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KRIEG/1727: Syrien - US-Truppenabzug verlangsamt ... (SB)



Wir werden niemals zögern, Terroristen an unserer Grenze auszuschalten, auch wenn sich die YPG mit dem syrischen Regime einigt und diese das Gebiet gemeinsam kontrollieren. Es ist unsere Pflicht, diese Bedrohung unserer nationalen Sicherheit zu eliminieren, egal von wem diese Terrororganisation kontrolliert wird.
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu in Ankara [1]

Der demokratische Föderalismus und der emanzipatorische Gesellschaftsentwurf Rojavas samt der Wehrhaftigkeit der Volks- und der Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) setzen weit über die kurdischen Gebiete in dieser Weltregion hinaus ein Zeichen. Angesichts der unverhohlenen Drohung des Erdogan-Regimes, die Kurdinnen und Kurden abzuschlachten, zu vertreiben, ihre Regionen ethnisch zu säubern und ihre Kultur zu zerstören, tritt wie unter der Lupe in aller Trennschärfe hervor, wo anstelle solidarischer Würdigung und Unterstützung bloße Krokodilstränen, vorteilsgestützte Instrumentalisierung und klammheimliche bis offene Teilhaberschaft an der Unterdrückung des kurdischen Kampfes das Feld beherrschen.

In der Bundesrepublik werden kurdische und türkische Linke mit dem Terrorverdikt überzogen, nach dem Feindstrafrecht verurteilt und zu politischen Gefangenen in deutschen Gefängnissen gemacht. Zugleich nimmt das Verbot ihrer Symbole längst die Züge eines Kulturkampfes an, der jegliche widerständige kurdische Identität diskreditiert und sanktioniert. Unterdessen produzieren die Aufklärungsflüge deutscher Tornados weiterhin Bilder, die nicht zuletzt auch mit den türkischen Streitkräften geteilt werden und somit unmittelbar deren Krieg gegen die Kurdengebiete wie in Afrin unterstützen. Wenn türkische Leopard-2-Panzer über die Grenze nach Syrien rollen und vor dem nächsten Angriffsziel Manbidsch in Stellung gehen, ist dies nur ein weiterer augenfälliger Ausdruck der militärischen Partnerschaft, die ungeachtet aller tagespolitischen Wellenschläge von einer fundamentalen Übereinstimmung der beiderseitigen Staatsräson zeugt.

Die Bundesregierung hat sich gewunden oder geschwiegen und den völkerrechtswidrigen Angriff der türkischen Armee auf das nordsyrische Afrin bis heute nicht als solchen bezeichnet, geschweige denn in aller Schärfe verurteilt oder gar Sanktionen in Erwägung gezogen. Die Tornados wurden lediglich aus der Türkei nach Jordanien verlegt, von wo aus sie weiter ihre Einsätze fliegen. Soldaten der Bundeswehr sind maßgeblich an den AWACS-Flügen beteiligt, die von NATO-Stützpunkten in der Türkei ausgehen. Deutsche Waffen und Ausbildung kamen den Peschmerga im Nordirak zugute, die mit der türkischen Regierung kollaborieren.

Agnieszka Brugger, die für die Grünen im Verteidigungsausschuß des Bundestages sitzt, attestiert nach dem angekündigten Abzug der US-Truppen aus Syrien den Kurden, die allergrößten Verlierer zu sein. Das hätten sie wirklich nicht verdient, zumal es ihnen gelungen sei, in diesen chaotischen Zuständen eine Verwaltung aufzubauen und bestimmte Werte zu leben, "die uns hier auch von den Demokratien her sehr nahe sind", wie die Grünen-Politikerin arg euphemistisch zugesteht. Dann macht sie den Bock zum Gärtner und verlangt, die Europäische Union solle endlich aus dem Dornröschenschlaf aufwachen und eine aktivere Rolle in Syrien übernehmen. Auch müsse die NATO den Druck erhöhen, wenn ein Bündnispartner mit Füßen tritt, was das Selbstverständnis einer Organisation wie der NATO sei. [2]

Mit dem Vorschlag, eine Pufferzone unter UNO-Mandat zum Schutz der Kurden im Norden Syriens zu errichten, überrascht der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter. Da Trump die bisherigen Bemühungen durchkreuzt habe, müßten die Europäer auf UNO-Ebene eine neue Initiative starten, um diplomatischen Druck auszuüben. Dabei verwies der Obmann der Unionsfraktion im Auswärtigen Ausschuß des Bundestags auf die Umsetzung der Genfer Friedensverhandlungen und humanitäre Hilfen. Auch Kiesewetters Werben für den Wiederaufbau eines föderalen und säkularen syrischen Staates hört sich zunächst nicht schlecht an, wenngleich ihm der kurdische Kampf um Autonomie innerhalb des syrischen Staats natürlich nicht über die Lippen kommt. Am Ende stellt sich denn doch heraus, daß das Wohlwollen insbesondere deutschem Eigennutz geschuldet ist, wenn der CDU-Politiker betont, daß Griechenland, Italien und Deutschland einige Millionen Flüchtlinge aufgenommen hätten und daran interessiert seien, diese Menschen auch wieder zurückzuführen. [3]

Da mutet der frühere CDU-Politiker, Publizist und Nahost-Kenner Jürgen Todenhöfer denn doch erfrischender an, wenn er erklärt, für ihn sei die Vorgehensweise der US-Amerikaner eine Mischung aus Niederlage, Feigheit und Verrat. Niederlage deswegen, weil der IS nicht ausgeschaltet, sondern vertrieben worden sei. Zwei Drittel der IS-Kämpfer seien in Syrien und im Irak entkommen und gruppierten sich neu. Zudem sei Assad immer noch da und der Iran stärker als zuvor. Feige angesichts einer Kriegsführung aus der Luft, die nur Städte plattgebombt habe, während nun Bodentruppen abgezogen würden, die dort nie gekämpft hätten. Und Verrat, weil man die Kurdinnen und Kurden im Stich lasse. [4]

Frankreich, das sich als angeblicher Beschützer der syrischen Kurden ins Spiel brachte, kann seine militärische Präsenz ohne die US-Streitkräfte nicht aufrechterhalten. Großbritannien wird seine Soldaten aus Syrien voraussichtlich nach Jordanien abziehen. Das nicht offiziell bestätigte Mitwirken von Briten und Franzosen in den Reihen bewaffneter und ziviler Schutzgruppen in Idlib wird vermutlich in kleinerem Umfang aufrechterhalten. [5] Emmanuel Macron erklärte frustriert, die US-Amerikaner seien kein vertrauenswürdiger Verbündeter. Die demonstrativ in der Stadt Manbidsch patrouillierende, rund 200 Mann starke französische Spezialeinheit muß wohl zurückgezogen werden, sobald die US-Truppen abrücken. Offenbar verfügen die Franzosen nicht einmal über eigene Transportmittel wie Hubschrauber, um ihre Soldaten auszufliegen. Wenngleich die französische Truppenstärke geheimgehalten wird, gehen Beobachter davon aus, daß die "Operation Chammal" in Syrien noch rund 1.200 Soldaten am Boden hat. Unterstützt werden die Kämpfe der von den USA angeführten westlichen Kriegsparteien vor allem durch die französische Luftwaffe. Seit mehr als vier Jahren sind bis zu 50 Kampfflugzeuge von den Flugzeugträgern Charles de Gaulle und Harry S. Truman aus im Einsatz. Die französische Regierung sieht ihr Land direkt von den Dschihadisten in den syrisch-irakischen Kriegsgebieten bedroht. Offenbar kämpfen seit 2014 rund 1.700 Franzosen auf seiten des IS, rund 260 französische Dschihadisten sollen seither nach Frankreich zurückgekehrt sein. [6]

Am 19. Dezember räumte Trump seinem Militär 30 Tage ein, um die in Syrien stationierten 2.000 US-Soldaten abzuziehen. Inzwischen hat der US-Präsident erklärt, er habe niemals gesagt, daß die USA das Land "über Nacht" verlassen würden. Vielmehr werde der Abzug "innerhalb einer gewissen Zeitspanne erfolgen". Der republikanische Senator Lindsey Graham hatte nach einem Gespräch mit Trump mitgeteilt, der Präsident verstehe die Notwendigkeit, die Arbeit zu Ende zu bringen. Die Abzugspläne würden "auf kluge Weise verlangsamt". [7]

Die kurdischen YPG hatten Manbidsch 2016 erobert und damals die Kämpfer des IS aus der Stadt vertrieben. Die YPG-Präsenz westlich des Euphrat war der Türkei von Beginn an ein Dorn im Auge, da sie ein durchgängiges kurdisches Gebiet an ihrer Südgrenze verhindern will. Im Sommer 2018 zogen die YPG ihre Militärberater aus der mehrheitlich arabischen Stadt zurück, doch blieb der dortige Militärrat weiterhin mit den um die YPG gebildeten Syrisch-Demokratischen Kräften (SDK) verbunden. Angesichts des angekündigten Einmarschs der Türkei forderte das Generalkommando der YPG die Regierung in Damaskus auf, die Kontrolle über diejenigen Gebiete wie insbesondere Manbidsch zu übernehmen, aus denen sich die YPG zurückgezogen haben, und diese Gebiete vor einer türkischen Invasion zu beschützen. Die YPG würden sich auf den Kampf gegen den IS östlich des Euphrat konzentrieren.

Daraufhin bezogen Regierungstruppen zum Jahreswechsel rund um Manbidsch Stellungen, die zuvor von den Kurden gehalten worden waren. Rußland bezeichnete mit Blick auf Trumps Ankündigung jeden Abzug von Truppen, die sich gesetzwidrig im Land aufhalten, als einen Schritt in die richtige Richtung. Einen Einmarsch türkischer Truppen in die Gebiete östlich des Euphrat, wie von Ankara angekündigt, weist Moskau zurück und besteht darauf, daß nach einem US-Truppenabzug Syrien die Kontrolle über die Gebiete östlich des Euphrat übernehmen müsse.

Der türkischen Invasion scheinen vorerst Grenzen gesetzt zu sein, zumal neben den Kurden, der syrischen Regierung und Rußland auch der Iran und der Irak jeden weiteren Vormarsch ablehnen. Selbst die Golfstaaten arbeiten offenbar daran, den Expansionsplänen Erdogans einen Riegel vorzuschieben. Bagdad und Teheran haben die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit mit Damaskus erheblich ausgebaut. Der Irak hat mit Syrien ein Sicherheitsabkommen für den Kampf gegen den IS geschlossen, das es der irakischen Luftwaffe erlaubt, im Grenzgebiet auch auf syrischem Territorium eigenständig gegen die Dschihadistenmiliz vorzugehen. Für Saudi-Arabien und weitere Golfstaaten geht es darum, den Einfluß der Türkei und Katars, die mit dem Iran kooperieren, beim Wiederaufbau des Landes zurückzudrängen. Zweifellos unter russischer Diplomatie scheint Riad die strategische Partnerschaft Syriens mit Teheran in Kauf zu nehmen und Damaskus finanzielle Angebote zu machen.

Diese Konstruktion ist in einigen Kernelementen wie dem Einfluß der russischen Schutzmacht, die immer wieder mit den Beteiligten ins Gebet geht und Kompromisse aushandelt, recht stabil, in anderen jedoch eher ein fragiles Muster mutmaßlicher Entwicklungen, in dessen Struktur es jederzeit zu Brüchen und Kontroversen kommen kann. Hinzu kommen weitere Akteure wie Israel, das jedes Vordringen des Irans verhindern will und in zunehmendem Maße Luftangriffe auf Ziele in Syrien fliegt. Zudem ist ungewiß, in welchem Ausmaß westliche militärische Dienstleister mit Spezialkommandos im Land präsent sind. Daß sie auch in diesem Konflikt nicht fehlen, ist anzunehmen, zumal das Pentagon Anfang 2018 plante, mit Hilfe des Blackwater-Gründers Erik Prince, dessen Schwester Betsy DeVos Bildungsministerin in Trumps Kabinett ist, eine von Saudi-Arabien finanzierte und ausgebildete, 30.000 Soldaten starke Truppe aufzubauen. Diese sollte anstelle der US-Soldaten die Grenze zwischen Syrien und dem Irak für den Iran blockieren und verhindern, daß die syrische Armee die Kontrolle über das Gebiet zurückgewinnt. Der Plan schlug fehl, was vor allem an einer glücklosen Rekrutierung unter der lokalen Bevölkerung lag.

Wie in der Ukraine ist auch in Syrien der Vormarsch der westlichen Mächte zum Stehen gekommen, weil Rußland die zunehmende Einkesselung gebremst und die Initiative ergriffen hat. Das mag zur Erklärung beitragen, warum dieser Krieg unter Beteiligung zahlreicher Parteien so erbittert geführt wird. Syrien ist das Schlachtfeld der Groß- und Regionalmächte, die teils unmittelbar, oftmals jedoch über von ihnen finanzierte und protegierte Milizen um Einfluß ringen und ihre Ausgangspositionen für künftige Waffengänge verbessern wollen. Zwischen diesen Mühlsteinen kämpfen die Kurdinnen und Kurden um ihre Existenz und Zukunft. Im Kalkül Dutzender Kriegsparteien und bewaffneter Fraktionen tauchen sie als im Kampf gegen den IS sehr erfolgreiche Bodentruppen, nicht jedoch um ihrer selbst willen auf. Militärische Notwendigkeiten gebieten es, daß sie taktische Bündnisse mit Mächten eingehen, die ihre strategischen Gegner sind, weil sie ihre politischen Ziele keinesfalls teilen. In dieser Welt, so scheint es, haben die Kurdinnen und Kurden letzten Endes nur sich selbst und ihren Kampf um eine menschenwürdige Gesellschaft. Den führen sie allerdings schon sehr lange, denn während so viele andere Freiheitsbewegungen längst Geschichte sind, schreiben sie ihre weiter.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2018/12/28/syri-d28.html

[2] www.deutschlandfunk.de/us-abzug-aus-syrien-erdogan-kriegt-gruenes-licht.694.de.html

[3] www.deutschlandfunk.de/kurdengebiet-in-syrien-kiesewetter-cdu-plaediert-fuer.1939.de.html

[4] www.deutschlandfunk.de/us-abzug-aus-syrien-strategisch-gesehen-eine-niederlage-auf.694.de.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/346503.syrien-syriens-zukunft.html

[6] www.jungewelt.de/artikel/346389.frankreich-syrien-wir-können-nicht-bleiben.html

[7] www.deutschlandfunk.de/us-soldaten-in-syrien-der-verzoegerte-abzug.1939.de.html

5. Januar 2019


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