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KRIEG/1804: Europagespitzter Ukrainekrieg ... (SB)



"Angesichts dieser dramatischen Lage sollten wir nicht auf die Trump-Administration warten, sondern die Ukraine jetzt deutlich stärker militärisch, humanitär und finanziell unterstützen. Nur so können wir als EU gemeinsam Putin mit Stärke entgegentreten."
Anton Hofreiter (kriegstreibender Vorsitzender des Europaausschusses) [1]

Deutschland führt abermals Krieg gegen Russland. Wenngleich Geschwindigkeit und Ausmaß der Eskalation noch umstritten sind, herrscht doch weithin Einigkeit darüber, dass Putin besiegt werden müsse. Dazu bedarf es eines massiven westlichen Bündnisses, dessen inneren Konflikte die Bundesrepublik umso mehr dazu veranlassen, auch militärisch eine Führungsrolle anzustreben.

Während die erhoffte Beute des Raubzugs gen Osten vorerst noch in den Sternen steht, zeichnet sich der Ertrag an der Heimatfront längst in aller Deutlichkeit ab. Angesichts wirtschaftlicher Einbrüche und sozialer Verwerfungen nicht auszuschließende Widerstände werden für nachrangig erklärt und gebrochen, gilt es doch mit vereinten Kräften aufzurüsten und die Reihen gegen den äußeren Feind zu schließen, dessen Dämonisierung keinen Widerspruch duldet.

So mündet das Scheitern an den weltweit hereinbrechenden Katastrophen in Gestalt dramatischer Klimaveränderungen, eskalierender ökonomischer Krisen und entufernder sozialer Verheerungen in den Vernichtungskrieg, als sei das Zündeln am Weltenbrand ein unabweislicher Befreiungs- und Erlösungsakt, der alle Hemmnisse zertrümmert und aus der Asche neues Leben und Glück sprießen lässt.


Stilisierte Graphik: Rote Blumen und Grün sprießen inmitten zahlreicher schwarzer Grabkreuze - © 2024 by Schattenblick

... aus der Asche neues Leben und Glück ...
Graphik: © 2024 by Schattenblick

Wer ist mein Bruder, wer meine Schwester?

Wer sich dem Herrschaftsdenken verschreibt, im Herzen des eurasischen Kontinents ein großes Schachbrett zu fantasieren, auf dem die erbittert rivalisierenden Weltmächte im Streit um den Endsieg ihre finalen Züge ausführen, schert sich nicht um ein paar hunderttausende niedergemetzelte, verstümmelte, verelendete, traumatisierte Bauernopfer mehr - solange es nur das Fußvolk der Ukrainer oder Russen trifft. All die großen und kleinen Kriegstreiber, die tagtäglich die Waffengewalt beschwören, um die Gegenseite vernichtend niederzuwerfen, denken nicht im Traum daran, selber im Schützengraben zu verrecken. Viel angenehmer lässt es sich da doch an, als selbsternannte Rüstungsexperten, Feldherren oder Globalstrategen mit schwellendem Kamm Vernichtungsfantasien auszuleben und auf vaterlandslose Gesellen einzuprügeln. Nichts zählt so sehr, als sich um die eigenen Farben und Fahnen zu scharen, scharfen Blickes nach drüben zu starren und allen Zweifeln und Skrupeln zu entsagen.

Ich kenne kein Oben und Unten, keine Ausbeuter und Ausgebeuteten, keine Verfügungsgewalt und Unterworfenen mehr, sondern nur noch Deutschland, wird ein monolithisch imaginierter Staat zum Zweck der Kriegführung nationalistisch aufgeladen. Und da andere Nationalstaaten das zwangsläufig ihrerseits praktizieren, heißt es plötzlich, dass Russland die Ukraine angegriffen habe, weshalb der Westen nicht tatenlos zuschauen dürfe, als seien es Landstriche oder Himmelsrichtungen, die in Raserei verfallen und einander an die Gurgel gehen. Warum spricht man nicht besser von zwei konkurrierenden oligarchischen Regimen, von beiderseitigen imperialistischen Expansionsgelüsten, von Raubzügen um Bodenschätze und menschliche Arbeitskraft und vielen weiteren aufschlussreichen Denkansätzen mehr, die dazu beitragen könnten, diese Gemengelage mit der Stoßrichtung zu entwirren, wie der Krieg auf schnellstmögliche Weise mit einem Waffenstillstand gebremst und nachfolgenden Friedensverhandlungen der Weg geebnet werden könnte?

Dies würde womöglich sogar die Ahnung beflügeln, dass die Opfer auf beiden Seiten der Front einander in ihrem Leiden und Sterben viel näherstehen als ihren jeweiligen Herren mit und ohne Uniform. Dass der Feind in den Reihen und Rängen vielgestaltiger Nutznießer solcher Feldzüge auszumachen ist, die sich hier wie dort Hände reibend am zermalmenden Werk der Umwälzung ergötzen, von der sie zu profitieren hoffen. Dass es also in Krieg oder Frieden zumeist dieselben sind, die für andere schuften und dabei draufgehen. Dass mithin der Frieden nur eine Fortsetzung des Krieges ist, dessen offene Waffengewalt in andere Weltregionen ausgelagert wird. Und mehr noch: Dass der Schmerz niemals endet, solange man meint, ihn zu lindern, indem man dem anderen Schmerzen zufügt.

Legt den Herren des Blutflusses das Handwerk!

Sprechen wir also von den Toten, Verwundeten, Verelendeten dieses Krieges, nicht zuletzt auch von denen, die ihn auf die eine oder andere Weise fliehen, um nicht nach wenigen Tagen oder Wochen an der Front in irgendeinem Erdloch oder Trümmerfeld zerfetzt auszubluten. Es dürfte selbst nach Kriegsende wohl noch Jahre dauern, bis belastbare Opferzahlen vorliegen und dies nicht nur deshalb, weil die Verschleierung der eigenen und die Überhöhung der feindlichen Verluste integraler Bestandteil der beiderseitigen Kriegspropaganda ist. Träte das monströse Ausmaß der Gräuel sofort und für alle fassbar zu Tage, könnte dies dazu führen, dass die Befürwortung des fortgesetzten Gemetzels in den Keller sackt und der Ruf nach seinem unverzüglichen Ende nicht mehr zum Schweigen gebracht werden kann.

Laut einem Bericht des Economist vom 26. November 2024, der sich auf Geheimdienstquellen beruft, könnten seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 auf ukrainischer Seite zwischen 60.000 und 100.000 Soldaten gefallen sein. Das wären mehr als 0,5 Prozent der männlichen Bevölkerung im wehrfähigen Alter. Weitere 400.000 Soldaten könnten zu schwer verletzt sein, um weiterzukämpfen. Auf russischer Seite sind die Zahlen offenbar noch drastischer. Der Economist bezifferte die Gesamtzahl der gefallenen, verwundeten und gefangenen russischen Soldaten bis Mitte Juni 2024 auf 462.000 bis 728.000. [2]

Das Wall Street Journal schätzt, dass sich 44.000 Ukrainer im wehrfähigen Alter heimlich in andere Länder abgesetzt haben. Die Kyiv Post berichtet, dass seit Kriegsbeginn rund 60.000 Anklagen wegen Fahnenflucht erhoben worden sind. Tausende weitere dürften sich der Festnahme entzogen haben. Die Eurasian Review beschreibt die Lage an der Front auf ukrainischer Seite als desaströs und verzweifelt. Es fehle an Waffen und Munition, vor allem aber an notwendiger Verstärkung, weshalb die Soldaten so erschöpft und demoralisiert seien, dass sie in wachsender Zahl desertierten. [3]

In großer Sorge, dass dem vorgeschobenen Schlachtopfer im Stellvertreterkrieg ein existenzielles Rekrutierungsproblem drohe, schlägt die scheidende US-Regierung von Präsident Joe Biden zynisch vor, die Ukraine solle das Alter der Wehrpflicht von 25 auf 18 Jahre senken. Da nicht mehr genügend Soldaten mobilisiert und ausgebildet würden, um Verluste zu ersetzen und mit Russlands wachsender Truppenstärke Schritt zu halten, sei dies ein praktikabler Ansatz, die derzeit etwa 160.000 fehlenden Soldaten zu kompensieren. Die ukrainische Regierung weist dieses Ansinnen jedoch zurück, zumal sie das Wehrpflichtalter bereits einmal von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt hat. [4]

Im Massenschlachten sind sich die beiderseitigen Produzenten menschlichen Kanonenfutters zwangsläufig bewusst, wie rasch der Nachschub versiegen könnte, sollte die Siegesgewissheit und Zustimmung in der Bevölkerung in anwachsendes Aufbegehren gegen das Opfern eigenen Fleisches und Blutes umschlagen. Deshalb hat die Führung in Moskau eine allgemeine Mobilisierung vermieden und greift auf Rekrutierungen in östlichen Landesteilen, Strafgefangene, Schuldner, ausländische Söldner oder zuletzt nordkoreanische Soldaten zurück. In der Ukraine macht man regelrecht Jagd auf mutmaßliche Drückeberger, um sie an Ort und Stelle der Zwangsrekrutierung zuzuführen, hütet sich aber angesichts dramatisch sinkenden Zuspruchs zu einem Kampf bis zum kaum noch vorstellbaren Sieg davor, die Schraube der Wehrpflicht noch enger zu ziehen, zumal der dramatische Bevölkerungsschwund längst zu einem Mangel an Arbeitskräften geführt hat.

Leidtragend ist auch die Zivilbevölkerung insbesondere in der Ukraine, deren Infrastruktur mit jedem weiteren Kriegstag derart verwüstet wird, dass die mutmaßlichen Kosten des Wiederaufbaus in astronomische Sphären anwachsen. Der dritte Kriegswinter verläuft für Millionen Menschen katastrophal, die Dunkelheit und Kälte ausgesetzt sind. Die durchschnittlichen Temperaturen liegen von Dezember bis März zwischen zwei und minus fünf Grad, können aber bis unter minus 20 Grad fallen. Nach massiven russischen Luftangriffen sind inzwischen über das ganze Land verteilt eine Million Menschen von der Stromversorgung und zumeist auch der Fernwärme abgeschnitten. Inzwischen wurden 65 Prozent der ukrainischen Energieproduktion zerstört, der Stromverbrauch von Privathaushalten sank um 20 und in der Industrie sogar um 50 Prozent. Wenngleich die Ukraine inzwischen an das europäische Stromnetz angeschlossen worden ist und die Verbündeten inzwischen rund zwei Milliarden Euro für das Energienetz beigesteuert haben, verbleibt ein beträchtliches Defizit bei der Stromerzeugung. [5]

Wie viele Menschen sollen noch sterben, wie sehr soll das Land noch verwüstet werden, bevor den fern des entsetzlichen Schlachtgetümmels thronenden Herren und Einpeitschern des Blutflusses das Handwerk gelegt wird?

Deutsche Militarisierung entfesselt

Wenngleich in hasstriefendem Furor das Gegenteil behauptet und Putin samt dem Russen an sich zum Zweck seiner notwendigen Vernichtung entmenschlicht wird, lässt sich nicht unterschlagen, wie dankbar ihm die so lange ausgebremsten deutschen Militaristen für seine Steilvorlage sein müssen. Was über Jahrzehnte nur mühselig angeschoben werden konnte und immer wieder zähneknirschend angebremst werden musste, da bei überstürztem Stiefelgetrampel im Gleichschritt Volkes Unmut drohte, hat nun freie Bahn, da seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine alle Dämme gebrochen sind. Als habe es nie zwei Weltkriege unter maßgeblich deutscher Entfesselung mit den bekannten Folgen gegeben, wird der dritte billigend bis vorantreibend in Kauf genommen, wenn abermals der Endsieg zu locken scheint. Nun heißt es aufrüsten, kriegstüchtig werden und ansonsten das Pazifistenmaul halten.

Olaf Scholz mit der Zeitenwende, dem 100 Millionen-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr und der Stationierung von Mittelstreckenraketen schreitet vorerst voran, indem er gleichzeitig beschleunigt und bremst. Das klingt absurd und wird ihm erbost zur Last gelegt, erweist sich aber insofern als logisch, wenn man denn gegen Russland Krieg führt und dabei vorgibt, man habe damit nichts zu tun, so dass Deutschland deswegen nicht im Gegenzug selbst angegriffen wird. Man könnte wohl von einer Form bauernschlauer Diplomatie sprechen, dem Feind zu signalisieren, dass natürlich beide Bescheid wissen, aber Gesicht wahrend Unwissenheit über die wahren Absichten vortäuschen können. Deshalb ist er abermals SPD-Frontmann geworden und nicht Boris Pistorius, den merkwürdigerweise viele hoch schätzen, obwohl er unverhohlen behauptet, dass der Krieg unweigerlich auch zu uns kommt, weshalb wir uns zügig darauf vorbereiten sollten. "Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein", fordert der alte und wohl auch künftige Verteidigungsminister.

Warum ausgerechnet 2029? Weil das Orakel gesprochen und prophezeit hat, dass der Russe dann so weit sein werde, einzelne NATO-Staaten anzugreifen. So bestätigt der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, dass derzeit zwar noch keine Hinweise zu konkreten Kriegsabsichten Russlands vorlägen. Wenn aber im Kreml solche Pläne überhandnähmen, so des Schlapphuts Zirkelschluss, wachse in den kommenden Jahren das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung. Moskau werde vor einem möglichen Kriegsbeginn versuchen, die NATO zu spalten, indem es etwa einzelne Mitgliedsländer auf seine Seite ziehe. Putin werde rote Linien des Westens austesten und weiter eskalieren. [6] Wie gut, dass es geheime Quellen gibt, welche die Ruhe als Vorbote des kommenden Sturms zu deuten wissen und präventive Konsequenzen anmahnen!

Dazu muss die Gesellschaft in einem Maße umgekrempelt werden wie seit Gründung der Bundesrepublik nicht mehr. Die sündhaft teure Aufrüstung kann nur zu Lasten des Sozialstaates finanziert werden, dessen Abbau rigoros vorangetrieben wird. Das 2-Prozent-Ziel der NATO, nämlich diesen Anteil am BIP in die Waffengewalt zu investieren, wird nicht länger als ferne Zielvorgabe, sondern selbstverständliche Untergrenze deutscher Stärke gehandelt. Auch gilt es zu bedenken, dass die Bundesrepublik bereits bei NATO-Manövern Drehscheibe für zehntausende Soldaten ist, die samt enormem Kriegsmaterial nach Osten transportiert werden. Ein im Detail geheimer "Operationsplan Deutschland" aus dem Territorialen Führungskommando der Bundeswehr listet beispielsweise alle Bauwerke und Infrastruktureinrichtungen auf, die für das Militär besonders schützenswert sind, und enthält konkrete Planungen, wie im Normal-, Spannungs- oder Verteidigungsfall vorgegangen werden soll. Des Weiteren stellen Bundeswehr und Zivilbehörden in mehrtägigen Stresstests ihre gemeinsamen Führungsstrukturen auf den Prüfstand, um das proklamierte Vorfeld des Kriegsfalls zu beackern. [7]

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BKK) steuert einen Bunkerschutzplan für Deutschland bei, in dem es zunächst prüft, welche öffentlichen Gebäude im Bedarfsfall zu Schutzräumen umgebaut werden könnten. Zudem soll eine spezielle Handy-App entwickelt werden, mit der die Bürgerinnen und Bürger die Entfernung zum nächsten Bunker ermitteln können. Auch soll die Bevölkerung ermuntert werden, selbst Schutzräume einzurichten. Beispielhaft ferner das bayerische Bundeswehrgesetz, das Universitäten die Zusammenarbeit mit dem Militär vorschreibt, Zivilklauseln untersagt und verfügt, dass sich Schulen für Jugendoffiziere und militärische Karriereberater öffnen müssen. Entsprechende Vorstöße gibt es auch auf Bundesebene.

Pistorius dringt auf eine zügige Umsetzung der Wehrdienstreform, um wieder eine Wehrerfassung und eine Wehrüberwachung einzuführen. Schließlich wolle man wissen, wer mobilisiert werden könnte, wenn morgen der Verteidigungsfall einträte. Auch habe man nur sehr eingeschränkte Informationen über die 800.000 bis 900.000 Männer und Frauen, die Wehrdienst geleistet haben. Kernbestandteil des Vorhabens ist, dass junge Männer wieder auf ihre Eignung zum Wehrdienst hin erfasst werden sollen, um mehr Personal für die Bundeswehr rekrutieren zu können. CDU-Chef Friedrich Merz gibt sich optimistisch, als künftiger Kanzler per Grundgesetzänderung eine allgemeine Dienstpflicht auch unter Einschluss junger Frauen erwirken zu können. Die Grünen wollen dem Vernehmen nach den freiwilligen Wehrdienst attraktiver gestalten, halten aber auch "gewisse Pflichtanteile" für zumutbar. [8]

Die Bundesregierung bietet der NATO an, erneut PATRIOT-Systeme nach Polen zu entsenden, wo sie als Luftabwehr einen logistischen Knotenpunkt schützen, der für die Lieferung von Material an die Ukraine von zentraler Bedeutung ist, und zudem den NATO-Luftraum sichern sollen. Die Ukraine soll Portion für Portion insgesamt 4000 bewaffnete Drohnen aus deutscher Produktion erhalten, die offenbar mit Künstlicher Intelligenz ausgerüstet sind. [9]

Die globale Rüstungsindustrie boomt wie nie zuvor, was auch für die deutschen Unternehmen der todbringenden Branche gilt. Die vier umsatzstärksten Firmen Rheinmetall, ThyssenKrupp, Hensoldt und Diehl konnten 2023 ihre Einnahmen zusammengerechnet auf 10,7 Milliarden US-Dollar steigern, ein Plus von 7,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Platzhirsch Rheinmetall hat seit Beginn des Ukrainekriegs mit Panzer- und Munitionsaufträgen seinen Aktienwert um das Fünffache gesteigert, seine Auftragsbücher sind mit einem Gesamtwert von über 50 Milliarden Euro bestens gefüllt. [10]

EU lässt die Muskeln spielen

Soll der deutsche Führungsanspruch auch in punkto Waffengewalt europaweit durchgesetzt werden, bedarf es natürlich seiner Einbettung in eine insgesamt aufrüstende EU, die in ihrer Adventszeit hoffend bis bangend Trumps Wiederkehr erwartet. Lässt er uns hängen, machen wir's eben allein, setzt man trotzig all das auf die säbelrasselnde Tagesordnung, was man schon immer wollte, nur eben nicht so schnell und durch einen Tritt ins Hinterteil erzwungen. Die Führungsriege in Brüssel halluziniert einen militaristischen Befreiungsschlag, der den Gordischen Knoten ökonomischer Verwerfungen und eskalierender Zerwürfnisse mit scharfem Schwertstreich durchtrennen soll, auf dass wieder goldene Zeiten globaler Geltungsmacht anbrechen.

Die EU-Kommission will zu diesem Zweck den Draghi-Report umsetzen, dessen Kapitel "Verteidigung" die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten als Teil umfassender Bemühungen vorsieht, Wettbewerbsfähigkeit und Autonomie zu sichern. So wird ein angeblicher Mangel an militärischem Potential im Bericht mit Wettbewerbsnachteilen gegenüber den USA und China assoziiert. Militarisierung preist er als Investitionsmotor an, da Rüstungsinitiativen mit industriellen und technologischen Zielen verknüpft werden könnten. Der bellizistische Fiebertraum schwärmt von einer Kriegsmaschine, die zu betreiben verloren gegangene Wachstums- und Wohlstandskräfte wiederbeleben werde. [11]

Parallel dazu ist eine "Koalition der Willigen" als Option auf dem Tisch, nämlich die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine. Die baltischen Staaten reden schon lange davon, im Februar hatte Emmanuel Macron diese Idee seinerseits aufgebracht, da "in der Dynamik des Krieges" nichts ausgeschlossen werden dürfe. Nun hat Paris mit der Forderung nachgelegt, dass es bei der Unterstützung der Ukraine "keine roten Linien" geben sollte. Die britische Labourregierung zieht sich vorerst auf die Position zurück, keine Truppen in das Einsatzgebiet zu entsenden, wohl aber weiterhin Ausbildungsmaßnahmen durchzuführen, wie das bereits seit 2014 der Fall ist. Es dürfte kein Geheimnis sein, dass britische und US-amerikanische Militärberater im Land sind, doch würde eine offizielle Entsendung westlicher Truppen die Spirale der Eskalation zwangsläufig weiterdrehen.

Zündeln am atomaren Weltenbrand

Soviel ist klar: Wäre Russland keine Atommacht, stünden längst Truppen der NATO in der Ukraine, wenn nicht gar vor Moskau, um den langgehegten Traum von der Zerschlagung und Einverleibung des riesigen Reiches endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Da aber die einzige Antwort im Raum steht, die westliche Eliten tatsächlich zu fürchten haben, da sie selbst getroffen werden könnten, treiben sie ihren Gegner Zug um Zug in die Enge, wobei sie in halsbrecherischer Fehleinschätzung eigener Kontrollmöglichkeiten darauf spekulieren, dass die feindlichen Atomraketen im Silo bleiben. Das Chicken Game, wie es in sträflich euphemistischer Anwendung auf dieses Endzeitszenario heißt, geht so: Zwei Autos rasen aufeinander zu, bis einer der beiden Fahrer die Nerven verliert und im letzten Moment ausweicht, worauf der andere gewonnen hat. Einer von ihnen ist also der Feigling, wobei es durchaus vorkommt, dass keiner nachgibt und beide über den Jordan gehen.

Es liegt in der Natur dieses wahnwitzigen Todesrennens, dass der Gegner wahlweise als psychopathisches Monster dämonisiert oder als aufgeblasener Schwächling verhöhnt wird. Ob Russland schon morgen unter dem Druck westlicher Sanktionen und Unterstützungsleistungen für die Ukraine zusammenbricht oder Putins Truppen im Gegenteil übermorgen die NATO-Staaten angreifen, wie es wechselweise heißt, sind zwei Seiten derselben Medaille einer auf die Spitze getriebenen Schizophrenie namens Krieg. Um die Opfer im Feld und an der Heimatfront anzustacheln, ihr Wohlergehen, wenn nicht gar Leben preiszugeben, muss der Feind als abzuschlachtender Unmensch verteufelt, doch zugleich zum leicht besiegbaren Tölpel degradiert werden. Russlands Präsident ist folglich in einem Augenblick ein alles verschlingendes Ungeheuer, das vor keinem Gewaltakt zurückschreckt, und im nächsten ein durchschaubarer Hochstapler, dessen Drohungen mit der Atomkeule niemand ernst zu nehmen braucht.

Die westlichen Verbündeten haben die Ukraine seit Kriegsbeginn mit immer schwereren und weitreichenderen Waffen versorgt. So wurden nach und nach Panzer, Kampfflugzeuge und schließlich sogar Raketen und Marschflugkörper großer Reichweite ins Kriegsgebiet geliefert, zuletzt samt der Erlaubnis, Ziele tief in Russland anzugreifen. Daraufhin hat Putin die Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen gesenkt und behält sich nun das Recht vor, mit Atomsprengköpfen zu antworten, wenn der Einsatz konventioneller Waffen eine kritische Bedrohung für Souveränität und territoriale Integrität seines Landes darstellt. Ex-Präsident Dmitri Medwedew warnte, ein ukrainischer Angriff mit NATO-Waffen auf Russland könne jetzt als Angriff der NATO gewertet werden und einen atomaren Vergeltungsschlag gegen Kiew und die wichtigsten NATO-Einrichtungen nach sich ziehen.

Damit unterscheidet sich die neue russische Atomdoktrin in zwei wesentlichen Punkten von der vorherigen Version aus dem Jahr 2020:

1. Sie sieht die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes gegen ein Land mit Atomwaffen vor, das selbst keinen direkten Angriff auf Russland ausführt, aber einen solchen durch ein Land ohne Atomwaffen unterstützt. Dies zielt klar auf die Ukraine und deren nuklear bewaffnete Unterstützer unter Führung der USA ab.

2. Sie senkt die Schwelle für einen Atomwaffeneinsatz als Antwort auf einen konventionellen Angriff. Während die bisherige Doktrin dafür eine Bedrohung "der Existenz des Staates" voraussetzte, reicht nun eine "kritische Bedrohung" der russischen Souveränität. [12]

Der Kreml bringt somit eine höhere, wenn nicht gar letztmögliche Stufe der Abschreckung in Anschlag, auf die im Falle weiterer Eskalation nur noch der tatsächliche Einsatz taktischer Atomwaffen folgen kann. Dies würde zu einem westlichen Gegenschlag mit gleichen Mitteln führen, worauf höchstwahrscheinlich strategische Atomwaffen zum Einsatz kämen. Das nukleare Inferno in Europa wäre die zwangsläufige Folge.

In Moskau macht man sich gewiss keine Illusionen darüber, dass es den USA und der EU nicht in erster Linie um die Ukraine geht, die in diesem Stellvertreterkrieg vielmehr als Mittel zum Zweck der Schwächung und Erschöpfung Russlands in Stellung gebracht wird. So wenig die NATO-Staaten feindliche Marschflugkörper an ihren Grenzen dulden, die binnen weniger Minuten ihre Hauptstädte erreichen könnten, so wenig kann die russische Regierung dies im umgekehrten Sinne hinnehmen. Deshalb spielt der räumliche Faktor auch in Zeiten moderner Kriegführung eine wesentliche Rolle. Die veränderte Atomdoktrin dürfte von einer erhöhten Besorgnis Moskaus angesichts der nicht von der Hand zu weisenden Befürchtung zeugen, dass die schrittweise Eskalation des Konflikts um die Ukraine relativ kurzfristig in einen direkten Angriff auf Russland übergehen könnte.

Schlafwandelnd in den nächsten Weltkrieg?

Das Europaparlament hat eine Resolution zur Unterstützung der Ukraine verabschiedet, deren Inhalt einem Aufruf zum Dritten Weltkrieg gleicht. Das Papier mit dem martialisch anmutenden Titel "Verstärkung der unerschütterlichen Unterstützung der EU für die Ukraine gegen Russlands Angriffskrieg und die zunehmende militärische Zusammenarbeit zwischen Nordkorea und Russland" wurde mit einer Mehrheit aus Konservativen, Sozialisten, Liberalen und Grünen angenommen. Wie es darin heißt, würden die Drohungen Russlands, auf Angriffe mit Nuklearschlägen zu reagieren, die EU keinesfalls davon abhalten, der Ukraine weiterhin militärisch unter die Arme zu greifen. Gefordert werden die sofortige Lieferung von Kampfflugzeugen und Langstrecken-Marschflugkörpern einschließlich der deutschen vom Typ Taurus. Dabei sieht die Resolution keinerlei Einschränkungen für den Einsatz dieser Waffen vor, so dass ganz Russland zum Ziel erklärt werden könnte.

Dass Frankreich (SCALP), das Vereinigte Königreich (Storm Shadow) und die USA (ATACMS) ihre Marschflugkörper bereits für Angriffe auf russisches Gebiet freigegeben haben, wird lobend hervorgehoben. Nicht erwähnt wird hingegen, dass diese hochkomplexen Waffensysteme in der Regel von NATO-Soldaten bedient werden müssen und dies somit eine direkte NATO-Beteiligung bedeuten würde. Auch die möglichen Reaktionen Russlands auf eine solche Eskalation bleiben unerwähnt. Eines fehlt gänzlich in dieser Resolution: ein Ansatz für eine friedliche Lösung des Konflikts. Mit keinem Wort ist von diplomatischen Schritten oder Verhandlungen die Rede. Gefordert wird vielmehr der Sieg über Russland - koste es, was es wolle.

Von der akuten Gefahr, dass ein direkter NATO-Angriff auf Russland einen mit Atomwaffen ausgetragenen Dritten Weltkrieg auslösen könnte, findet sich in der Resolution kein Wort. Ebenso wenig wird thematisiert, dass ein solcher Krieg zwangsläufig auf europäischem Boden ausgetragen würde, was dessen Verwüstung und Millionen Tote zur Folge hätte. Dieses Dokument voller Hass und Hysterie zeugt von bestürzender Verantwortungslosigkeit und fehlender Empathie für die Opfer des Krieges. [13]

Angesichts der relativen Bedeutungslosigkeit des Europäischen Parlaments wird diese Resolution glücklicherweise kaum direkte politische Auswirkungen auf den Ukrainekrieg haben, zumal es ohnehin der EU-Kommission vorbehalten ist, den stramm militaristischen Kurs zu forcieren. Es drängt sich indessen die Frage auf, ob die Abgeordneten jeden Bezug zur Realität außerhalb ihrer Institution verloren haben. Und schlimmer noch: Alles deutet darauf hin, dass sie nicht etwa desinformiert sind oder lediglich versagen, sondern vielmehr sehenden Auges trotz aller Gefahren zum großen Krieg trommeln.

Die Stimmungslage im Westen wird vielfach mit jener im Vorfeld des Ersten Weltkriegs verglichen, als die Völker Europas angeblich schlafwandelnd in die katastrophale Zerstörung getaumelt sind. Wenngleich man anhand der aktuellen Entwicklung durchaus nachvollziehen kann, warum damals der Krieg nicht verhindert wurde, wäre es doch verfehlt, das Bild eines Schlafwandelns zu missbrauchen, als habe im Grunde niemand gewusst und gewollt, dass es zum Massenschlachten käme. Und wer könnte heute allen Ernstes behaupten, ungeachtet tagtäglicher Berichte vom Krieg auf allen Kanälen keine Ahnung davon zu haben, wie unter wechselseitiger Bezichtigung todbringende Kräfte geschmiedet und freigesetzt werden?

Wollte man dennoch von einer fundamentalen Fehleinschätzung sprechen, so insbesondere in der Hinsicht, den absichtlich befeuerten Krieg mit Kontrollgewinn zu verwechseln. Was immer dabei auch geplant, beschlossen, angeordnet und exerziert werden mag, also höchst sorgsam und koordiniert von sogenannten Experten aller Couleur an- und umgesetzt wird, mündet in eine entsetzliche, alles zertrümmernde und zerfetzende Explosion, die keiner der prominenten Kriegstreiber oder massenhaft namenlosen Mitläufer auch nur im Entferntesten zu ermessen, geschweige denn einzuhegen vermag. Ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, gebiert die uralte Maxime menschlichen Überlebens zu Lasten der eigenen Art abermals ihren Blutrausch auf dem Schlachtfeld, diesmal jedoch mit der drohenden Auslöschung der Menschheit im atomaren Feuer vor Augen.


Fußnoten:

[1] https://www.rnd.de/politik/westliche-bodentruppen-in-der-ukraine-die-deutsche-debatte-nimmt-einen-anderen-verlauf-PRIY75H5YFGPLOXHACR5MJJTE4.html

[2] https://www.telepolis.de/features/Regierungseffizienz-a-la-Musk-Keine-Milliarden-fuer-die-Ukraine-10179873.html

[3] https://www.counterpunch.org/2024/11/29/mass-desertions-over-radiation-could-end-the-war-in-ukraine/

[4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-wehrpflichtalter-usa-100.html

[5] https://www.t-online.de/nachrichten/ukraine/id_100540396/ukraine-russland-greift-energieinfrastruktur-an-das-steckt-dahinter.html

[6] https://www.deutschlandfunk.de/kahl-russland-wahrscheinlich-ende-des-jahrzehnts-in-der-lage-den-westen-anzugreifen-104.html

[7] https://www.jungewelt.de/artikel/488191.bundeswehrschulung-bevor-der-russe-kommt.html

[8] https://www.telepolis.de/features/Merz-macht-mobil-Wie-der-CDU-Chef-Deutschlands-Toechter-fuer-die-Armee-verpflichten-will-10178901.html

[9] https://www.faz.net/aktuell/politik/ukraine/wie-koennen-die-deutschen-ki-drohnen-der-ukraine-helfen-110118920.html

[10] https://www.telepolis.de/features/Ruestungsindustrie-2024-Bombengeschaefte-in-Kriegszeiten-10185947.html

[11] https://www.telepolis.de/features/EU-Kriegswirtschaft-2-0-Wenn-Panzer-die-Wirtschaft-retten-sollen-10186195.html

[12] https://www.telepolis.de/features/Atomkrieg-wegen-ATACMS-Moskau-senkt-Schwelle-fuer-Atomwaffeneinsatz-auch-in-Europa-10067494.html

[13] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/ukraine-krieg-neue-eu-resolution-bringt-europa-an-den-rand-des-dritten-weltkriegs-li.2276728


8. Dezember 2024

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 182 vom 21. Dezember 2024


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