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KRIEG/1750: Opfer - Europas Prinzipien auf dem Altar der Grenzsicherung ... (SB)



Wir schlagen die Schaffung eines 30 Kilometer breiten und 480 Kilometer langen "Friedenskorridors" vor, wo unter internationaler Beteiligung zwei Millionen syrische Flüchtlinge wieder angesiedelt werden sollen.
Recep Tayyip Erdogan vor der UN-Vollversammlung in New York [1]

Recep Tayyip Erdogan hat im Zuge seines Aufstiegs zum unumschränkten Machthaber in der Türkei soviel verbrannte Erde zurückgelassen, daß eine Umkehr für ihn nicht mehr möglich ist. Sein Sturz wäre zwangsläufig damit verbunden, daß er für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird. Wenn er angesichts der tiefen Wirtschaftskrise und einer erstarkenden Opposition in Bedrängnis gerät, macht ihn das um so gefährlicher. Die aktuelle Entwicklung legt nahe, daß er in der sofortigen Umsetzung langgehegter strategischer Pläne den dringend benötigten Befreiungsschlag sieht und nicht länger zögert, auf Krieg zu setzen. Dabei will er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, nämlich die "kurdische Frage" ein für allemal aus der Welt schaffen und zugleich Millionen syrischer Flüchtlinge loswerden, welche die Türkei aufgenommen hat. Um seinem zweifachen Ziel näherzukommen, kündigt er den Angriff auf die kurdischen Gebiete in Nordsyrien an, so daß sich die US-Truppen zurückziehen und ihre Verbündeten im Stich lassen. Zugleich hat er die Grenze zu Griechenland soweit geöffnet, daß die dortige "Flüchtlingskrise" eskaliert und die EU einer Rettung des Abkommens mit der Türkei alle anderen Themen unterordnet.

Der Plan scheint aufzugehen. Nach einem Telefongespräch zwischen Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan sprach Washington von einem "lange geplanten Einsatz" im umkämpften Gebiet, mit dem die Türkei "bald" beginnen werde. Die USA geben der türkischen Regierung freie Hand und liefern ihre kurdischen Verbündeten dem Angriffskrieg aus. Im Falle einer türkischen Offensive würden die USA die Kurden nicht verteidigen, sagte ein US-Vertreter nach Angaben der Agentur Reuters. Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Stephanie Grisham, erklärte, die US-Truppen würden im Grenzgebiet östlich des Euphrats den Weg für die von Ankara geforderte Sicherheitszone freimachen. Amerikanische Soldaten wären in die Operation nicht involviert, sie seien nicht länger in der unmittelbaren Umgebung vertreten.

Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) teilten mit, daß der Abzug amerikanischer Truppen entlang der Grenze bereits begonnen habe. Im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) hatten die kurdisch geführten SDF und die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) die Hauptlast im Bodenkampf getragen. Dieses taktische Bündnis hat Washington nun beendet, wozu Grisham zynisch anmerkte, für die Kurden bedeute der türkische Einmarsch Unsicherheit. Trumps Billigung des türkischen Angriffs steht im Widerspruch zu den Empfehlungen wichtiger Berater des Präsidenten, die sich dafür ausgesprochen haben, ein kleines Truppenkontingent in Nordostsyrien zu belassen. [2]

Nachdem Trump bereits im Dezember angekündigt hatte, er werde die US-amerikanischen Soldaten aus Syrien abziehen, schlug ihm heftige Mißbilligung entgegen. Aus Protest trat der damalige Verteidigungsminister Jim Mattis zurück. Der Präsident machte einen Rückzieher, und seit August bemühten sich die USA und die Türkei gemeinsam um die Einrichtung einer fünf Kilometer tiefen Pufferzone unter internationale Kontrolle. Diese geht auf einen Kompromißvorschlag von kurdischer Seite zurück, die einen Rückzug der YPG/YPJ aus dieser Zone wie auch einen Abzug schwerer Waffen mit einer Reichweite bis in die Türkei anbot, sofern sich Ankara zu einem Verzicht auf weitere militärische Aggression bereiterkläre. Auch eine Rückkehr der Syrer sei möglich, sofern sie tatsächlich aus Gebieten in dieser Zone stammen. Keinesfalls werde man hingegen den Einsatz islamistischer Milizen in einer Pufferzone zulassen.

Darüber hinaus sah der Vorschlag eine Rückansiedlung der vertriebenen kurdischen Bevölkerung in Afrin vor, wobei die Zivilisten und Milizen, die sich mit der Einnahme Afrins durch die türkische Militäroperation "Olivenzweig" dort festgesetzt haben, das von ihnen in Besitz genommenen Wohneigentum wieder zurückgeben sollten. Willige die Türkei in diese Forderungen ein und ließe sich eine Umsetzung der Vereinbarung erkennen, könnten auch türkische Soldaten Patrouillen in der Pufferzone übernehmen, an deren Aufsicht aber auch die kurdische Selbstverwaltung beteiligt werden müsse. Diese Initiative wurde anfänglich umgesetzt, was aber für Erdogan nur eine kurzfristige Zwischenetappe war, die seinen Angriffsplänen nicht dauerhaft im Weg stehen durfte.

Wie Washington zudem erklärt hat, nähmen die USA keine festgenommenen IS-Kämpfer aus der Region auf Kosten der US-Steuerzahler auf. Deutschland, Frankreich und andere europäische Länder, aus denen die IS-Anhänger stammten, hätten sie auch nicht gewollt. Nun sei die Türkei für alle IS-Kämpfer zuständig, die in den vergangenen zwei Jahren auch mit Hilfe der US-Streitkräfte in der Region gefangengenommen wurden, führte das Weiße Haus aus. [3] Verteidigt die kurdische Selbstverwaltung, wie angekündigt, ihr Territorium gegen die türkische Invasion, wird eine ausreichende Sicherung von Gefängnissen und Lagern der IS-Gefangenen kaum noch möglich sein. Diese warten nur auf eine Gelegenheit, einen massenhaften Ausbruch durchzuführen, sich neu zu organisieren und ihre Schreckensherrschaft abermals zu errichten. Daher steht ein Wiedererstarken des IS mit den bekannten verheerenden Konsequenzen in Nordsyrien zu befürchten, das den jahrelangen verlustreichen Kampf der kurdischen Einheiten zunichte macht und eine erneute Massenflucht zur Folge hat.

Das Erdogan-Regime hat den Kurdinnen und Kurden im eigenen Land, in Syrien und im Nordirak einen Vernichtungskrieg angesagt, der den kurdischen Widerstand vernichten, seinen Gesellschaftsentwurf zerstören, die kurdische Kultur eliminieren und die kurdische Bevölkerung im Zuge einer ethnischen Säuberung vertreiben soll. Was der Staatspräsident seit langem angekündigt hat, setzte er mit militärischen Angriffe auf die Städte im Südosten der Türkei, auf Regionen im Norden Syriens und die Stellungen der PKK im Irak um. Im Zuge der Operation "Schutzschild Euphrat" marschierten türkische Truppen 2016 in einen Korridor im Norden Syriens ein, um sich dort dauerhaft zu etablieren und einen Keil zwischen die kurdischen Kantone zu treiben. Der Angriff auf den westlichen Kanton Afrin bei der Operation "Olivenzweig" im Januar 2018 erfolgte mit Hilfe islamistischer Milizen, die dort ein grausames Regime errichtet haben. Dies unterstrich das Grundmuster der türkischen Invasion, sich solcher Milizen als Hilfstruppen zu bedienen, die auf ihrem Vormarsch die Vernichtung aller fortschrittlichen gesellschaftlichen Entwicklungen zugunsten eines Gottesstaats repressivster Couleur garantieren.

Die in Nordsyrien angestrebte "Sicherheitszone" läuft auf eine dauerhafte Besetzung im Nachbarland und einen Austausch der Bevölkerung hinaus. Schon das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union stand aus Perspektive Ankaras nicht zuletzt im Zeichen einer Ansiedlung aus Syrien geflohener Menschen in den Kurdengebieten beiderseits der Grenze. Da inzwischen die Wirtschaftskrise in der Türkei die Ressentiments der Bevölkerung gegen syrische Flüchtlinge schürt und die Regierung zu Zwangsmaßnahmen greift, sie aus Großstädten wie Istanbul in südliche Landesteile zu verdrängen oder sogar ihre Abschiebung nach Syrien zu erwirken, tritt dies immer deutlicher zutage. Erdogan erläuterte jüngst vor dem türkischen Parlament erneut seinen Plan, "zwei Millionen Menschen entlang einer 30 Kilometer tiefen Sicherheitszone rückzusiedeln, die im Gebiet zwischen dem Euphrat und der Grenze zum Irak geschaffen werden soll. Demnach soll eine Million Menschen in neu geschaffenen Siedlungen untergebracht werden, die andere Million in bereits bestehenden Arealen. "Wir werden eine Million Menschen in 50 Städten mit einer Einwohnerzahl von jeweils 30.000 und in 140 Dörfern mit einer Einwohnerzahl von jeweils 5.000 ansiedeln. Diese Städte und Dörfer werden mit internationaler Unterstützung gebaut. Wir haben die Vorbereitungsarbeit dazu vervollständigt und auch die geschätzten Kosten kalkuliert." [4] Diese werden mit 24,4 Milliarden Euro beziffert und sollen nach Erdogans Vorstellungen von den Europäern getragen werden.

Was der türkische Machthaber für ganz Nordsyrien vorgesehen hat, dokumentiert das Schicksal Afrins. Dieser Kanton war bis zum Einmarsch der Türkei trotz des Krieges in Syrien ein friedliches Gebiet und Zufluchtsort für Vertriebene aus anderen Teilen des Landes. Dort lebten zwischen 300.000 und 400.000 überwiegend sunnitische Kurden, aber auch Eziden, Aleviten sowie weitere nomadische kurdische Gruppen. Heute wird die Zahl der Geflüchteten in die benachbarte, von der Selbstverwaltung kontrollierte Sheba-Region auf etwa 300.000 geschätzt. Die kurdische Bevölkerung wurde also fast vollständig vertrieben, und wer geblieben ist, lebt in ständiger Angst vor Entführung mit Erpressung von Lösegeld und Zwangssteuer der Scharia, Plünderung oder Enteignung, Vergewaltigung oder Ermordung.

Kurdische historische Denkmäler und Gebäude in der Stadt wurden zerstört, die kurdische Sprache, Kleidung und Musik ist verboten. An den Verwaltungsgebäuden hängen türkische Fahnen und Erdogans Konterfei, in den Schulen wird in Türkisch und Arabisch unterrichtet. Türkische Unternehmen sorgen für das Telefonnetz und haben zahlreiche Läden eröffnet, es gibt fast ausschließlich türkische Waren. Die Okkupationsarmee und ihre islamistischen Hilfstruppen haben die Häuser der Vertriebenen den Familien der Islamisten zur Verfügung gestellt. Aus dem umkämpften Idlib wurden bereits mehr als 160.000 Menschen nach Afrin gebracht, bei denen es sich meist um Kämpfer islamistischer Milizen und ihre Familien handelt. Um den Kanton vom restlichen Syrien abzutrennen, hat die Türkei mit dem Bau einer Mauer rund um Afrin begonnen. [5]

Wenngleich die Türkei im Rahmen des Abkommens mit der EU mehr syrische Flüchtlinge als jedes andere Land aufgenommen hat, instrumentalisiert sie das Erdogan-Regime für seine eigenen Zwecke. Drei Jahre lang wurde die Grenze zu Griechenland so streng überwacht, daß es im Schnitt nicht mehr als 80 Menschen am Tag schafften, eine Insel in der östlichen Ägäis zu erreichen. In jüngerer Zeit kommen täglich Hunderte Flüchtlinge dort an, was Ankara zweifellos gezielt als Druckmittel einsetzt. Die katastrophalen Zustände in den Insellagern werden seit langem als eine Schande für Europa bezeichnet, nun eskalieren sie binnen kurzer Fristen auf kaum vorstellbare Weise. Erdogan hat immer wieder damit gedroht, er werde die Grenzen öffnen, sollten seine Wünsche nicht von der EU erhört werden.

Bundesinnenminister Horst Seehofer, der als als erster hochrangiger deutsche Politiker in der aktuellen Situation nach Ankara gereist ist, schmierte dem Regime Honig um den Bart, um die Fortsetzung des Flüchtlingspakts sicherzustellen. Ohne die Türkei wären die Probleme mit der Migration so nicht bewältigt worden, das Land habe ganz Europa einen großen Dienst erwiesen. Die Leistung der Türkei werde in die Welthistorie eingehen, so Seehofer überschwenglich. Deutschland sei bereit, der Türkei, wo immer sie wolle, zu helfen. Dazu merkte sein türkischer Amtskollege Süleyman Soylu an, die Türkei habe ihre Verpflichtungen erfüllt. Die EU müsse nun im Hinblick auf die zugesagte finanzielle Unterstützung ihren Teil tun. [6] Deutschland und die EU sollen weiter zahlen, für die Abschottung gegen geflohene Menschen und nun auch den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und die ethnische Säuberung in Nordsyrien. Wie weit will die Bundesregierung in Kollaboration mit dem Erdogan-Regime noch gehen, um ihn als Waffenbruder in ihren eigenen Flüchtlingskriegen vorauszuschicken?


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/fluechtlingspolitik-in-istanbul-per-bus-zurueck-nach-syrien.795.de.html

[2] www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-syrien-kurden-usa-1.4630003

[3] www.focus.de/politik/ausland/weisses-haus-erklaert-us-truppen-in-syrien-ziehen-sich-von-tuerkischer-grenze-zurueck_id_11213651.html

[4] www.heise.de/tp/features/Erdogan-Wir-koennten-ploetzlich-eines-Nachts-kommen-4544889.html

[5] www.heise.de/tp/features/Von-Afrin-bis-nach-Deir-ez-Zor-Der-tuerkisch-sunnitische-Guertel-4546587.html

[6] www.deutschlandfunk.de/migration-seehofer-lobt-tuerkische-fluechtlingshilfe.1939.de.html

7. Oktober 2019


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