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KRIEG/1722: Kabul - ein zweites Vietnam ... (SB)



Die USA sind nicht bereit, ihre Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Und die Taliban können eine weitere Präsenz der US-Truppen in Afghanistan nicht akzeptieren. Die Gespräche sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber ich glaube nicht, dass da bald ein Ergebnis herauskommt. Die wollen zeigen, dass sie etwas tun. Aber die US-Strategie ist doch ganz auf Krieg konzentriert. Sie werfen Bomben und töten Leute. Sie schaffen doch damit einen Grund für Krieg.
Der afghanische Politik-Analyst Ghulam Jelani Zwak [1]

Die zweitägige Afghanistankonferenz bei der UNO in Genf hat das Desaster des längsten Waffengangs seit dem Zweiten Weltkrieg abermals in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Nach 17 Jahren Krieg und Okkupation durch die westlichen Mächte ist die Bilanz verheerend und ein Ende des Konflikts noch immer nicht in Sicht. Laut offizieller Einladung ging es bei der Zusammenkunft von Diplomaten aus 60 Ländern mit der afghanischen Führung darum, daß die internationale Gemeinschaft dem afghanischen Volk und der Regierung in Kabul ihre Solidarität bei den Anstrengungen hin zu Frieden und Wohlstand zeigt. Dieses Leitmotiv konnte zynischer kaum sein: Es herrscht Krieg, das Land ist bettelarm, die Marionettenregierung schwach und die Taliban sind erstarkt, wobei auch der IS mit einer Serie blutiger Anschläge von sich reden macht. Vor allem aber wird der Bock zum Gärtner gemacht, wenn Vertreter jener Staaten, die diese Katastrophe maßgeblich zu verantworten haben, Solidarität im Munde führen.

Die Sicherheitslage ist in weiten Teilen des Landes angespannt, Angriffe und Anschläge islamistischer Rebellen sind an der Tagesordnung. Hinzu kommt eine desaströse wirtschaftliche Lage, die sich durch eine schwere Dürre noch verschlechtert hat. Die Armutsrate hatte sich zwischenzeitlich etwas verbessert, ist aber wieder auf den Stand von 2002, also unmittelbar nach den Taliban-Jahren, zurückgefallen. 55 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, so Thomas Rüttig, der Co-Direktor der NGO Afghanistan Analysts Network. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen von Ende September liegen noch immer nicht vor, weshalb selbst von Pseudoansätzen eines demokratischen Aufbaus eher nicht die Rede sein kann. [2]

Das Treffen galt als eine Art Halbzeitbilanz nach der Afghanistan Geberkonferenz in Brüssel vor zwei Jahren. Damals waren die finanziellen Hilfen an Bedingungen wie Reformen, Beachtung der Menschenrechte und Friedensbemühungen mit allen Konfliktparteien geknüpft worden, die bis 2020 umgesetzt werden müssen. Die afghanische Führung stand unter Zugzwang, im Dienste aller Beteiligten den Eindruck zu erwecken, sie arbeite mit Elan und nennenswerten Fortschritten an der Erfüllung dieser Vorgaben, obgleich niemandem verborgen geblieben sein konnte, daß davon kaum etwas zu erkennen ist. Neben politischen Fragen ging es in Genf auch um Geld, was insofern zusammenfällt, als sich Präsident Aschraf Ghani samt seiner Regierung ausschließlich am Tropf der Alimentierung im Sattel halten kann. Er warb um Investitionen, die er nur mit Willfährigkeit gegenüber den Gebern erkaufen kann.

Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich zusehends, die Islamisten bringen immer mehr Regionen des Landes unter ihre Kontrolle, und fast täglich kommt es zu Angriffen auf Sicherheitskräfte oder Anschlägen auf Regierungseinrichtungen und zivile Ziele wie Moscheen, Märkte oder Sportanlagen. Anfang September waren bei zwei aufeinanderfolgenden Explosionen in einem Sportclub in Kabul über 20 Menschen getötet worden, darunter Sanitäter, Sicherheitskräfte und Journalisten, die nach der ersten Explosion zum Tatort gekommen waren. Diese Zerstörungen durch Anschläge in den großen Städten zeugen von der Schwäche der afghanischen Behörden und Sicherheitskräfte.

Die Zahl der Todesopfer wird nach Einschätzungen der International Crisis Group in diesem Jahr einen neuen Höchststand erreichen. Während 2017 knapp 19.700 Menschen durch Kampfhandlungen und Anschläge ums Leben gekommen waren, könnten es in diesem Jahr deutlich über 20.000 werden. Die Taliban sind auf dem Vormarsch und haben in den ergangenen Monaten weitere Regionen und Provinzen unter ihre Kontrolle gebracht. Die von der NATO geführte Ausbildungs- und Unterstützungsmission "Resolute Support" schätzt, daß die Taliban etwa 14 Prozent des afghanischen Staatsgebietes kontrollieren. Das dürfte jedoch massiv untertrieben sein, da sich anderen Studien zufolge die Islamisten in fast 70 Prozent der Bezirke des Landes mehr oder weniger frei bewegen.

Entgegen westlicher Propaganda haben die Taliban nicht nur Feinde unter der Bevölkerung. In vielen Regionen werden sie dafür geschätzt, daß sie Verwaltungsstrukturen aufbauen, eine Gesundheitsversorgung gewährleisten und für Sicherheit gegen Kriminalität sorgen, wozu die afghanische Regierung nicht in der Lage zu sein scheint. Diese Situation führt dazu, daß viele Bewohner dieser Taliban-Gebiete die Nachteile in Kauf nehmen, die mit der Herrschaft der reaktionären Islamisten einhergehen, wie die Einschränkungen grundlegender Rechte. Davon sind vor allem Frauen und Mädchen betroffen, weil ihnen von den Taliban unter anderem der Schulbesuch untersagt wird.

Kurz vor den Wahlen hatte in Ansätzen ein politischer Prozeß begonnen, als Vertreter der Taliban-Führung bei einem Treffen in Katar mit einem US-Gesandten über eine mögliche Beendigung des Afghanistankriegs und den Abzug ausländischer Truppen sprachen. Die USA sind jedoch nach wie vor nicht bereit, ihre Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Sie führen weiter Krieg und töten Menschen durch Luftangriffe, wodurch die Präsenz der von ihnen geführten NATO-Truppen in zunehmendem Maße verhaßt ist. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres hat die UN-Mission in Afghanistan mehr als 350 zivile Opfer durch Luftangriffe dokumentiert, darunter fast 150 Tote und mehr als 200 Verletzte. Das sei ein Anstieg von mehr als 50 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Die afghanische Regierung wird von internationalen Truppen aus 41 Ländern unterstützt, welche die afghanischen Streitkräfte beraten und ausbilden. Während die Besatzungstruppen die Zahl ihrer Opfer auf diese Weise erheblich reduziert haben, zahlen die einheimischen Soldaten und Polizisten einen hohen Blutzoll. Neben den Taliban ist seit Anfang 2015 auch der Islamische Staat (IS) präsent, der in Afghanistan und auf pakistanischem Gebiet eine Provinz namens IS-Khorasan etablieren will und zahlreiche Anschläge vor allem auf schiitische Ziele verübt. Wegen der vielen Attentate stehen die Provinzen Nangarhar und Kabul an der Spitze der Statistiken über zivile Opfer. Seit Januar wurden in der Hauptstadt 20 große Anschläge verübt, bei denen fast 500 Menschen getötet und weitere 950 Menschen verletzt wurden. Zum Großteil der Anschläge bekennt sich der IS, während sich die Taliban seit mehreren Monaten von Anschlägen auf Zivilisten distanzieren. Offenbar sehen sie von Attentaten in großen Städten ab, während sie Gespräche mit den USA über mögliche Friedensverhandlungen ausloten. Zugleich greifen sie aber inzwischen mehrmals wöchentlich Militär- und Polizeistützpunkte im ganzen Land an und töten dabei zahlreiche Sicherheitskräfte. Laut Angaben aus Militärkreisen sterben täglich rund 35 Polizisten und Soldaten.

Da die militärische Initiative eindeutig bei den Taliban liegt und die afghanischen Streitkräfte heillos in die Defensive geraten sind, deutet sich ein Wandel der öffentlich geäußerten Einschätzungen in US-amerikanischen Militärkreisen an. So erklärte Generalstabschef Joseph Dunford kürzlich bei einem Sicherheitsforum in den USA, die Taliban würden "nicht verlieren". Die Amerikaner hätten vor einem Jahr von einem militärischen Patt gesprochen, und daran habe sich nicht viel geändert. Unter internationalen Diplomaten wird bereits eine militärische Niederlage eingestanden, der Krieg in Afghanistan sei verloren. Nun gelte es, so schnell wie möglich einen Friedensschluß herbeizuführen. Denn je länger eine Einigung ausbleibe, desto weniger Einfluß habe die afghanische Regierung in etwaigen Verhandlungen darüber, wie das Land in Zukunft aussehen solle.

Offenbar wächst der Druck aus dem Weißen Haus, den Konflikt beizulegen. Der US-Sondergesandte für die Aussöhnung in Afghanistan, Zalmay Khalilzad, soll von der Administration von US-Präsident Donald Trump bis zum Frühjahr Zeit bekommen haben, Resultate vorzulegen. Nach Angaben der Taliban haben seit Juli drei Runden an Vorgesprächen zu Friedensverhandlungen zwischen hochrangigen US-Delegationen und Vertretern des politischen Büros der Taliban im Golfemirat Katar stattgefunden. Dabei handelt es sich insofern um eine Kehrtwende in der Politik der USA, als diese zuvor stets darauf bestanden hatten, der Friedensprozeß müsse unter afghanischer Führung stattfinden. Die Taliban lehnen jedoch Gespräche mit der afghanischen Regierung ab, die sie als ein Marionettenregime betrachten. [3]

Sorgen bereitet der US-Regierung sicher auch die Initiative Rußlands, eine Vermittlerrolle in Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung einzunehmen. Nachdem ein erster Anlauf im August gescheitert war, fand Anfang November ein Treffen in Moskau statt, bei dem Außenminister Sergej Lawrow Vertreter verschiedener Seiten begrüßen konnte, darunter fünf Taliban-Abgesandte aus deren politischem Büro in Katar und vier Abgesandte des afghanischen Friedensrates, der im Auftrag der afghanischen Führung Friedensgespräche führen soll. Teilgenommen hat auch ein Diplomat aus der amerikanischen Botschaft in Moskau, eingeladen waren nicht zuletzt Repräsentanten regionaler Mächte wie China, Pakistan und Iran sowie zentralasiatischer Länder wie Usbekistan oder Tadschikistan, die eine Grenze zu Afghanistan besitzen.

Moskau hat somit längst eine historische Wende vollzogen. Nachdem Vorgängergruppen der Taliban im afghanisch-sowjetischen Krieg die Gegner waren, geht die russische Führung inzwischen davon aus, daß die Islamisten in Afghanistan auf lange Sicht ein wichtiger politischer Faktor bleiben. Es lohnt sich also, Kontakte zu ihnen zu pflegen, was Medienberichten zufolge bereits seit Jahren insgeheim betrieben wird. Das Augenmerk Moskaus gilt zudem der Sicherheitslage in den zentralasiatischen Republiken, in denen sich Moskau militärisch engagiert. Wie Lawrow dazu erklärte, sei es die Aufgabe der beteiligten Länder und in der Region tätigen multilateralen Strukturen, den Afghanen zu helfen, die terroristische Bedrohung auszurotten. [4]

Die Bilanz der Afghanistankonferenz in Genf fiel bescheiden aus, womit die internationale Zusammenkunft ganz den Erwartungen entsprach. Bundesaußenminister Maas rief die afghanische Regierung zu weiteren Reformen auf, da vor allem im Kampf gegen die Korruption und die Armut sowie bei der Verbesserung des Wirtschaftsklimas mehr Anstrengungen nötig seien. Zudem forderte er Kabul auf, sich stärker darum zu bemühen, die Taliban in den Friedensprozeß einzubinden. Der afghanische Präsident Ghani bat um Geduld und erklärte, ein bedeutsamer Wandel könne nicht überstürzt geschehen. Sein Land brauche die Unterstützung der Staatengemeinschaft. Die EU-Kommission hat eine weitere Finanzhilfe in Höhe von 474 Millionen Euro zugesagt, wobei Deutschland nach den USA zweitgrößter bilateraler Geber ist. [5]

Die Bundesregierung hatte Afghanistan bei der letzten großen Geberkonferenz 2016 in Brüssel Unterstützung von bis zu 430 Millionen Euro pro Jahr bis 2020 für den zivilen Wiederaufbau zugesagt. In Bereichen, in denen die Reformanstrengungen der afghanischen Partner hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind, hat das BMZ seine Unterstützung verringert. Entwicklungsminister Gerd Müller drückt das so aus: "Wir stehen inmitten einer kritischen Phase an der Seite der Afghanen. Zugleich erwarten wir, dass unsere Hilfe effizient und für Entwicklung und Frieden genutzt wird. Deswegen gilt auch hier das Prinzip 'Fördern und Fordern': Unterstützung im Gegenzug für konkrete Reformfortschritte." [6] Hartz IV für Afghanistan? Da dem Minister nicht unbedingt Humor nachgesagt wird, meint er es offenbar ernst. Wenn der Zusammenbruch vor Tür steht, ist deutsche Disziplin gefragt: Augen geradeaus und den Endsieg fest im Blick!


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/taliban-auf-dem-vormarsch-afghanistan-ist-gefaehrlicher.799.de.html?dr

[2] www.deutschlandfunk.de/afghanistankonferenz-kleine-schritte-zu-demokratie-und.1773.de.html

[3] www.zdf.de/nachrichten/heute/fragen-und-antworten-zum-afghanistan-konflikt-100.html

[4] www.deutschlandfunk.de/moskau-zweiter-anlauf-zu-einer-afghanistan-konferenz.1783.de.html

[5] www.deutschlandfunk.de/afghanistan-konferenz-maas-fordert-reformen-von-kabul.1939.de.html

[6] www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/2018/november/181127_Afghanistan-Konferenz-in-Genf-Minister-Mueller-Erwarten-Reformen-von-Afghanistan/

28. November 2018


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