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FLUCHT/027: Irak - Auch die Jünger von Johannes dem Täufer auf der Flucht vor dem IS (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. November 2014

Irak: Auch die Jünger von Johannes dem Täufer auf der Flucht vor dem IS

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Taufen am Ufer des Tigris gehören zu den letzten verbliebenen Ritualen der Mandäer
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Kirkuk, Irak, 10. November (IPS) - "Nach Hause zurückkehren? Das wäre Selbstmord. Die Islamisten würden uns sofort die Kehle durchschneiden", sagt Khalil Hafif Ismam, ein irakischer Mandäer. Der Enddreißiger gehört einer Glaubensgemeinschaft an, die zu den ältesten und gefährdetsten in Mesopotamien zählt.

Ismam ist aus Baiji 230 Kilometer nördlich der irakischen Hauptstadt Bagdad geflohen. "Wir hatten ein Haus und zwei Schmuckgeschäfte. Doch als die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Juni in das Gebiet einrückte, mussten wir schleunigst verschwinden", berichtet er. Mit seiner Mutter und der Familie seines Bruders harrt er derzeit auf dem Gelände des Rates der Mandäer in Kirkuk, etwa 100 Kilometer östlich von Baiji, aus.

Historikern zufolge lässt sich die Existenz der religiösen Minderheit der Mandäer, die Johannes den Täufer als ihren Propheten verehren, bis 400 v. Chr. zurückverfolgen. Das wichtigste Ritual dieser monotheistischen Glaubensgruppe ist die Taufe, die seit fast 2.000 Jahren an den immer gleichen Uferstellen des Euphrat und Tigris vollzogen wird.

Im 16. Jahrhundert versuchten portugiesische Missionare, die Mandäer in Basra im Süden des Iraks zum christlichen Glauben zu bekehren. Junge Angehörige der Religionsgruppe wurden in weit entfernte portugiesische Kolonien wie Sri Lanka verschickt oder verschleppt, um sie dort zu evangelisieren. Sie wurden die 'Christen des heiligen Johannes' genannt, obwohl sie sich stets vom Christentum, Judentum und Islam distanzierten.


Mehrfach vertrieben

Khalil Ismam und sein Bruder sind Silberschmiede aus dem Süden des Iraks. Wie die beiden im Gespräch berichten, kamen sie in den 1980er Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben nach Bagdad. Nach dem ersten Golfkrieg 1991 sahen sie sich zur Flucht gezwungen und zogen nach Baiji. Seit sie von dort weg mussten, ist ihr Schicksal ungewiss.

"Der Rat hat uns mitgeteilt, dass wir höchstens einen Monat bleiben können. Wir wissen einfach nicht, wohin wir gehen sollen. Der IS hat bereits die Tore der Stadt erreicht", sagt Sami. Zu dem wenigen, was die Brüder mitnehmen konnten, gehören ihre 'sekondola', Medaillons gegen das Böse, in die jeweils eine Biene, ein Löwe und ein Skorpion eingraviert sind, die wiederum von einer Schlange eingerahmt werden.

Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Die Ismams, eine Familie vertriebener Mandäer, vor dem Eingang zum Rat der Mandäer in Kirkuk
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Die traditionellen Rituale der Glaubensgemeinschaft gehen seit der Verfolgung der Imame, von denen es die Glücklichen unter ihnen ins ausländische Exil geschafft haben, immer mehr verloren. In Kirkuk ist der Khasa, ein Zufluss des Tigris, weitgehend ausgetrocknet und kommt somit als Ort für die Durchführung der mandäischen Taufzeremonien nicht in Frage. Tatsächlich werden die Taufen am Rand eines Teichs auf dem Gebäude des Rats der Mandäer vollzogen.

"Alle zwei oder drei Wochen kommt ein 'genzibra', ein mandäischer Priester, aus Bagdad vorbei, um das Ritual durchzuführen. Doch mit jedem neuen Tag wird die Straße immer unsicherer", erzählt Khalil Ismam.

Aus einem im Februar 2011 veröffentlichten Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' (HRW) geht hervor, dass seit dem von den USA geführten Einmarsch in den Irak im Jahr 2003 90 Prozent der Mandäer ums Leben gekommen oder außer Landes geflohen sind. An seinem Wohnsitz in Bagdad erklärte der geistige Führer der Mandäer, Sattar Hillo, dass die Gemeinschaft derzeit den schlimmsten Augenblick ihrer langen Geschichte erlebt. Rund 10.000 Mandäer hätten den Irak inzwischen verlassen.

Allerdings hatte er seine Schätzung wenige Monate vor der Ankunft des IS abgegeben. "Inzwischen hat sich die Lage weiter verschlechtert", berichtet Suhaib Nashi, Generalsekretär der Vereinigung der im Exil lebenden Mandäer. "In den vergangenen zwei Monaten erlebt unsere Gemeinschaft einen wahren Völkermord durch radikale Islamisten - nicht nur durch den IS." Ebenso bedrohlich sei die Lage für seine Brüder und Schwestern in den südlichen Gebieten, wo die Anhänger der Religion schiitischen Milizen oder gemeinen Verbrechern zum Opfer fielen.

Die Mandäer werden aus unterschiedlichen Gründen umgebracht. Nashi zufolge geht es den Extremisten einerseits darum, sich an ihnen zu bereichern. Anderseits strebten sie die komplette Ausrottung der Religionsgruppe an.

Die 39-jährige Mandäerin Khalima Mashmul hält sich ebenfalls auf dem Gelände des Mandäischen Rates auf. Auch sie stammt ursprünglich aus dem Süden, gelangte jedoch als 15-Jährige im Zuge einer Zwangsumsiedlung nach Kirkuk, durch die der ehemalige Machthaber Saddam Hussein die demografische Zusammensetzung der Stadt Kirkuk verändern wollte, in der Kurden die Mehrheit stellen.

Kurden, Araber und Turkmenen beanspruchen die Stadt, unter der die größten Ölreserven der Welt lagern, für sich. Was Mashmul seit 24 Jahren als ihre Heimat betrachtet, gehört zu den gefährlichsten Orten des Iraks. "Mein Mann ist Polizeioffizier. Er hat bei einem Bombenanschlag im vergangenen Juni sein rechtes Bein und vier Finger verloren. Trotz der erlittenen Verletzungen zwingen sie ihn zur Weiterarbeit", erzählt die vierfache Mutter im IPS-Gespräch.

Wie die Ismams darf auch ihre Familie nicht ewig auf dem Gelände des Rats der Manäer bleiben. "Nach Hause zurückkehren können wir nicht, weil mein Mann dort umgebracht würde. Doch fehlt uns das Geld, um uns hier eine Wohnung zu nehmen", erklärt Mashmul. Die einzige Rettung sieht sie in der Ausreise nach Australien oder in ein europäisches Land.


1,8 Millionen Iraker seit Januar vertrieben

Von einem politischen Asyl in einem anderen Staat träumen die meisten irakischen Mandäer. Aus einem Bericht des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) geht hervor, dass 1,8 Millionen Iraker seit Januar dieses Jahres vertrieben worden sind. 600.000 dieser Menschen sind aufgrund des nahenden Winters dringend auf Hilfe angewiesen.

Während viele auf ein Leben in einem westlichen Land hoffen, wünschen sich andere, in einem der Nachbarländer eine neue Heimat zu finden. Chabar Imad Abid, ebenfalls ein mandäischer Polizist, der das Gelände des Rats bewacht, ist nach eigenen Angaben froh, dass seine Frau und seine fünf Kinder in Jordanien in Sicherheit sind. Er will ihnen möglichst bald folgen. "Man hat uns gesagt, dass sich der IS in Hawija 50 Kilometer westlich von Kirkuk sammelt", sagt er. "Eine Offensive gegen Kirkuk steht offenbar unmittelbar bevor." (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/11/disciples-of-john-the-baptist-also-flee-isis/

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IPS-Tagesdienst vom 10. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2014