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KRIEG/1724: Erdogan - innere Pflichten ... (SB)



Bei Lichte betrachtet erfüllt die türkische Militärpräsenz in der nordsyrischen Region Afrin sowie in der Region um Asas, al-Bab und Dscharablus im Norden Syriens völkerrechtlich alle Kriterien einer militärischen Besatzung.
Expertise der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages [1]

Der Abzug der USA aus Syrien ebnet der Türkei den Weg für eine Offensive gegen die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) im Norden des Landes, die bislang von den US-Truppen im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat unterstützt wurden. Recep Tayyip Erdogan kommt damit seinem erklärten Ziel einen großen Schritt näher, die "Kurdenfrage" ultimativ aus der Welt zu schaffen. Wie schon beim Vernichtungs- und Vertreibungskrieg im Südosten der Türkei geht es dem Regime auch im Nachbarland darum, den Widerstand militärisch zu besiegen, die Kurdengebiete dauerhaft zu besetzen, den dort etablierten Gesellschaftsentwurf zu zerschlagen und eine ethnische Säuberung zu exekutieren. Durch Okkupation der Siedlungsgebiete, Zerstörung der Lebenszusammenhänge und Auslöschung der Kultur soll der Kampf der Kurdinnen und Kurden um Autonomie in einer Föderation und eine gerade in dieser Weltregion beispiellose emanzipatorische gesellschaftliche Entwicklung endgültig niedergeworfen werden.

Die türkische Regierung will in Nordsyrien eine durchgängige Besatzungszone etablieren, aus der die kurdische Bevölkerung vertrieben und durch Menschen anderer Ethnien ersetzt wird, die dort angesiedelt werden sollen. Das Erdogan-Regime will sich den gesamten Grenzstreifen im Nachbarland dauerhaft einverleiben und dort eine türkische Verwaltung wie auch einen türkischsprachigen Schulunterricht einrichten, wie die Praxis im bereits seit längerem besetzten Korridor zwischen den kurdischen Kantonen westlich des Euphrat zeigt. Galten diese Gebiete lange als einzig sichere Region im Kriegsland Syrien, wo geflohene Menschen esidischer, alevitischer oder arabischer Herkunft Schutz fanden, so dokumentieren die katastrophalen Verhältnisse in Afrin, was der Bevölkerung im gesamten Nordsyrien droht. Dort wüten Erdogans dschihadistische Hilfstruppen und zwingen der Bevölkerung mit Hilfe ihrer grausamen Auslegung der Scharia eine Schreckensherrschaft auf, die nur dem Namen nach nicht identisch mit der des IS ist.

Die türkische Invasion in Syrien begann im August 2016, als die Operation "Schutzschild Euphrat" als Keil vorangetrieben wurde, um einen territorialen Zusammenschluß der getrennten autonomen Kurdengebiete zu verhindern. Unter dem Vorwand, den jahrelang von Ankara unterstützten IS anzugreifen, unterband der Einmarsch ins Nachbarland alle Versuche der syrisch-kurdischen Einheiten, weiter nach Westen vorzustoßen und Dscharablus zurückzuerobern, bevor die Freie Syrische Armee (FSA) dort die Kontrolle übernehmen konnte. Zugleich ging es der türkischen Führung darum, den kurdischen Einfluß in der Koalition Demokratische Kräfte Syriens (SDF) einzudämmen, die von den USA unterstützt wurden.

Erdogan hatte die Invasion mit versöhnlichen Gesten gegenüber Moskau, Washington und Damaskus vorgebahnt und sich mutmaßlich auch mit geheimen Absprachen abgesichert. So fiel der syrische Protest gegen die Verletzung der Souveränität verhalten aus, Rußland zeigte sich lediglich besorgt über die Entwicklung im Grenzgebiet und die USA unterstützten den Vormarsch sogar mit Kampfjets, obwohl sich die Operation auch gegen die syrischen Kurden und damit ihre damaligen Verbündeten richtete. Die türkischen Truppen beschossen kurdische Stellungen nahe der Stadt Manbidsch und erklärten, die YPG/YPJ hätten sich nicht, wie von den USA gefordert, auf das Ostufer des Euphrat zurückgezogen. Dies bekräftigte auch US-Vizepräsident Joseph Biden, der sich zum Zeitpunkt der Invasion in Ankara aufhielt.

"Wir sind froh, dass die Türkei aktiv gegen den IS eingreift", befürwortete damals der CDU-Europa-Abgeordnete Elmar Brok die türkische Offensive in Syrien. Zugleich kritisierte er die syrischen Kurden, die sich gefälligst auf das Gebiet östlich des Euphrats beschränken sollten. Wie der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments nach seiner Rückkehr von politischen Gesprächen in Ankara erklärte, müsse man "natürlich aufpassen, dass das auch nicht übertrieben wird und die Balance nicht zerstört wird". Den türkischen Vorstoß ins Nachbarland hielt er völkerrechtlich für einwandfrei. Er verwahrte sich gegen den Sprachgebrauch, Erdogan einen Despoten zu nennen. Man dürfe der türkischen Regierung kein Ultimatum stellen, sondern müsse sie ermuntern, den "innertürkischen Kurden-Konflikt wieder herunterzufahren" und Friedensgespräche zu führen.

Die Bundesrepublik war mit dem BND, der ebenso wie die CIA und andere Geheimdienste der NATO im Gefolge des 11. September 2001 Folter auch an deutschen Staatsbürgern nach Syrien ausgelagert hatte, am angestrebten Regimewechsel in Damaskus durchgängig beteiligt. Hinzu kommt die Luftaufklärung der deutschen Tornados, die ihre Daten an militärische Operations- und Kontrollzentren liefern, in denen die USA gemeinsam mit der Türkei und Geheimdienstoffizieren aus Katar und Saudi-Arabien die Informationen verwerten und auch an die Rebellen weitergeben. Von einer mittelbaren deutschen Kriegsbeteiligung in Syrien zu sprechen wäre daher fast schon ein Euphemismus.

Am 20. Januar 2018 begann der Angriffskrieg gegen den Kanton Afrin im Nordwesten Syriens unter dem Namen "Operation Olivenzweig", der nach der erklärten Absicht der Erdogan-Regierung nur der Auftakt zu einer finalen Offensive gegen die Kurdengebiete südlich der Grenze sein sollte. Wie der Präsident ankündigte, sei es soweit, "das Projekt der separatistischen Terrororganisation (...) vollkommen zunichte zu machen". Die Türkei werde ihre Angriffe auf die Regionen Afrin und Manbidsch ausweiten "und danach Sicherheit und Ruhe entlang der gesamten Grenze bringen". Um einer Antikriegskoalition im eigenen Land den Boden zu entziehen, drohte Erdogan, Kriegsgegner würden "einen hohen Preis" bezahlen. Die Presse wurde mittels eines 15-Punkte-Plans, der die fortan legitimen Äußerungen zum Krieg definierte, de facto gleichgeschaltet. Türkische Nationalisten mobilisierten zu der Kampagne "Syrien soll brennen, Afrin soll vernichtet werden" in den sozialem Medien. Mehr als 350 weitere Mitglieder der HDP, die sich als einzige Partei offen gegen die "Operation Olivenzweig" gestellt hatte, wurden in Haft genommen.

Wie sich rasch herausstellte, wurden die Menschen in Afrin auf dem Altar türkischer wie europäischer Interessen geopfert. Als die EU-Spitzen im März 2018 in Warna erstmals seit zehn Monaten wieder zu einem Gipfeltreffen mit Erdogan zusammentrafen, durfte zwar Kritik geäußert werden, die aber folgenlos blieb. Wer gehofft haben mochte, daß von dem Treffen zumindest ein klares Signal ausgehen würde, daß die EU dem türkischen Angriffskrieg in die Parade fährt, sah sich bitter enttäuscht. Von möglichen Sanktionen keine Spur, nichts, was über die ohnehin gebremsten Prozesse der Integration in die EU hinausgegriffen hätte.

Der Angriff auf Afrin war nur möglich, weil Rußland den Luftraum für die türkischen Streitkräfte freigegeben hatte und die mit den Syrischen Demokratischen Kräften verbündeten USA nicht eingegriffen haben. Damit hatten die am Syrienkrieg beteiligten Großmächte die Weichen dafür gestellt, die Kurdinnen und Kurden der Türkei zum Fraß vorzuwerfen. Ende März hielt Donald Trump eine Rede vor Industriearbeitern in Ohio, die Kommentatoren als selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich zerfahren mißdeuteten. Der US-Präsident kündigte nämlich den baldigen Abzug aus Syrien an. Schon bald seien "hundert Prozent" der Gebiete aus den Händen des IS zurückerobert, dem man es gezeigt habe. Die US-Truppen sollten nach Hause zurückkehren, um Syrien könnten sich "andere Leute" kümmern. Diese Äußerung wurde als mehr oder minder abwegiger Alleingang Trumps abgetan, zumal sein Außenministerium davon nichts wußte.

Wenig später sprang Emmanuel Macron in die Bresche und empfing erstmals eine Delegation der SDF im Elysée-Palast. Er würdigte deren Opfer und ihre entscheidende Rolle im Kampf gegen den IS und sicherte die Unterstützung Frankreichs bei der Stabilisierung der Zone im Nordosten Syriens zu. Ebensowenig wie den anderen Mächten ging es Frankreich um die Kurdinnen und Kurden, die jedoch vorerst als erfolgreichste und zuverlässigste Bodentruppe wahrgenommen und in dieser Funktion befristet unterstützt werden sollten. Frankreich ist kein strategischer Partner, der die kurdischen Ziele wie insbesondere den demokratischen Föderalismus und einen Gesellschaftsentwurf wie jenen Rojavas teilen würde. Dessen ungeachtet könnten die Franzosen zumindest befristet dazu beitragen, den Vormarsch der türkischen Truppen und ihrer Verbündeten zu bremsen.

Erdogan zog umgehend mit einer haßerfüllten Tirade über die französische Regierung her und erklärte, Frankreich habe "kein Recht mehr, sich über eine einzige Terrororganisation, einen einzigen Terroristen oder einen einzigen Terroranschlag zu beschweren. Diejenigen, die sich mit Terroristen ins Bett legen und sie sogar in ihren Palästen empfangen, werden ihren Fehler früher oder später erkennen." Angesichts des nun beginnenden Rückzugs der US-Truppen bekräftigte Paris noch einmal die Absicht, seine Militärpräsenz in Syrien vorerst aufrechtzuerhalten. Daraufhin warnte der türkische Außenminister Cavusoglu die französische Regierung vor einer weiteren Unterstützung der YPG. Es nütze niemandem etwas, wenn französische Soldaten die YPG-Kämpfer in Syrien schützen, so Cavusoglu laut der amtlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu.

Ungeachtet der eingangs zitierten Expertise, die von der Linksfraktion in Auftrag gegeben worden war, hat die Bundesregierung noch immer keine völkerrechtliche Einordnung des Angriffs auf Afrin vorgenommen. Außenminister Heiko Maas hatte zwar bereits im März erklärt, daß die türkische Militäroperation "sicherlich nicht mehr im Einklang mit dem Völkerrecht wäre", wenn türkische Truppen dauerhaft in Syrien blieben. Da "dauerhaft" aber ein dehnbarer Begriff ist, heißt das unter dem Strich, daß die deutsche Regierung noch nicht einmal bereit ist, von einer türkischen Besatzung im völkerrechtlichen Sinn zu sprechen. Statt dessen macht sich Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vor allem darüber Sorgen, daß der IS nach Einschätzung der Verbündeten noch nicht vollständig besiegt sei. Ein Wiederaufflammen des IS-Terrors müsse unbedingt verhindert werden. Deutlicher könnte man das zynische Kalkül kaum zum Ausdruck bringen, daß es ein Fehler sei, die Kurdinnen und Kurden nicht mit US-amerikanischer Rückendeckung gegen den IS zu verheizen, bis dieser vollständig vernichtet sei.

Unterdessen hat Rußland die syrische Regierung aufgefordert, die Gebiete zu übernehmen, in denen derzeit noch US-Truppen stationiert sind. Nach dem von US-Präsident Donald Trump angekündigten Rückzug seiner Soldaten sollten die Territorien in Ostsyrien entsprechend internationalem Recht der syrischen Regierung übergeben werden, erklärte die russische Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa. Hingegen drohte ein Sprecher der mit der Türkei verbündeten Syrischen Nationalarmee SNA, bis zu 15.000 Kämpfer seiner Gruppe stünden bereit, um in von den USA geräumte Regionen einzurücken. Sollten dagegen Regierungskräfte in das Gebiet zurückkehren, werde dies eine Katastrophe mit neuen Fluchtbewegungen auslösen.

In den vergangenen Tagen hat Ankara seine Truppenpräsenz entlang der syrischen Grenze verstärkt, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge wurden in der Gegend bei Manbidsch in Nordsyrien zusammengezogen. Auch die protürkischen Gruppierungen haben Verstärkung in die Region geholt. Die Kurdinnen und Kurden haben unter großen Opfern in Kobane, in Rakka und aktuell bei der Schlacht um Hajin große Erfolge im Kampf gegen den IS erzielt. Nun werden sie von Trump im Stich gelassen, der sich offenbar mit Erdogan auf einen langsamen und koordinierten Rückzug der US-Truppen aus dem Gebiet verständigt hat, um ein "Machtvakuum" zu vermeiden. Daß es sich dabei keineswegs um ein Vakuum, sondern die kurdischen Kantone handelt, die man über die Klinge springen lassen will, war dem twitternden US-Präsidenten nicht einmal eine Nebenbemerkung wert.


Fußnote:

[1] www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-syrien-179.html

27. Dezember 2018


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