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STANDPUNKT/114: Nalapat-Kolumne - Wird Asien dem westlichen Beispiel folgen? (Pakistan Observer)


Pakistan Observer - 4. September 2011

Wird Asien dem westlichen Beispiel folgen?
Geopolitische Anmerkungen aus Indien

von M. D. Nalapat (*)


Das anhaltende Wachstum Chinas erregt erhebliche Besorgnis in Nordamerika und Europa. Nachdem sie die Produktion eines Tarnkappen-Kampfjets nahezu abgeschlossen hat, verwandelte die VRC einen Haufen Schrott in einen brauchbaren Flugzeugträger. Angesichts der Überlegenheit einer solchen Waffenplattform auf See bei der Abwehr von Luftangriffen auf Unterseeboote und Schiffe sowie als Transportmittel für Kampfjets und Bomber über große Entfernungen, ist der Vorteil von Flugzeugträgern in einer Flotte offensichtlich. Jahrzehntelang verfügte Indien über einen und dann zwei und jetzt wieder einen einzigen Träger. Und die Marine der Volksbefreiungsarmee (VBAM) beabsichtigt eindeutig, die "Warjag" als Trainingsplattform zu nutzen, um Piloten und andere mit den Schwierigkeiten der sich bewegenden, verengten Oberfläche eines Flugzeugträgers vertraut zu machen. Ein weiterer ist Berichten zufolge im Bau, und es ist wahrscheinlich, daß die VBAM im Jahr 2020 - wenn nicht früher - vier Träger in Betrieb haben wird.

Die VBA ist bereits eine der größten Armeen der Welt, auch wenn sie seit dem Krieg gegen Vietnam im Jahr 1979 weitgehend aus dem aktiven Kampf herausgehalten wurde. Obgleich Analysten in den USA und in anderen NATO-Kapitalen die Straße von Taiwan als "einen der gefährlichsten Brennpunkte der Welt" bezeichnen, ist die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen Taipeh und Peking sehr gering. Während die regierende KMT (Kuomintang) klarstellt, daß sie keinen Konflikt mit China provozieren wird, indem sie Taiwan für unabhängig erklärt, hat sich sogar die oppositionelle DPP (Democratic Progressive Party - Demokratische Fortschrittspartei) in den letzten vier Jahren ziemlich gewandelt. Unter dem früheren Staatspräsidenten Chen Shui-bian sprach die DPP-Führung unentwegt über die Möglichkeit, Taiwans Unabhängigkeit zu erklären, und erwartete, daß ein sich daraus ergebender Krieg die USA und Japan unverzüglich an die Seite Taiwans bringen würde. Es handelte sich wohl um eine optimistische Einschätzung. Wahr ist, daß ein Gutteil der Wirtschaftskraft sowohl der USA als auch Japans an China gebunden ist und daher ein Krieg mit dem Land die wirtschaftlichen Aussichten aller drei Länder ruinieren würde. Während das chinesische Volk in der Vergangenheit harte Zeiten durchgemacht hat und deshalb eher in der Lage ist, von neuem harte Zeiten zu überstehen, haben die Japaner über das letzte Jahrzehnt hinweg und länger schon unerschütterlich und mit Würde einen enormen Rückgang des Wirtschaftswachstums erfahren. Jedenfalls ist es aufgrund der durch den Finanzkollaps in den USA 2008 entstandenen Schockwellen sehr unwahrscheinlich geworden, daß Washington eine wirtschaftliche Katastrophe riskieren würde, um gegen China in den Krieg zu ziehen.

Angesichts dessen wäre Taiwan wirklich so gut wie sicher auf sich selbst gestellt. Die Geschichte lehrt, daß jene, die sich auf den guten Willen der NATO-Mächte verlassen haben, in den seltensten Fällen gerettet wurden. In den 1970er Jahren befand sich Taiwan in einer wesentlich besseren Ausgangslage als Pakistan, eine Atommacht zu werden. Es verfügte über eine stärkere Wirtschaft und erhebliche technologische Grundlagen. Taipeh legte mit Hilfe israelischer Wissenschaftler ein Atomprogramm auf, namentlich nach 1971, als Richard Nixon Taiwan den Laufpaß gab, um sich der VRC zuzuwenden. Wie auch immer, in den 1980er Jahren hatte der unablässige und starke Druck aus Washington zur Folge, daß das Programm eingestellt wurde. Befände sich Taiwan durch den Besitz einer Atombombe und die Fähigkeit, diese auch nur in ein 1500 Kilometer entferntes Ziel zu bringen, in der gleichen Liga wie Israel, wäre die Verteidigungslage der Insel eine ganz andere als die gegenwärtige, die Taiwan dazu zwingt, die USA flehentlich um den Verkauf hochausgerüsteter F-16 Jets für den Aufbau einer Luftabwehr zu bitten.

Natürlich gibt es aufgrund der Tatsache, daß die USA zur Bewältigung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise auf die Kooperation Chinas angewiesen ist, bis jetzt kein Anzeichen für die Bereitschaft der Obama-Regierung, den Verkauf zu tätigen. Sie ist sich im klaren, daß Peking einen solchen Schritt als Provokation auffassen würde. Nun, da Taiwan dem US-Druck nachgegeben und seine Atomwaffenpläne aufgegeben hatte, ergab sich durch 9/11 im Jahr 2001 die nächste Gelegenheit für das Land, sich Sicherheit für den Fall eines Konflikts mit der VRC zu verschaffen.

Der dem Angriff auf das World Trade Center und den Pentagon folgende, vorübergehende Aufschwung der geopolitischen Macht der USA schuf ein Fenster, das es Washington ermöglichte, eine asiatische Variante der NATO ins Leben zu rufen. Diese hätte Indien, Singapur, Vietnam, Südkorea, Australien, Japan und die USA in einem Militärbündnis zusammengeführt. In dieser Zeit war Atal Behari Vajpayee der Ministerpräsident Indiens und John Howard Ministerpräsident von Australien. Beide wären bereit gewesen, sich an einer asiatischen NATO zu beteiligen.

Da jedoch ein solches Konstrukt die Europäer ausgeschlossen hätte, waren Colin Powell und Condoleezza Rice dagegen, die beide die USA als nordamerikanischen Vorposten Europas betrachteten. Die NATO-Mitglieder in Europa verwendeten sich gleichermaßen gegen eine asiatische NATO-Variante mit dem Argument, ihre eigene Organisation sei uneingeschränkt fähig, den Frieden überall auf der Welt zu bewahren. George W. Bush ließ deshalb die Pläne für ein in Asien angesiedeltes, regionales Sicherheitssystem fallen und verließ sich für diese Rolle statt dessen weiter auf die NATO. Kaum überraschend hat sich diese Organisation als Fehlschlag erwiesen, sogar gegen einen so zusammengewürfelten Haufen wie die Taliban. Im Irak kam der "Erfolg" erst zustande, als sich die US- und die anderen NATO-Truppen in ihre Kasernen zurückzogen. Eine asiatische Version der NATO hätte die Sicherheit Taiwans gewährleisten können, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie Atomwaffen dies könnten. Schließlich weiß Kim Jong-II in Nordkorea, daß ihn allein seine Atomwaffen davor bewahren, den gleichen Weg wie Saddam Hussein oder Muammar Ghaddafi zu gehen. Der brutale militärische Überfall der NATO auf zwei Länder, die ihr MVW-Programm eingestellt hatten - Irak und Libyen - hat dafür gesorgt, daß Nordkorea, der Iran und Syrien niemals zustimmen werden, den Weg der Versöhnung zu beschreiten, wie Bagdad und Tripolis es getan haben.

In diesen Tagen reden die NATO-Mächte unablässig über die "Massengräber" im Irak. Sie vergessen zu erwähnen, daß 90% nicht von Saddam Hussein, sondern durch die von ihnen bei der UNO durchgesetzten, genozidalen Sanktionen verursacht wurden, die dem Irak nach dem rücksichtslosen und nicht zu rechtfertigenden Angriff auf Kuwait zwölf Jahre lang auferlegt waren. Natürlich bringt kein öffentlicher Diskurs in den NATO-Kapitalen je die Auswirkungen der Sanktionen aufs Tapet. Es zeigen sich gewisse Parallelen zur Situation in Kambodscha, wo alle Toten unter der Zivilbevölkerung in den 1970er Jahren Pol Pot angelastet wurden.

Zweifellos war der Diktator grausam und ein Massenmörder, aber mindestens ebensoviele Kambodschaner starben im gnadenlosen Flächenbombardement der US-Luftwaffe wie durch Pol Pot. Natürlich bringt niemand in der NATO diese Tatsache je zur Sprache. Der Definition nach kann eine NATO-Bombe nicht töten, sie kann nur heilen. Definitionsgemäß ist jede Aktion der NATO über jeden Zweifel erhaben und friedlich, sonst hätte es am hyperaktiven Internationalen Gerichtshof in Den Haag wenigstens einen Hinweis darauf geben müssen. Statt dessen herrscht schändliches Schweigen über die zahllosen zivilen Toten, die das NATO-Bombardement in Libyen verursacht hat und über die Tausenden von Unschuldigen, die von den von der NATO ausgerüsteten Verbrechern massakriert wurden. Sie reden viel über Frieden und Demokratie, aber in Wirklichkeit ist der Griff zur Waffe der erste Impuls der NATO-Mächte, wenn sich eine unbequeme geopolitische Realität ergibt, die sie herausfordert.

Am allerschlimmsten ist, daß die NATO wieder einmal angefangen hat, militärische Gewalt zu gebrauchen, um sich wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen - deutlich geworden im Irak und in Libyen, wo auf NATO-Gebiet angesiedelte Unternehmen mit vorgehaltener Klinge besondere Berücksichtigung verlangen und auf diese Weise Mächte berauben, die nicht routinemäßig militärische Gewalt einsetzen, um sich einen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen. Mit ihrem Rückgriff auf Gewalt und durch ihre Gier führen die NATO-Mächte andere, aufstrebende Mächte in Versuchung, ihrem Beispiel zu folgen. Was wäre, wenn China, Rußland und Indien drohten, Bastionen des Übergangsrats in Libyen zu bombardieren, wenn man ihnen Ölanteile verweigert, die der NATO vorbehalten sind? Welches Beispiel setzt die NATO für Asien? In einer Zeit, in der die wirtschaftliche Macht Asiens wächst und die der NATO unter Druck gerät, muß sich die Allianz diese Frage stellen, bevor sich asiatische Nachahmer an ihrem Rückgriff auf brutale Gewalt als erstes Mittel der Wahl ein Beispiel nehmen.

(*) Madhav Das Nalapat ist Vizevorsitzender der Spitzenforschungsgruppe, Inhaber des UNESCO-Friedenslehrstuhls und Professor für Geopolitik an der Universität von Manipal, im Staat Harjana, Indien.


Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

VRC - Volksrepublik China
VBA - Volksbefreiungsarmee (China)
VBAM - Marine der Volksbefreiungsarmee
MVW - Massenvernichtungswaffen

"Warjag" - bei der Warjag handelt es sich um einen 300 m langen Flugzeugträger aus sowjetischer Produktion, der nie ganz fertiggestellt worden war.

UNESCO-Friedenslehrstuhl:
Absatz 1 der Präambel der Satzung der UNESCO:
"Der UNESCO-Lehrstuhl widmet sich den Themen kultureller Vielfalt, kulturellen Erbes sowie dem Nexus Frieden und nachhaltige Entwicklung."

Link zum englischen Originaltext
http://pakobserver.net/detailnews.asp?id=112420
Will Asia follow western example?


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Quelle:
Pakistan Observer - 4. September 2011
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mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Pakistan Observer
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2011