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OFFENER BRIEF/001: An den Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Länder (OKV)


OKV - Ostdeutsches Kuratorium von Verbänden e.V.

An den
Bundesminister für Verkehr. Bau und Stadtentwicklung
und Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer
Herrn Wolfgang Tiefensee


Berlin, 18. Juni 2009


Sehr geehrter Herr Minister Tiefensee,

wir sind es gewohnt, dass die Berichte aus Ihrem Hause die Situation Ostdeutschlands grob entstellen und schönfärben. Der diesjährige Bericht ist in dieser Hinsicht ein Spitzenprodukt. Dass Ihr politischer Auftrag und Wille angesichts des verheerenden weltweiten Zusammenbruchs des kapitalistischen Wirtschaftssystems darin besteht, die in der DDR erlebte reale Alternative auf das gröbste zu verunglimpfen, verwundert niemand. Allerdings sollte man sich dabei nicht solche Blößen geben, wie Sie und Ihre Beamten das im Bericht tun. Bei der politischen Wertung der Novemberereignisse 1989 unterlaufen Sie sogar Ihre gewiss nicht zimperliche Kanzlerin. Diese kam nicht umhin, bei ihrer Jubiläumsrede im Mai 2009 festzustellen: "Ich möchte die Gelegenheit dazu nutzen, auch denen zu danken, die auf der Seite der Staatsmacht standen und im entscheidenden Augenblick nicht zur Waffe gegriffen haben." In Ihrem Bericht heißt es in völliger Verkennung realer Machtverhältnisse: "Dass es nicht (zu Gewalt) kam, zeugt vom großen Verantwortungsbewusstsein der Protestierenden."

Geradezu grotesk und bar jedweden Sachverstandes, in völliger Missachtung eigener bundeswirtschaftlicher Statistiken und dokumentierter Aussagen, ist die Bewertung der wirtschaftlichen Situation der DDR. Die Aussagen werden auch nicht dadurch wahrer, dass in völliger Unkenntnis zusammenhanglos immer wieder auf das berühmte Schürer-Papier vom Herbst 1989 Bezug genommen wird. Ihr Bericht behauptet, die DDR "konnte die Grundversorgung der Bevölkerung mittelfristig nicht mehr sicherstellen". Die Versorgung aller Teile der DDR-Bevölkerung wurde bis zum letzten Tag der DDR sichergestellt. Niemand war arbeitslos, obdachlos, musste sich von "der Tafel" ernähren lassen, musste um die Auszahlung von Löhnen, Gehältern und Renten bangen. Angesichts des einmaligen Wohnungsbauprogramms in der DDR und dem Notstand nach bezahlbarem Wohnraum in der BRD die DDR mit "unbewohnbaren Wohnungen" diffamieren zu wollen, ist absurd.

Die in Ihrem Bericht zur Diffamierung der DDR-Wirtschaft von Ihren Beamten erfundenen Zahlen sind erlogen und entbehren jeder Grundlage. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung betrug, nach bundesdeutscher Statistik vergleichbar gemacht, 1989 in der DDR 12.515 EURO auf Preisbasis 1995, das der BRD zum gleichen Zeitpunkt 22.550 EURO. Der Anteil der DDR betrug also rund 55% gegenüber der BRD und nicht "ein Drittel", wie Ihr Bericht das behauptet. Die Produktivität - gemessen in der Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen - betrug nach der gleichen Statistik 45% der BRD, nicht "20 bis 25 Prozent des westdeutschen Vergleichswertes", wie Ihre Beamten behaupten. Es funktioniert nicht, die DDR auf das Niveau eines abgewirtschafteten Entwicklungslandes herabstufen zu wollen.
Mit dem unter schwierigsten Bedingungen in Zeiten des Kalten Krieges mit Abwerbung und Wirtschaftsembargo erarbeiteten Wirtschaftsniveau ordnete sich die DDR im Vergleich zu anderen führenden kapitalistischen Ländern auf einem mittleren Niveau ein. In diesem Niveau lagen nach internationalen Statistiken mit Größen von 11.000 bis 14.000 Euro pro Kopf neben der DDR Länder wie Großbritannien, Italien und Spanien. Weit dahinter rangierten mit um die 8.000 Euro pro Kopf in Europa Griechenland und Portugal. Alles "wirtschaftlich gescheiterte" Länder?

Dass die "DDR auf Grund der Überschuldung auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit zu steuerte", ist längst durch die Deutsche Bundesbank widerlegt. Diese stellte in ihrem Abschlussbericht zur Zahlungsbilanz der DDR im Jahre 1999 fest: "Ende 1989 lagen die Liquiditätsreserven (im NSW) immerhin noch bei 29 Mrd. VM und deckten 59,3% der Verschuldung ab". Ihre Beamten erfanden im Bericht einen Wert von 35 Prozent. Der Verteufelung der DDR schließt sich, besonders von Ihnen persönlich bei der Vorstellung des Berichtes, eine unverantwortliche Schönfärbung der gegenwärtigen Lage an: Sie erklären gemäß Regierungsmitteilung u.a.: "Ostdeutschland hat sich hervorragend entwickelt. Die Westdeutschen haben wiederum beispiellose Solidarität gezeigt, die dazu geführt hat, dass der Osten in weiten Teilen sehr, sehr gut aufgestellt ist und die gute Botschaft besteht darin, dass der Angleichungsprozess geschieht."
Entweder ergeben sich solche Einschätzungen aus totaler Unwissenheit der wirklichen Situation oder in bewusster Verfälschung der Tatsachen. Beides ist mit Ihrem Amtseid nicht vereinbar.

Sind Ihnen die alarmierenden Aussagen renommierter Forschungsinstitute über die Verarmung und Perspektivlosigkeit Ostdeutschlands nicht bekannt?
Ist Ihnen nicht bewusst, dass die westdeutschen Konzerne den Osten Deutschlands seit 1945 und besonders in der Wendezeit erbarmungslos ausplünderten, dass Billionen von Ost nach West geflossen sind und selbst nach Meinung prominenter Westpolitiker der Westen eine "Bringeschuld" zur Wiedergutmachung hat?
Warum vergleichen Sie in Ihren Erfolgsstatistiken die Gegenwart mit dem Jahr 1991, und nicht mit 1989, obwohl es darüber statistisch gesicherte Aussagen gibt?(*) Ist Ihnen nicht bewusst, dass in diesen zwei Jahren die DDR-Wirtschaft um 1/3, die Industrie um 2/3 zerstört wurde?
Wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Bevölkerung in den östlichen Bundesländern durch "Auswanderung" insbesondere junger und arbeitsfähiger Menschen rapide schrumpft und überaltert?
Ist Ihnen noch nicht zu Ohren gekommen, dass ganze Landstriche Ostdeutschlands der "gezielten Verwilderung" preisgegeben werden sollen?
Haben Ihre Beamten wirklich nicht anhand der Fakten konstatiert, dass der "Aufholprozess" Mitte der 90-er zum Stillstand gekommen ist?
Warum wird den Menschen in Ost und West immer wieder das Märchen vom "selbst tragenden Aufschwung" erzählt, der angeblich ab 2020 erreicht ist und für den Sie keinerlei konzeptionelle Vorstellungen entwickeln?

Wir halten derartige Verfälschungen der Tatsachen und der realen Situation für verantwortungslos gegenüber der deutschen Bevölkerung.
Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um gemeinsam mit anderen Organisationen den Menschen nicht nur die Wahrheit darzulegen, sondern sie zum Widerstand gegen diese aus Ihrem Bericht ersichtliche verantwortungslose Politik zu mobilisieren.
Die öffentlich gemachte Position des OKV zur historischen Entwicklung beider deutscher Staaten und besonders zu Lösungen aus der ostdeutschen Misere fügen wir bei.
Diesen Brief behandeln wir als offenen Brief.

Mit freundlichen Grüßen

Gez. Prof. Dr. Siegfried Mechler
- Präsident -


(*) Vgl. Zentrum für Historische Sozialforschung Köln, Supplement No. 17 (2005)


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Quelle:
Ostdeutsches Kuratorium von Verbänden e.V.
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Telefon: 030 - 557 83 97, Fax: 030 - 555 63 55
E-Mail: info@ok-ev.de
Internet: http://www.okv-ev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2009