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STANDPUNKT/154: Wer schützt wen? (Hans Fricke)


Wer schützt wen?

Von Hans Fricke, 1. Januar 2012


Der Jahresrückblick 2011 offenbart neben vielen anderen besorgniserregenden Entwicklungen auch das ganze Ausmaß der Blutspur, die der Neonazismus und Rassismus in unserem Land legen konnte, sowie die jahrelange enge Verstrickung des Verfassungsschutzes (VS) mit dem brauen Sumpf.

Die Fassungslosigkeit der Bevölkerung darüber, dass namentlich bekannte Rechtsextremisten fast 13 Jahre lang als mobiles Exekutionskommando ungehindert durch die Lande ziehen und mindestens 10 Menschen gezielt hinrichten konnten, sowie die Tatsache, dass außer ihnen seit 1990 über 150 Menschen von Neonazis und fremdenfeindlich eingestellten Tätern ermordet wurden, ohne dass der Staat darauf energisch und wirksam reagiert hat, verlangen gebieterisch schnelle, umfassende und wahrheitsgemäße Antworten auf die drängende Frage nach den Ursachen für diesen größten Geheimdienst-Skandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte.

Es sei daran erinnert, dass schon in den 80er Jahren in Westdeutschland insgesamt 35 Menschen durch rechte Gewalt ums Leben kamen. Das Phänomen ist also keineswegs neu - ganz anders als jetzt immer wieder als Entlastungsargument behauptet wird.

Wie auf fast allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens der Bundesrepublik haben wir es auch beim Verfassungsschutz mit nachhaltigen Folgen der von der Adenauer-Regierung betriebenen und zu verantwortenden bedenkenlosen Restauration des Verwaltungs-, Justiz-, Geheimdienst-, Polizei- und sonstigen Behördenapparates unter nahezu restloser Einbeziehung des "bewährten Fachpersonals" der untergegangenen verbrecherischen Nazi-Diktatur, auch vieler aufs Schwerste Belasteter, zu tun.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wurde zum großen Teil von belasteten Alt-Nazis, die schon unter Hitler Angehörige der Gestapo, der SS, des SD oder der Justiz waren, aufgebaut und antikommunistisch geprägt. Bereits vorher gab es die von der US-Army betriebene Tarneinrichtung namens "Amt für Verfassungsschutz", deren Aufgabe es war, Informationen über die KPD zu sammeln.

Unter Verfassungsschutz-Präsident Hubert Schrübbers (1955 bis 1972) waren besonders viele verantwortliche Positionen im BfV mit ehemaligen SS und SD-Angehörigen besetzt worden. Erst nachdem seine eigene Tätigkeit als Nazi-Jurist bekannt geworden war, trat er schließlich zurück.

Die Verfolgung von Kommunisten und Menschen dieses Umfeldes in den 50er und 60er Jahren, an der der VS unter Alt-Nazi Schrübbers maßgeblich beteiligt war, hatte prägenden Einfluss auf die weitere Entwicklung und Arbeit dieses Inlands-Geheimdienstes. Mit Hilfe der "Regelanfrage" wurden etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst vom VS auf politische Zuverlässigkeit durchleuchtet. Es kam schätzungsweise zu 11.000 Berufsverbots- und 2200 Disziplinarverfahren, zu 1250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Tausende Menschen, die als Lehrerinnen, Lehrer, in der Sozialarbeit, in der Briefzustellung, als Lokführer oder in der Rechtspflege tätig waren oder sich auf solche Berufe vorbereiteten und bewarben, erhielten im Ergebnis des Wirkens des VS Berufsverbot.

Der Lehrer Michael Czaszkoczy zum Beispiel - er hatte von 2003 bis 2007 Berufsverbot - antwortete kürzlich auf die Frage, in welcher Form die Bespitzelung kritischer Oppositioneller heute noch existiere: "In meinem Fall hat der Verfassungsschutz seit meinem 18. Lebensjahr mehr als 20 Jahre lang Erkenntnisse gesammelt, weil ich mich in antifaschistischen Gruppen engagiert habe. Obgleich der Verwaltungsgerichtshof im letztinstanzlichen Urteil verdeutlicht hat, es sei nicht nachvollziehbar, wie es in einem Rechtsstaat zu solchen Eingriffen kommen kann, habe ich die Akten nicht einsehen können. Unter anderem wird heute noch fleißig deswegen weitergesammelt weil ich mich gegen Berufsverbote einsetze."

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und selbst seit Jahrzehnten unter Beobachtung des VS, erklärte dazu in einem Interview mit SoZ - Sozialistische Zeitung vom 30. November 2011:

"Aufgrund dieser prägenden antikommunistischen und antisozialistischen Ausrichtung ist es heute schwer vorstellbar, dass ausgerechnet dieser Geheimdienst, der schon frühzeitig und bis in die jüngste Zeit die 'Gefahren des Kommunismus' und 'Linksextremismus' übersteigert und die des Neonazismus sträflich verharmloste, zu einem Garanten für die Eindämmung dieser Gefahr werden könnte. Die Befürchtungen sind gerechtfertigt - schon in den 80er und 90er Jahren versagten die VS-Ämter auf ganzer Linie: Weder konnten sie die Zunahme rechter Organisationen und Aktivitäten vorhersagen und erklären, noch die Zunahme rechter Gewalttaten. Zudem bagatellisierten sie lange Zeit die organisatorischen Qualitäten rechter Gruppierungen - obwohl es längst starke Ansätze zur Organisierung und Vernetzung gab. Offenbar setzt sich diese Verharmlosung und Blindheit auf dem rechten Auge bis heute fort."

Die fast täglichen Pressemeldungen mit Details über die Serienmorde machen deutlich, wie groß das Versagen der deutschen Sicherheitsbehörden gewesen ist. Seit Wochen bemühen sich Ermittler um Aufklärung und scheinen immer fassungsloser zu sein über die Abgründe, die sich ihnen auftun. Das bisher Bekannte ist ein Super-GAU für Verfassungsschutz und Polizei, der nicht ohne tiefgreifende Folgen für die Sicherheitsdienste und ohne Bestrafung der Verantwortlichen für diesen Super-GAU bleiben darf.

Ständig wurde behauptet, man sei auf die Informanten in der Nazi-Szene angewiesen, um über Anschlagspläne und terroristische Strukturen unterrichtet zu sein. Immer wieder gaben Verfassungsschützer und Bundesregierung Entwarnung: Rechtsterroristische Strukturen seien "nicht feststellbar". Derweil beging die Neonazi-Zelle einen Mord nach dem anderen und der VS sah, auch als die Neo-Nazis den Song "Döner Killer" brüllten, zwischen ihnen noch immer keine Verbindung bzw. wollte keine Verbindung sehen.

Noch im Sommer nach dem Amoklauf von Anders Behring Breivik in Norwegen erklärte der Bundesinnenminister, es gebe keine Hinweise auf rechtsterroristische Aktivitäten in Deutschland. Mittlerweile ist auch er recht kleinlaut geworden und sah sich gezwungen, Rechtsterrorismus in der BRD einzuräumen.

Das eklatante Versagen des VS war kein Fehlverhalten einzelner Angehöriger des VS, sondern hatte seine Ursachen im Führungssystem. Es geht weniger um Unfähigkeit und Pannen, als vielmehr um ideologische Scheuklappen, Ignoranz und Verharmlosung des neonazistischen Spektrums. Bedrohungen und Gefahren für Demokratie und Verfassung werden immer noch in erster Linie mit "Linksextremismus/-terrorismus" und "Islamismus/islamistischem Terrorismus" assoziiert. Statt Koordination und Kooperation gab es Unentschlossenheit, Pflichtvergessenheit und grobe Fahrlässigkeit bis in die oberen Kommandohöhen. Wichtige Informationen über die Szene behielten einzelne Landesämter aus nicht nachvollziehbaren Gründen der Geheimhaltung für sich. Wer für wen als V-Man arbeitete und ob die Berichte etwas nutzten, war selbst unter den Geheimen oft nicht klar. Und das Bundesamt für Verfassungsschutz kann heute nicht einmal genau sagen, wie viele Rechtsextreme so wie die Zwickauer Zelle derzeit noch untergetaucht sind. Letzteres ist deshalb besonders beunruhigend, weil gewaltbereite Rechtsextreme offen ihre Sympathie mit den Handlungen des Mörder-Trios bekundet haben und deshalb mit Nachahmern unter ihnen gerechnet werden muss.

Und für dieses ungeheuerliche und folgenschwere jahrelange Nicht wissen (wollen) bzw. Nichtstun, das eigentlich nur erklärlich ist, wenn man eine organisierte Abschirmung und Begünstigung der Täter aus den Reihen der Sicherheitsbehörden unterstellt, unterhält der Steuerzahler das Bundesamt für Verfassungsschutz mit 2641 Beschäftigten, dessen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt 174 Millionen Euro betrug (Stand: 2010). Ferner gibt es noch 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz, die den Länder-Innenministern unterstehen.

Nach Medienberichten sind in der NPD bis zu 100 V-Leute des VS aktiv. Die Zahl liege "im oberen zweistelligen Bereich" und damit noch höher als 2003, als bis zu 15 Prozent der Mitglieder in Landes- und Bundesvorständen der NPD für den Staat spitzelten, berichtet der Kölner Stadt-Anzeiger unter Berufung auf Berliner Sicherheitskreise. Die Zahl sei von führenden Koalitionskreisen bestätigt worden.

Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass es sich bei den V-Leuten nicht um gute Leute handelt, die in die Szene eingeschleust werden, sondern um Rechtsextreme, die Informationen von zweifelhaftem Wert an den Staat verkaufen. In der Studie des DISS "Fatale Effekte des V-Leute-Unwesens" heißt es, das Agieren der V-Leute habe gezeigt, dass sie nicht als "Agents provokateurs" gewirkt hätten, sondern es sich bei ihnen um Personen handele, die man nicht anstiften könne, weil sie ohnehin zu allem bereit seien. Deshalb wäre es auch vollkommen unsinnig, von einer Steuerung der NPD durch den Verfassungsschutz zu sprechen. Man müsse sich umgekehrt fragen, ob nicht der VS von NPD-Funktionären manipuliert worden sei.
(http://diskursiv.de/2011/11/17/fatale-effekte-des-v-leute-unwesens/)

So haben zum Beispiel die V-Leute Wolfgang Frenz und Udo Holtmann aus NRW die NPD jahrzehntelang mit aufgebaut, an führenden Stellen die Zielsetzung und Aktivitäten der Partei entscheidend mitbestimmt und rassistisch geprägt. Sie und andere haben also das Beobachtungsfeld, das sie für den VS von innen auskundschaften sollen, als V-Leute selbst mitgestaltet. Nach eigenen Aussagen bestätigten sie sich auch als "Doppelagenten", indem sie versuchten, ihrerseits den VS auszuspähen und ihn lediglich mit Spielmaterial zu versorgen, d.h. mit Informationen, die von der NPD gefiltert wurden.

Dr. Rolf Gössner erklärte dazu in seinem Interview:


"Im Laufe der Jahre entstand ein regelrechtes Netzwerk aus Spitzeln und Agent provokateurs in der Neonazi-Szene - ein undurchdringliches Gestrüpp aus braunen Parteien, Neonazi-Gruppen, Verfassungsschutz und seinen dubiosen Zuträgern. Die infiltrierenden Aktivitäten des VS in den gewaltbereiten Neonazi-Szenen bergen große Gefahren: Über seine angeworbenen, gedungenen und bezahlten V-Leute - im rechtsextremistischen Spektrum handelt es sich um hart gesottene Neonazis, gnadenlose Rassisten, nicht selten um Gewalttäter - verstrickt sich der VS fast zwangsläufig in kriminelle Machenschaften, wobei auch Straftaten geduldet oder indirekt gefördert werden. Brandstiftung, Totschlag, Mordaufrufe, Waffenhandel, Gründung einer terroristischen Vereinigung - das sind nur einige der Straftaten, die "Vertrauensmänner" des VS im Schutz ihrer Tarnung begingen und begehen. Und ihre V-Mann-Führer in den VS-Etagen gehen mit ihnen nicht selten ziemlich vertrauensselig bis kumpelhaft um.

Das Erschreckendste, was ich bei den Recherchen erfahren musste, ist, dass der VS seine kriminell gewordenen V-Leute oft genug deckt und systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen abschirmt, um sie weiter abschöpfen zu können - anstatt sie unverzüglich abzuschalten. Mit verfassungsschützerischer Rückendeckung können sich diese Kriminellen im Dienst des Staates in ihrem rechten Treiben ermutigt fühlen und unangefochten weitermachen wie bisher. Dieses Verhalten nennt man psychische Unterstützung und Beihilfe zu Straftaten. Das ist zwar strafbar, doch die VS-Verantwortlichen sind dafür nie zur Rechenschaft gezogen worden - selbst wenn dadurch unbeteiligte Personen schwer geschädigt wurden.

Der Staat hat also die rechtsextremistischen Szenen und Parteien über seine bezahlten Spitzel mitfinanziert und gestärkt. So wurde der VS über sein V-Leute-Netz selbst Teil des Neonazi-Problems, jedenfalls konnte er kaum etwas zu dessen Bekämpfung beitragen."
(http:www.sozonline.de/2011/11/untauglich-zur-bekämpfung-der-neonazistischen-gefahr/)

Beispiel: Wie die Berliner Zeitung unter Berufung auf Sicherheitskreise berichtet soll das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Thüringen Anfang 1998 den Neonazi Tino Brandt über die gegen ihn gerichteten Observationsmaßnahmen der Polizei auf dem Laufenden gehalten haben. Brandt war damals als V-Mann "Otto" für den VS tätig. Dem Neonazi sei mitgeteilt worden, dass die Polizei ihn aus einer angemieteten Wohnung in der Nähe seines Rudolstädter Hauses heraus überwache. Auch hätten seine Verbindungsführer des Verfassungsschutzes Brandt die Fahrzeuge beschrieben, die von dem polizeilichen Observationsteam benutzt werden.

Nach dem Abtauchen des Neonazi-Trios hatte Brandt in der Szene Spendensammlungen organisiert. Er stand im Kontakt mit rechtsextremen Gesinnungsfreunden aus Jena, die direkten Zugang zum Mörder-Trio hatten.

Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz wollte sich zu dem Bericht nicht äußern. Es gebe dazu keine Stellungnahme, sagte eine Sprecherin in Erfurt.

Es ist ohnehin besorgniserregend, dass unter den Augen des Bundesinnenministers, des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz sowie des Thüringer Innenministers ein Mann sechs Jahre lang Chef des Thüringer Verfassungsschutzes sein konnte, von dem Markus Bernhardt am 17. November 2011 im humanistenteam.info schrieb:

"Eine Schlüsselfigur. Welche Rolle spielte Helmut Roewer tatsächlich? Verschiedene Indizien sprechen für rechte Gesinnung des ehemaligen Thüringer Verfassungsschutzchefs.

Die bisherigen Erkenntnisse zu dem von den Neofaschisten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe geführten 'Nationalsozialistischen Untergrund' (NSU) sprechen dafür, dass die von den Behörden geduldeten - wenn nicht gar geförderten - Terrorakte ihren Ursprung in den 1990er Jahren in Thüringen hatten. Dies und deren weitere Entwicklung war offenbar maßgeblich mit dem skandalumwitterten damaligen Behördenleiter Helmut Roewer verbunden.

Der ehemalige Bundeswehr-Panzeroffizier, der heute im als rechtsextrem eingestuften Ares-Verlag aus Graz publiziert, war von 1994 bis Herbst 2000 Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes. Er fühlte sich offenbar seit jeher berufen, den Kampf gegen die politische Linke aufzunehmen, während die Beobachtung der 'rechten Szene' unter seiner Leitung kostenintensiv, aber wenig ergiebig war...

So gilt als gesichert, dass der Geheimdienst Kenntnis von den neofaschistischen Aktivitäten der späteren 'NSU'-Terroristen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatte, die bereits vor ihrem Untertauchen 1998 zur rechten Stammklientel in Jena gehörten und schon im Oktober 1996 mit antisemitischen Aktionen und ein Jahr darauf mit Bombenbasteleien von sich reden machten.

Allein beim Thüringer VS, der die NSU angeblich aus den Augen verloren hatte, tauchten nun über Nacht 24 Aktenordner dazu auf. Die Behörde bleibt jedoch die Antwort auf die Frage schuldig, wie es den drei Terroristen überhaupt gelingen konnte, im Januar 1998 während und nach einer Hausdurchsuchung und unter den Augen des V-Mannes Tino Brandt - oder mit dessen Hilfe - unterzutauchen. Brandt galt damals als führender Kopf des neofaschistischen 'Thüringer Heimatschutzes' (THS) und war zugleich in der NPD aktiv. Er wurde von 1994 bis zu seiner Enttarnung 2001 als VS-Informant mit insgesamt etwa 200.000 D-Mark für seine Zusammenarbeit mit dem Inlandsgeheimdienst belohnt (jW berichtete).

Viele V-Männer gaben an, dass sie Teile ihres Gehaltes in den Aufbau von Neonazi-Strukturen investiert haben. Allein in Thüringen flossen zwischen 1994 und 2000 über 1,5 Millionen Mark an Spitzelgehältern

Die Glaubwürdigkeit der Einlassungen Roewers, der behauptet, dass es in letzter Zeit Versuche gegeben habe, in seine Wohnung einzudringen, ist nicht besonders hoch. Im Jahr 2000 war er unter anderem suspendiert worden, weil er höchst eigenwillig mit der Zahlung von Honoraren für die V-Leute der Behörde hantiert haben soll. Ein gegen ihn geführter Prozeß wegen Untreue war 2008 aufgrund seiner angeblich dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit erst vorläufig - und 2010 gegen Zahlung einer Geldstrafe von 3000 Euro endgültig eingestellt worden.

Unter Leitung Roewers produzierte der Thüringer VS seinerzeit einen Film zu 'politischem Extremismus' für den Schulunterricht. Darin wurden autonome Antifaschisten als gewaltbereit diffamiert; ausgerechnet der V-Mann und 'THS'-Kopf Tino Brandt gab aber in dem Streifen ein Bekenntnis zu prinzipieller Gewaltlosigkeit ab.

Für die Affinität zu Lieblings-V-Leuten wie Brandt sprechen auch andere Details im Fall Roewer: In einem 2010 im Ares-Verlag erschienenen Buch vertritt er z.B. die Präventivkriegsthese für den deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941, d.h. die in Bundeswehr und deutschen Amtsstuben äußerst populäre Auffassung, Hitler sei mit seinem Überfall nur einem Angriff Stalins zuvorgekommen. Außerdem war Roewers bereits 1999 mit der öffentlichen Äußerung aufgefallen, dass der sogenannte Nationalsozialismus 'gute und auch schlechte Seiten' gehabt habe und Neonazis im Gegensatz zu Antifaschisten 'unproblematische Gruppen' seien."
(http://www.jungewelt.de/2011/11-17/053.php)

Obwohl die Politik krampfhaft bemüht ist, die offensichtliche Kumpanei zwischen Verfassungsschutz und Neonazismus sowie die Verstrickung der Inlandsgeheimdienste in rechte Morde und Bombenanschläge zu bestreiten, gibt es immer neue Veröffentlichungen, die darüber informieren, dass der Verfassungsschutz detaillierte Kenntnis über die Zwickauer Zelle hatte. So berichtet SPIEGEL ONLINE vom 31. Dezember 2011:

"Der Verfassungsschutz war wesentlich besser über die Aktivitäten von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund informiert als bislang bekannt. So hatten die Beamten schon im Frühjahr 1999 verlässliche Hinweise, dass sich das Trio in Chemnitz versteckt hielt. Sie wussten auch, dass es bewaffnete Überfälle plante. Das räumt das Bundesamt für Verfassungsschutz in einem amtlich geheimgehaltenen Untersuchungsbericht ein, der dem SPIEGEL vorliegt... Dem Geheimbericht zufolge war der Verfassungsschutz den Neonazis mehrmals auf der Spur, versäumte es aber zuzugreifen. Bei den Ermittlern 'verdichteten sich spätestens seit Mitte März 1999 die Informationen, dass sich die Gesuchten im Raum Chemnitz aufhalten sollten', heißt es in dem Untersuchungsbericht. Die im Frühjahr 2000 gestartete 'Operation Terzett' der Verfassungsschützer aus Thüringen und Sachsen führte die Fahnder sogar bis zu einer Wohnung in der Bernhardstraße in Chemnitz, in der zwei mutmaßliche Unterstützer wohnten und die Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe besuchten.
Aus dem Untersuchungsbericht geht auch hervor, dass die Verfassungsschützer schon früh Hinweise darauf hatten, dass das Trio im Untergrund kriminell aktiv war."

Es würde nach meinem Dafürhalten zu kurz greifen, die Ursache für den größten Geheimdienst-Skandal der BRD allein dem Verfassungsschutz anlasten zu wollen. Wenn Geheimdienste, Polizei und Justiz die Gefahr des Neonazismus jahrelang verharmlosen und entsprechend handeln, die Neonazis mit großen Polizeiaufgeboten vor dem aktiven Widerstand der aufgebrachten Bevölkerung gegen Aufmärsche und andere Provokationen der NPD schützen und antifaschistische Gegendemonstranten niederknüppeln, kriminalisieren und in Haft nehmen, dann handeln sie im politischen Auftrag.

Deshalb müssen sich auch die Bundesregierung und Landesregierungen im Zuge der Aufklärung der skandalösen Geschehnisse um den Rechtsterrorismus in unserem Land fragen lassen, welche politische Verantwortung sie für die entstandene Lage tragen und welche jahrelangen Versäumnisse auf ihr Konto gehen.

Es darf nicht zugelassen werden, dass die dringend notwendige Aufklärung wieder an die Grenzen des Rechtsstaates stößt, weil Geheimdienste im Spiel sind. Eine rückhaltlose und unabhängige Aufklärung verträgt sich nicht mit Geheimhaltung und Vertuschung!

"Kommt es nicht, wie von Linksfraktion und Grünen im Bundestag gefordert, zu einem Untersuchungsausschuss", warnt Markus Bernhardt in junge Welt vom 30. Dezember 2011, "der umfasssende Akteneinsicht verlangen, Zeugen laden und sie unter Wahrheitspflicht vernehmen kann, steht zu befürchten, dass der größte Geheimdienstskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte nicht aufgeklärt wird. Von 1998 stammende Beweisstücke - darunter bei dem späteren Zwickauer Trio gefundene Rohrbomben, mit denen ein Sprengstoffabgleich möglich gewesen wäre - wurden von den Behörden aufgrund einer 2003 eingetretenen Verjährung vernichtet.

Die Landesämter für Verfassungsschutz in Thüringen und Hessen weigern ich, die Rolle ihrer jeweiligen Mitarbeiter, Behördenleiter und V-Leute aufzuklären. Die etablierte Politik weicht die durch historische Erfahrungen begründete Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten nach und nach auf, indem sie etwa ein 'Lagezentrum Rechtsextremismus' mit Beamten von Geheimdiensten, Landeskriminalämtern und BKA einrichtet."

Der Rechtsexperte der Linksfraktion im Bundestag, Wolfgang Neskovic, Bundesrichter a.D. und Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium für die Geheimdienste, wirft CDU und SPD fehlenden Aufklärungswillen bei den Ermittlungen gegen die rechtsterroristische NSU vor. Es sei beschämend, wie sehr SPD und CDU sich der Pflicht zur zügigen Aufklärung entzögen, erklärte er im Interview der Nachrichtenagentur dapd. Die beiden Parteien blockierten sowohl die Einsetzung eines Sonderermittlers als auch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.

Auch der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, hat den deutschen Sicherheitsbehörden Untätigkeit bei der Aufklärung der neofaschistischen Mordserie vorgeworfen. "Die Ermittler scheinen in eine Art Winterschlaf versunken zu sein", sagte er am 30. Dezember 2011 dem Westberliner Tagesspiegel. Es sei ein Desaster, dass nach zwei Monaten noch immer keine weiteren Erkenntnisse vorliegen. Die Behörden hätten "schon ein ganzes Jahrzehnt gepennt, und noch immer tappen wir vollkommen im dunkeln". Dringend geklärt werden muss nach Meinung vieler Kritiker vor allem, ob es Versäumnisse auf seiten des Verfassungsschutzes oder gar eine Zusammenarbeit mit Faschisten gegeben hat.

Unterdessen warf der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider, den Behörden ebenfalls vor, in den vergangenen Jahren den Rechtsextremismus unterschätzt zu haben. "Ich meine, das ist doch erschreckend zu sehen, dass es dort offensichtlich ein organisiertes Netzwerk gibt und die Strafverfolgungsbehörden und der Verfassungsschutz das gar nicht sehen wollten", sagte Schneider im Deutschlandfunk zu der Mordserie des Zwickauer Neonazi-Trios. Das Vorgehen der Ermittler sei "verwunderlich".

Im Zusammenhang mit der neuen Debatte über ein NPD-Verbot warnte Schneider davor, das Problem des Rechtsextremismus auf juristische Fragen zu reduzieren. Es müsse gefragt werden, was hinter dem Gedankengut stecke, das zum Rechtsextremismus führt. "Also, es ist ja offensichtlich so, dass vor allen Dingen arbeitslose junge Männer dort anfällig sind", sagte Schneider. Deshalb sei ein kritischer Punkt, wie mit Arbeitslosigkeit umgegangen und was in Jugendarbeit investiert werde.

Diesen Erklärungen verantwortungsbewusster Persönlichkeiten habe ich nichts hinzuzufügen.


Hans Fricke ist Autor des 2010 im GNN-Verlag erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft" - Jubiläumsjahre und ihre Tücken -, 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2


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Quelle:
© 2012 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2012