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KRIEG/1756: Nahost - gegen oder ohne Kurden ... (SB)



Was in Syrien und im Irak passiert, muss im Fokus unseres Sicherheitsinteresses stehen. Es gebieten unsere originären Sicherheitsinteressen, unsere deutschen, unsere europäischen Interessen, dass wir den Kampf gegen dieses verabscheuenswürdige Regime des IS fortsetzen. (...) Wir sind die stärkste Nation Europas. Wir sind derzeit im Sicherheitsrat. Wir haben mit der Bundeswehr eine der stärksten konventionellen Streitkräfte der westlichen Welt.
Johann Wadephul (Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion [1]

Der Gesellschaftsentwurf der Kurdinnen und Kurden in Nordsyrien, ein demokratischer Föderalismus für alle Menschen, die sich dem Aufbau in Selbstverwaltung anschließen wollen, ist jeglichen Groß- und Regionalmächten wie auch deren Milizen seit jeher ein Dorn im Auge. Er stellt ihren Herrschaftsanspruch in einem Maße in Frage, daß sie seine Zerstörung auf die Tagesordnung gesetzt haben und die Zeit für gekommen halten, zur vernichtenden Tat zu schreiten. Militärische Verdrängung der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten, Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und Ansiedlung syrischer Flüchtlinge im Grenzgebiet zur Türkei sollen im Zuge eines Angriffskriegs, Besatzungsregimes und einer ethnischen Säuberung die Existenz kurdischer Menschen, ihre Kultur und ihre Gesellschaft in dieser Region endgültig auslöschen. So sieht es der langgehegte Aggressionsplan Recep Tayyip Erdogans vor, so begrüßen es die an diesem Frontverlauf mit ihm paktierenden Regierungen aller Couleur über ihre sonstigen Differenzen und Machtkämpfe im Kriegsland Syrien hinweg.

Die bei der Bekämpfung des IS einzig erfolgreichen Bodentruppen haben mit 11.000 Opfern einen hohen Blutzoll entrichtet und aus Sicht der Zweckverbündeten ihre Schuldigkeit getan, so daß man sie nun ebenso bedenkenlos fallenläßt wie die Maske vorgeblicher Zusammenarbeit. Wie bedrängt die Lage der Kurdinnen und Kurden ist, unterstreichen Hunderttausende Menschen auf der Flucht, zudem zwei aktuelle Entwicklungen. Zum einen sind die kurdischen YPG/YPJ nach Angaben des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu kurz vor Ablauf einer Waffenruhe aus Nordsyrien abgezogen. Nun hätten dort syrische Grenztruppen und die russische Militärpolizei die Kontrolle übernommen. Generalmajor Juri Borenkow sagte laut einer Mitteilung des russischen Verteidigungsministeriums, die Kurden hätten insgesamt 34.000 Menschen aus der Pufferzone abgezogen und dabei 3.000 Waffen sowie Militärtechnik mitgenommen. [2]

Zum anderen nimmt in Genf unter dem Dach der Vereinten Nationen ein Ausschuß seine Arbeit auf, der eine neue Verfassung für Syrien ausarbeiten und so den Weg zu einer politischen Lösung ebnen soll. Da den Kurdinnen und Kurden auch auf diplomatischer Ebene ein Partner fehlt, werden sie an diesem Ausschuß nicht beteiligt sein. Wie aus diplomatischen Kreisen verlautet, habe die Türkei gegen ihre Vertreter ein Veto eingelegt. Wenngleich die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bis vor kurzem noch zwei Drittel des Landes kontrolliert haben und die Zukunft der gesamten kurdischen Bevölkerung unmittelbar von den Gesprächen in Genf betroffen ist, wird die kurdische Selbstverwaltung kurzerhand ausgeschlossen. Obwohl Kritiker aus diesem Grund die Arbeit des Ausschusses für aussichtslos erklären, scheinen unter internationaler Kollaboration die Würfel gefallen zu sein, daß die kurdische Stimme nirgendwo mehr Gehör finden soll. [3]

Wie es in einer Erklärung der SDK hieß, erfolge der Rückzug nach intensiven Diskussionen mit der russischen Führung im Einklang mit dem in der vergangenen Woche in Sotschi vereinbarten russisch-türkischen Memorandum, "um die türkische Aggression gegen Nordsyrien zu stoppen". Die syrische Regierung, deren Truppen den Grenzschutz übernahmen, begrüßte den Rückzug der SDK und erklärte, Ankara habe keine Legitimation mehr für weitere Angriffe auf Nordsyrien. [4] Gemäß der Vereinbarung von Sotschi behält die Türkei die direkte Kontrolle über einen 120 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Grenzabschnitt zwischen Ras al-Ain und Tal Abjad, den sie erobert hat. Das Grenzgebiet östlich und westlich davon soll nach dem Abzug der YPG/YPJ von der russischen Militärpolizei und der syrischen Armee kontrolliert werden. In einem zehn Kilometer breiten Streifen soll es russisch-türkische Patrouillen geben. [5]

Daß diese konfliktträchtige Aufteilung der okkupierten kurdischen Gebiete dauerhaft Bestand haben könnte, ist nicht anzunehmen. Zum einen setzen trotz der mit Moskau vereinbarten Waffenruhe die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldner die Angriffe auf syrische Dörfer fort. Zum anderen kommt es zwangsläufig zu Gefechten zwischen der Syrisch-Arabischen Armee und türkischen Besatzungstruppen. Die YPG/YPJ kooperieren mangels Alternativen militärisch insofern mit der Regierung in Damaskus, als sie die Truppen Baschar al-Assads in ihre Gebiete vorrücken lassen, um sich vor der türkischen Armee zu schützen. Dieses Zweckbündnis ist aus der Not geboren, zumal die syrische Regierung das gesamte Land wieder unter ihre Kontrolle bringen will und auch vor einem Feldzug gegen die kurdischen Verbände nicht zurückschrecken dürfte, sollte sich ihr die Chance bieten.

Fasziniert von der Vorstellung, in Syrien mitzumischen, fehlt es auch in Kreisen der Bundesregierung nicht an Stimmen, die Vorwandslage zu einem großen militärischen Sprung nach vorn zu nutzen. Getrieben von Ambitionen, Deutschland in aller Welt Geltung zu verschaffen, und zugleich von der Furcht, im Hauen und Stechen um Einflußsphären und Ressourcen abgehängt zu werden, oszilliert die Große Koalition zwischen aberwitzigen Vorstößen und angetäuschten Appellen zur Mäßigung, hinter denen derselbe expansive Drang hervorlugt. Man mag es Unterwürfigkeit, Geltungsdrang oder schlichtweg einen Schulterschluß unter Kumpanen nennen - jedenfalls dachte Bundesaußenminister Heiko Maas auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu in Ankara überhaupt nicht daran, den türkischen Einmarsch in Nordsyrien zu verurteilen. Statt dessen wies er den Vorschlag der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp- Karrenbauer zu einer "internationalen Schutzzone" als unrealistisch zurück, als sei die deutsch-türkische Männerfreundschaft der rechte Ort, zur Freude seines Gastgebers schmutzige Koalitionswäsche zu waschen.

Zudem erklärte Maas ausgerechnet in Ankara, daß der Kampf gegen den IS höchste Priorität genieße, als habe er noch nie von der langjährigen Kooperation zwischen der türkischen Führung und diesen dschihadistischen Milizen gehört. Da man dem deutschen Außenminister eine derartige Ignoranz eher nicht zutrauen mag, bleibt eigentlich nur der Schluß, daß er seinem Amtskollegen grünes Licht signalisiert hat, ungeachtet aller offiziellen Lippenbekenntnisse in punkto IS nur kräftig weiterzumachen wie bisher. Erdogan schickt die dschihadistischen Halsabschneider vor, um im Nachbarland alles abzuschlachten, was ihnen in die Quere kommt, sich unter den Nagel zu reißen, was ihnen gefällt, den Rest zu zerstören und das Ganze unter Scharia zu fassen. Sie machen all das, womit sich der türkische Machthaber nicht die Hände schmutzig machen will, und lösen die Massenflucht aus, auf die Erdogan setzt, selbst wenn die regulären türkischen Truppen auf Weisung aus Moskau in ihrem Vormarsch gebremst werden.

Unterdessen hat die Große Koalition den Kriegseinsatz der Bundeswehr im Irak und in Syrien, der offiziell bereits seit vier Jahren läuft, um weitere fünf Monate bis Ende März 2020 verlängert. Die Luftwaffe operiert mit Tornados und Tankflugzeugen vom jordanischen Militärstützpunkt in al-Azraq, und die Ausbildungsmission im Zentralirak und in der kurdischen Autonomieregion im Norden des Landes wurde sogar um ein weiteres Jahr bis zum 31. Oktober 2020 verlängert. Auch die Pläne von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, in Nordsyrien eine internationale Sicherheitszone mit bis zu 40.000 Soldaten unter deutsch-europäischer Führung einzurichten, sind trotz einsetzender Kritik an der Art und Weise ihres Vorpreschens keineswegs vom Tisch.

Medienberichten zufolge gehen deutsche Militärs von einem Szenario aus, das eine Zone in Sektoren von etwa 40 Kilometer Breite und 30 Kilometer Tiefe aufteilt. In einem dieser Sektoren könnten dann die Deutschen als sogenannte Rahmennation die Führung einer internationalen Truppe übernehmen und dafür selbst drei robuste Kampfbataillone, also etwa 2500 Soldaten stellen. Die Rede ist von einem kompletten Paket, das vom Kriegsgerät am Boden bis zur Luftunterstützung der eigenen Kampftruppen alles enthält, womit die Bundeswehr in Nordsyrien offensiv Flagge zeigen könnte.

Den Einpeitscher gibt der bereits eingangs zitierte Wadephul, wenn er warnt, daß sich die USA auf dem Rückzug befinden und "ihre Verantwortung als Weltpolizist" und "Bewahrer westlicher Interessen" nicht mehr wahrnehmen. Die Debatte habe 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit Beiträgen des damaligen Bundespräsidenten, des Außenministers und der Verteidigungsministerin begonnen. "Wir als Deutsche wissen: Wir müssen bei derartigen Krisen mehr Verantwortung übernehmen." Die Schlußfolgerung in Wadephuls Sinn kann nur lauten: Die EU muß unter deutscher Führung die USA künftig als Weltpolizist ersetzen. Daß das Verhängnis der Kurdinnen und Kurden in solchen Großmachtphantasien nicht einmal mehr als fadenscheiniger Vorwand auftaucht, liegt in der Natur eines Raubzugs, der mit Wirtschaftsmacht und Waffengewalt die deutschen Töpfe und Taschen füllt.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2019/10/30/syri-o30.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/366104.moskau-meldet-abzug-der-ypg-aus-nordsyrien.html

[3] www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_86708266/syrien-die-zukunft-der-syrischen-kurden-ist-ungewiss.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/365549.syrien-kalif-von-ankaras-gnaden.html

[5] www.zeit.de/politik/ausland/2019-10/nordsyrien-tuerkei-kurden-abzug-russland-patrouillen-gefechte-truppen-militaer-tote

30. Oktober 2019


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