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INTERVENTION/025: Syrienkrieg - Angriff der Türkei ... (Cenî)


Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. - 9. Oktober 2019

Gemeinsam für ein Ende des Krieges in Nord- und Ostsyrien


Am heutigen Tag hat das türkische Militär aus der Luft und am Boden begonnen, Nord- und Ostsyrien anzugreifen. Seit Monaten kündigte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan diese Offensive an und drohte immer wieder mit einem Genozid an der dortigen Bevölkerung. Die heutigen Angriffe erfolgen unter der Zustimmung Trumps und Putins. Damit einhergehend schweigt die internationale Gemeinschaft und Weltöffentlichkeit.

Es ist daher an uns, deutlich zu machen, dass wir diese Angriffe aufs schärfste verurteilen und in Aktion treten. Dies kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Sei es indem Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu den aktuellen Entwicklungen gemacht wird, Erklärungen und Stellungnahmen veröffentlicht werden und die Forderung nach einer friedlichen Lösung und der Anerkennung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien bei Kundgebungen, Demonstrationen oder Informationsständen auf der Straße sichtbar gemacht wird.

Im Anhang finden Sie einen Informationsbrief zur Einbettung der Angriffe des türkischen Staates auf die Region Nord- und Ostsyrien sowie die Aufforderung an alle zivilen, demokratischen, feministischen und humanistischen Organisationen, Gruppen und Strukturen sich dafür einsetzen, den aktuellen Krieg zu stoppen und die Anerkennung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien zu fordern.

Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.


Informationsbrief zu den aktuellen Angriffen der Türkei auf Nord- und Ostsyrien

Seit mehreren Monaten kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder den nächsten Einmarsch in Nordsyrien an. Diesen Drohung hat er heute, am 09. Oktober, Taten folgen lassen. Am späten Nachmittag bombardierte die türkische Luftwaffe das Dorf Misrefa bei Serekaniyê. Seitdem werden die Städte Gire Spî, Dêrik, Qamislo und Serekaniyê mit Mörsern und aus der Luft angegriffen. Durch diese Angriffe droht eine humanitäre Katastrophe, die nicht nur die radikal-demokratischen Strukturen, die in den vergangenen Jahren in der Region Nord- und Ostsyrien aufgebaut wurden, zerstören würde, sondern auch den Tod tausender Menschen, sowie Vertreibung und Zerstörung der Lebensgrundlage der dortigen Bevölkerung bedeuten würde.

Nachdem Erdogan im Januar 2018 zusammen mit dschihadistischen Gruppierungen begonnen hatte, den Kanton Afrin anzugreifen und diesen im März unter seine Kontrolle brachte, ist er seinem Ziel nun einen weiteren Schritt näher: die radikal-demokratische, geschlechterbefreiende und ökologische Selbstorganisierung der Gesellschaften in Nord- und Ostsyrien vollständig zu zerstören. Ziel der jetzigen Angriffe ist laut offiziellen Angaben zunächst das Gebiet zwischen Girê Spî und Serekaniyê zu besetzen. Erdogan greift somit seine Strategie aus Afrin auf, die bestehenden Kantone voneinader zu isolieren. Während der Angriffe auf Afrin wurden immer wieder Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen gegen den türkischen Staat erhoben. So wurde beispielsweise das letzte noch funktionierende Krankenhaus in der nordsyrischen Stadt Afrin durch die türkische Luftwaffe bombardiert, unter den Opfern waren Schwangere und Kinder. Mehr als 1000 Menschen wurden bei den Angriffen getötet. Zuletzt versuchte Erdogan, die internationale Gemeinschaft dazu zu bringen, einer türkischen Besatzung des gesamten nordöstlichen Syriens zuzustimmen. Die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens konnte mit großen diplomatischen Anstrengungen einen türkischen Angriff verhindern und hat in den letzten Wochen alle mit Washington und Ankara vereinbarten Schritte zur Einrichtung einer sogenannten Sicherheitszone umgesetzt. Die Entwicklungen der letzten Tage und insbesondere der letzten Stunden zeigen jedoch deutlich, dass Erdogan und der faschistische türkische Staat sich nie von dem Plan einer Invasion in Nordostsyrien gelöst haben. Auch die jüngsten Erklärungen von US-Präsident Donald Trump zeigen, dass die internationale Staatengemeinschaft einem solchen Angriff den Weg bereitet.

Der türkische Staat versucht immer wieder, unter Bezugnahme auf das Recht zur Selbstverteidigung, seine alltäglichen Angriffe und Großoffensiven als "Kampf gegen den Terrorismus" zu rechtfertigen. Fakt ist aber, dass die demokratischen Gebiete in Nord- und Ostsyrien sich immer wieder gegen die Angriffe und Provokationen von türkischer Seite aus verteidigen müssen. Während in Nord- und Ostsyrien ein neues demokratisches System aufgebaut wurde, in dem Menschen verschiedener Ethnizitäten und religiösen Zusammenhängen friedlich miteinander leben und versuchen, eine ökologische und freie Gesellschaft aufzubauen, etabliert Erdogan innerhalb der Türkei immer mehr ein autoritäres und neofaschistisches Regime. Diejenigen Frauen und Männer, die Edogan Terroristen nennt, haben nicht nur in Nord- und Ostsyrien unter Einsatz ihres Lebens etliche Menschen vor dem IS gerettet. So verhinderten sie im Sengal-Gebirge die Fortsetzung des Feminizids und Genozids an der ezidischen Gesellschaft, nachdem die nordirakischen staatlichen Sicherheitskräfte Pesmerga sich zurückgezogen und die Bevölkerung dem IS überlassen hatten. Mit der Schwächung des IS durch den historischen Widerstand in Kobanê und schließlich dem militärischen Sieg über den IS im März diesen Jahres beschützten Kämpfer*innen der YPJ/YPG und SDF besonders auch die Menschen in Europa und den USA vor weiteren brutalen Anschlägen des IS.

Nun hat das Weiße Haus, nach einem Telefongespräch zwischen Erdogan und Trump am Wochenende, angekündigt dass sich die Kräfte der internationalen Koalition aus der Region zurückziehen werden, und dabei die Verantwortung für die Bekämpfung der Überreste des sogenannten Islamischen Staates auf die Türkei übertragen. Dadurch besteht die Gefahr, dass die mehr als 70.000 IS-Kämpfer*innen und Angehörigen, die sich aktuell in Gefängnissen und Lagern unter der Kontrolle der SDF befinden, im Chaos des Krieges befreit werden oder unter Kontrolle eines faschistischen Diktators fallen könnten. Für diejenigen, die unter Einsatz ihres Lebens den Krieg gegen den IS vor Ort geführt haben und zahllose Angehörige verloren haben, ist die Übertragung der Verantwortung für den Kampf gegen den IS auf diejenigen, die die Gruppe in jeder Hinsicht unterstützt haben - logistisch und ideologisch, mit Waffen, Rekrutierung, Versorgung der Verletzten, Handels- und Grenzabkommen - eine offene Kriegserklärung an alle Werte der Menschheit. Dieser Angriff der Türkei bedeutet nicht nur, dass ähnlich wie bei der Besatzung Afrins tausende von Zivilist*innen getötet und Hunderttausende vertrieben werden - darunter auch Menschen, die bereits Flüchtlinge oder Binnenvertriebene waren. Diese Militäroperation wird auch alle alternativen demokratischen Strukturen gefährden, die für Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Frauenbefreiung als Antwort auf die menschenverachtende Kriegspolitik in dieser Region aufgebaut wurden.

Erdogan geht es weder um die Sicherheit der Menschen in der Türkei, noch um den Kampf gegen Terrorismus. Es geht ihm darum, die Kurd*innen zu vernichten und demokratische, freiheitliche sowie frauenbefreiende Perspektiven zu zerstören. Diese Politik verfolgt er sowohl innerhalb der Türkei, als auch außerhalb. Schon vor dem heutigen Tag hat die Türkei bereits mehrere Militärbasen in Syrien und im Irak errichtet und die Gebiete immer wieder aus der Luft angegriffen. Er verkündet ganz offen und ohne nennenswerte Entgegnung durch die internationale Staatengemeinschaft seine neo-osmanischen Großmachtsphantasien, die einen Völkermord an den vielen in der Region lebenden ethnischen und religiösen Gruppen implizieren.

Die aktuellen Angriffe der Türkei sind ein Angriff auf alle demokratischen Kräfte in der Region sowie weltweit. Vor allem aber stellen sie einen Angriff auf die Errungenschaften der Frauenrevolution in der Region dar. Insbesondere die Rolle der Frauen* im Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Rojava/Nord- und Ostsyrien ist herausragend. Frauen* organisieren sich in verschiedenen Kommitees und Organisationen, bilden sich, unterstützen sich gegenseitig und kämpfen gemeinsam gegen patriarchale Strukturen und für eine freie Gesellschaft. Viele Feminist*innen, Frauen*gruppen und Organisierungen sind inspiriert von der Stärke der Frauen* in Rojava. Sie sind Kraftquelle und der Antrieb grundlegender Veränderungen in der ganzen Region und weltweit. Die Gebiete in Nord- und Ostsyrien sind ein Beispiel für eine andere und freie Gesellschaft.

Umso wichtiger ist es jetzt, dass alle zivilen, demokratischen, feministischen und humanistischen Organisationen, Gruppen und Strukturen sich dafür einsetzen, den aktuellen Krieg zu stoppen und stattdessen die Anerkennung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien zu fordern. Wir laden Sie deshalb dazu ein, Stellung zu beziehen und Ihren Teil der Verantwortung wahrzunehmen. Wir sollten es den Menschen gleich tun, die in Nord- und Ostsyrien unter schwersten Kriegsbedingungen nie die Hoffnung verloren haben und ihre eigene Kraft durch Organisierung und gegenseitige Unterstützung mit viel Mühe und Liebe aufgebaut haben. Wir sollten alles uns Mögliche tun und nicht stillschweigen, weil wir unsere gemeinsame Kraft unterschätzen. Auch wir sollten nicht länger die Verantwortung den patriarchalen, autoritären, egoistischen und heuchlerischen Staatsmännern überlassen, denn sie beweisen einmal wieder, dass sie niemals im Interesse von Freiheit, Feminismus und radikaler Demokratie handeln werden. Seit Beginn des sog. Bürgerkriegs in Syrien sind nun 8 Jahre vergangen und die Probleme wurden immer weiter vertieft statt angegangen. Es ist Zeit, dass alle Frauen, freiheits- und friedensliebenden Menschen ihre eigene Kraft wahrnehmen und ausbauen! Die lokale und globale Selbstorganisierung der Menschen ist die einzige Möglichkeit, einen Ausweg aus den Problemen zu finden. Lasst uns gemeinsam einstehen für Demokratie, Frauenbefreiung, Freiheit und Frieden. Für eine freie, ökologische und gleichberechtigte Gesellschaft in Ost- und Nordsyrien und überall.


Für mehr und aktuelle Informationen hier einige Links:

https://womendefendrojava.net/

https://anfdeutsch.com/

https://twitter.com/ceni_v

https://twitter.com/RojavaIC

https://www.facebook.com/Ceni-Frauen-870373366399437/

Quellen:
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/syrien-verstoesst-die-tuerkei-gegen-das-voelkerrecht-15412253.html

https://www.tagesschau.de/kommentar/tuerkei-usa-kommentar-101.html

https://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-droht-tuerkei-vizepraesident-gibt-sich-unbeeindruckt-a-1290500.html

https://www.dw.com/de/jesiden-sie-haben-uns-im-stich-gelassen/a-18635538

https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/ganze-welt-wird-fuer-humanitaere-krise-verantwortlich-sein-14416

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Quelle:
Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
Postfach 101805, 40009 Düsseldorf
E-mail: ceni_frauen@gmx.de
http://www.ceni-kurdistan.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2019

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