu verhindern und aus Deutschland abgeschobene Flüchtlinge aufzunehmen.

Auf Grundlage einer im Oktober 2016 geschlossenen Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und Afghanistan wurde am 14. Dezember 2016 eine erste Sammelabschiebung durchgeführt, der bislang sieben weitere folgten. Insgesamt 155 abgelehnte Asylbewerber wurden unter einem immensen Kostenaufwand mit Direktflügen zwangsweise nach Kabul gebracht. Offensichtlich geht es der Bundesregierung und der kollaborierenden Parteipolitik darum, ein Klima akuter Bedrohung und Einschüchterung von Flüchtlingen weit über den Kreis der aktuell Betroffenen hinaus zu schaffen wie auch die Akzeptanz solcher repressiven Maßnahmen voranzutreiben.

Dabei spitzt sich die Lage in Afghanistan von Woche zu Woche zu. Soeben wurden nach Angaben des afghanischen Innenministeriums durch einen Anschlag in der Nähe eines Kulturzentrums in Kabul mindestens 42 Menschen getötet und 84 weitere verletzt. Demnach sprengte sich im größten Schiitenviertel Dascht-e Bartschi zuerst ein Selbstmordattentäter in dem Gebäude in die Luft. Als Menschen zur Hilfe eilten, explodierten vor dem Kulturhaus zwei weitere Sprengsätze. Die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) hat sich zu dem Anschlag bekannt. In derselben Gegend hatte der IS zuletzt im Oktober einen Selbstmordanschlag in einer schiitischen Moschee verübt, bei dem 71 Menschen während des Freitagsgebets starben. Seitdem hat der IS aber auch in anderen Stadtteilen Anschläge verübt und etwa einen Fernsehsender und ein Geheimdienstbüro angegriffen. [1]

Im Jahr 2017 begingen IS und Taliban mehr als 20 schwere Anschläge in Kabul, bei denen Hunderte Menschen getötet oder verletzt wurden. Die Hauptstadt gilt inzwischen als einer der gefährlichsten Orte für Zivilisten im Land. Bei dem schwersten Anschlag vor der deutschen Botschaft im Mai sollen etwa 150 Menschen getötet worden sein. Im Oktober waren bei Anschlägen auf eine schiitische Moschee in Kabul, eine Moschee in der Provinz Ghor und eine Militärakademie innerhalb von 24 Stunden mindestens 94 Menschen getötet worden. [2]

Laut Amnesty International zeigt der jüngste Anschlag einmal mehr, daß die afghanische Hauptstadt nicht sicher ist. "Die europäischen Regierungen, die auf dieser gefährlichen Fiktion beharren, indem sie Afghanen abschieben, setzen deren Leben aufs Spiel", so der Südasien-Direktor von Amnesty, Biraj Patnaik. In Berlin erklärte Bundesaußenminister Gabriel scheinheilig, der Anschlag in Kabul habe sich "gegen Bildung, gegen freie Medien und gegen jeden Menschen, der eigenständig denkt und entscheidet", gerichtet. Die Täter wollten Zwietracht säen. "Diese böse Saat darf nicht aufgehen", mahnte Gabriel. Die deutsche Abschiebepraxis und deren Saat erwähnte er nicht.

Im Deutschlandfunk wirft Jürgen Webermann, ARD-Korrespondent in Neu Delhi, der Bundesregierung vor, sie sei sich im Falle Afghanistans nicht zu schade, die dümmstmöglichen Vergleiche heranzuziehen. So habe ein Vertreter des Bundesinnenministeriums kürzlich auf einer Fachkonferenz das Risiko, im afghanischen Krieg getötet zu werden, als ungefähr so hoch eingeschätzt, wie an multiresistenten Erregern zu sterben. Das Schlimme an solchen perfiden Vergleichen sei, daß sie bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden fielen. Selbst Politiker der Grünen hätten in der Debatte über afghanische Flüchtlinge mit Halbwahrheiten nur so um sich geworfen. [3]

Erinnern wir uns: Im Januar hatte der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, die Abschiebungen nach Afghanistan als eine "gute Nachricht" begrüßt. Die Sicherheitslage kommentierte er mit einem Verweis auf die USA, die auch nicht sicherer seien: "Dort sterben nicht weniger Menschen durch Waffengewalt." In einer gemeinsamen Erklärung verständigten sich die Grünen aus zehn Landesregierungen, Abschiebungen nach Afghanistan nicht zu blockieren, sondern mitzutragen. "Wo die freiwillige Ausreise scheitert, müssen jedoch auch zwangsweise Rückführungen per Abschiebung erfolgen." Gleichzeitig wolle man sich dafür einsetzen, "dass vorrangig Straftäter und Gefährder abgeschoben werden". Zudem forderten sie das Bundesinnenministerium auf, "die unwürdige öffentliche Darstellung von 'Sammelabschiebungen'" zu unterlassen, weil dadurch "der falsche Eindruck von undifferenzierten Massenabschiebungen erweckt werden" könne. [4]

Wie Webermann fortfährt, biete Kabul von Jahr zu Jahr ein grimmigeres Bild, die Innenstadt bestehe fast nur noch aus Sprengschutzmauern. Außerhalb Kabuls sei entweder Kampfzone oder es herrsche Anarchie. Die Zahl der Toten lasse sich nicht seriös ermitteln. Es seien Angriffe auf Polizeiposten, Provinzhauptstädte, Dörfer, religiöse Feiern, Kasernen, Ministerien; aber auch Angriffe der afghanischen und der amerikanischen Luftwaffe, sogar die größte nichtnukleare Bombe der Welt kam im Frühjahr in Ostafghanistan zum Einsatz. Bis heute sei nicht geklärt, wie viele Menschen sie vernichtet hat. Doch die Bundesregierung rede weiter von sicheren Gebieten und folge damit einer langen Tradition, die Bürgerinnen und Bürger gezielt zu täuschen. Abschiebungen nach Afghanistan, also in den Krieg, seien nicht zu rechtfertigen. Leider sei die deutsche Politik zu diesem Eingeständnis offenbar nicht bereit: "Wir werden uns auf weitere perfide deutsche Halbwahrheiten über Afghanistan einstellen müssen - allen Kämpfen, toten Zivilisten und Anschlägen zum Trotz."

Das Auswärtige Amt weiß natürlich Bescheid, hat es doch seine Reisewarnungen für Afghanistan bereits seit dem 22. Mai verschärft. Bombenanschläge, bewaffnete Überfälle und Entführungen gehören seit Jahren in allen Teilen von Afghanistan zum Angriffsspektrum der regierungsfeindlichen Kräfte, heißt es darin. Sie richten sich auch gegen die Verbündeten der afghanischen Regierung, darunter Deutschland, und deren Staatsangehörige. Vor Reisen nach Afghanistan wird gewarnt. Wer dennoch reist, muß sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte einschließlich Entführungen bewußt sein. Für zwingend notwendige Reisen nach Afghanistan gilt: Der Aufenthalt in weiten Teilen des Landes bleibt gefährlich. Jeder längerfristige Aufenthalt ist mit zusätzlichen Risiken behaftet. [5]

Diese dringende Reisewarnung für Bundesbürger scheint nach Auffassung der Bundesregierung die Zwangsreisen nach Kabul für abgelehnte Asylbewerber nicht zu betreffen - was scheren uns ein paar tote, verletzte oder traumatisierte Afghanen mehr. Ende Oktober warnte das Bundesverkehrsministerium davor, wegen drohender Raketenangriffe den Flughafen Kabul anzufliegen. Es werde geraten, das Land nur in großer Höhe zu überfliegen. Das Bundesinnenministerium hielt Abschiebungen dennoch für möglich und vertretbar. Es verwies auf einen Bericht des Auswärtigen Amtes zur Sicherheitslage in Afghanistan von Ende Juli 2017. Danach sei es "unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls verantwortbar und geboten", Rückführungen durchzuführen. [6] In diesem Lagebericht stand übrigens auch zu lesen, daß die deutsche Botschaft in Kabul bis auf weiteres geschlossen bleibe. Alle entsandten Mitarbeiter der Botschaft seien nach Deutschland zurückbeordert worden, der Botschafter und ein paar Sicherheitsleute in der US-Botschaft untergeschlüpft. Abschiebungen könnten also auch nicht durch Botschaftspersonal auf dem Kabuler Flughafen abgewickelt werden.

Am 6. Dezember, dem Tag der bislang letzten Abschiebung nach Kabul, verteidigte Bundesinnenminister Thomas de Maizière die Praxis der harten Hand: "Gefährder, Straftäter und hartnäckige Mitwirkungsverweigerer" könnten auch nach Afghanistan abgeschoben werden. Es bleibe damit bei der Linie, die er mit Außenminister Sigmar Gabriel besprochen habe. "Das ist auch richtig so, und wir werden diese Linie fortsetzen." [7] Ganz abgesehen davon, daß grundsätzlich niemand in das Kriegsgebiet abgeschoben werden sollte, erweist sich selbst die Behauptung, es werde nur die genannte Personengruppe rückgeführt, offenbar als glatte Lüge. Schon nach der ersten Abschiebung kam eine Recherche von ProAsyl im Januar zu dem Schluß, daß es sich nur bei einem Bruchteil der Betroffenen tatsächlich um verurteilte Straftäter handelte. Von einer besonderen Einzelfallprüfung könne jedenfalls keine Rede sein. Vielmehr sei die Mehrzahl der Abgeschobenen seit mehreren Jahren in Deutschland und auf dem Weg in eine Berufsausbildung oder in Arbeit gewesen und habe Familie gehabt.

Daß sich seither nichts wesentliches an dieser Praxis geändert hat, legt eine Stellungnahme des Bayerischen Flüchtlingsrat zur jüngsten Abschiebung Anfang Dezember nahe. Demnach wird vor allem in diesem Bundesland die angebliche Verweigerung einer "Mitarbeit an der Identitätsfeststellung" sehr weit ausgelegt. Unter den neun betroffenen Afghanen aus Bayern habe es sich nur bei zweien um Straftäter gehandelt, wobei einer von ihnen mit einem falschen Paß eingereist war. Den übrigen wurde offenbar lediglich vorgeworfen, nicht ausreichend bei ihrer Identitätsfeststellung mitgewirkt zu haben. In zweien dieser Fälle reichten die Vorwürfe nicht einmal aus, um die Männer in Abschiebegewahrsam zu nehmen. Einer der beiden hätte laut seinem Anwalt das afghanische Ausweisdokument früher vorlegen können. Als sich der Betroffene bei der Ausländerbehörde meldete, wurde er sofort festgenommen. Ein anderer Afghane sollte den Angaben zufolge sogar aus der Ausbildung heraus abgeschoben werden. Unter den Hunderten Menschen, die auf dem Frankfurter Flughafen dagegen demonstrierten, befand sich auch ein junger Mann aus Kabul, der gerade Widerspruch gegen die Ablehnung seines Asylantrags eingelegt hat. Er lebt seit zwei Jahren in Frankfurt und hat nun Angst, selbst abgeschoben zu werden. Seines Erachtens werden die Abschiebeflüge als "Instrument genutzt, um Panik zu schüren". So sieht es auch der Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrates: Die Furcht gehe so weit, daß sogar Menschen untertauchten, die gar nicht von Abschiebung bedroht seien. Wie üblich wollten weder das Bundesinnenministerium noch die Bundespolizei bestätigen, daß es überhaupt eine Abschiebung gegeben hat. [8]


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/newsticker/news1/article171955930/Anschlaege-Mehr-als-40-Tote-bei-IS-Selbstmordattentat-in-Kabul.html

[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/afghanistan-is-reklamiert-anschlag-in-kabul-fuer-sich-1.3806971

[3] http://www.deutschlandfunk.de/abschiebungen-nach-afghanistan-rechtfertigung-durch.720.de.html?dr

[4] https://www.wsws.org/de/articles/2017/01/23/grue-j23.html

[5] https://www.frsh.de/artikel/updated-abschiebungen-nach-afghanistan/

[6] https://www.tagesschau.de/inland/abschiebung-afghanistan-133.html

[7] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/abschiebung-nach-kabul-vom-ausbildungsplatz-in-den-abschiebeflieger-a-1181980.html

[8] http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/frankfurt-flughafen-hunderte-protestieren-gegen-abschiebung-15328461.html

29. Dezember 2017


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