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STANDPUNKT/222: Das Dunkel lichten - Glasnost in den Staatsbetrieben (Gilbert Karasek)


Die ArbeiterIn hat die Pflicht zu Schweigen

von Gilbert Karasek, 6. September 2012



Während des 2. Weltkriegs trug das Schweigen ebenso zur Verdunkelung der Zustände bei, wie die Androhung, dass jeder der ausländische Rundfunksender hört, erschossen wird. Die Verschwiegenheitspflicht wurde nicht nur in öffentlichen Anstalten eingeführt, sie wirkte vor allem in den Konzentrationslagern wie z.B. Mauthausen, Buchenwald, Auschwitz, Dachau, Maly Trostinez, Bergen-Belsen usw. Die Wachmannschaften der Konzentrationslager unterstanden der direkten Verwaltung der SS. Sie forderte von den Wachmannschaften die Pflicht zur absoluten Verschwiegenheit. Alle, die in den Konzentrationslagern beschäftigt waren, mussten den Vertrag zur Verschwiegenheitspflicht unterschreiben. Der Text zum Vertrag der Verschwiegenheitspflicht war knapp gefasst und eine einheitliche Formulierung gab es nicht. Die am häufigsten verwendete Formulierung war: "Ich bin zur Verschwiegenheit alle mir bekannt gewordenen Tatsachen verpflichtet." Wer gegen die Verschwiegenheitspflicht verstoßen hat, wurde hingerichtet. Die Verschwiegenheitspflicht führte dazu, dass die industrielle Massenvernichtung, in der Millionen Menschen erschossen, vergast, zu Tode gequält und verbrannt wurden, vor der Öffentlichkeit verborgen blieb. Die Bevölkerung erfuhr erst über die Massenvernichtung, als die Besatzungsmächte die Konzentrationslager auflösten.

Nach dem 2. Weltkrieg hielt die Wiener Stadtregierung in ihren Verwaltungsbereich an der Verschwiegenheitspflicht fest. Bei Vergehen gegen die Verschwiegenheit drohte sie mit Disziplinarverfahren und zivilrechtliche Klagen. Dies führte dazu, dass die Zustände unter diesen die Heimkinder lebten, vor der Öffentlichkeit verborgen blieb. Der ständige Mangel an Geld und Personal, wie auch die Überbelegung der Kindergruppen, bildeten die heute bekannt gewordenen Zustände. Faktum ist, dass die Wiener Stadtregierung an den Heimen sparte. Schon von 1945 an hatte es Beschwerden über Gewalt und Kindermisshandlungen gegeben, die der Rathausverwaltung laufend über den Dienstweg zur Kenntnis gebracht wurden.

Da das Wiener Kinder- und Erziehungsheimgesetz an die Verschwiegenheitspflicht angepasst war, wurde der Kindermissbrauch nie zur Anzeige gebracht. Stattdessen gingen die Beschwerden den intern vorgeschriebenen Dienstweg. Die ErzieherInnen mussten sich an die vorgegebene Ordnung halten und durften die Vorfälle nur an ihren unmittelbaren Vorgesetzten melden. Der Vorgesetzte musste sich ebenso an die Ordnung des Dienstweges halten. So wanderte die Meldung von einer Ebene zur nächst höheren Ebene bis die Meldung ganz oben vor der Rathausverwaltung landete. Die Verwaltung hatte von den verantwortlichen PolitikerInnen die Anweisung, auf den Ruf der Kinderheime zu achten und dass in diesem Zusammenhang, ihr Ansehen nicht geschädigt wird, da sie ja für die finanzielle Not der Kinderheime verantwortlich waren.

Gerichtsverfahren waren demnach nicht der ideale Weg, um die Zustände in den Heimen zu verschleiern. Dies führte dazu, dass die ErzieherInnen, die sich an den Kindern vergingen nicht entlassen wurden, weil man nicht wollte, dass die Öffentlichkeit etwas über das Elend der Heime erfährt. Die Erzieher wurden therapiert und in andere Kinderheime versetzt, oder kamen wieder an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurück. Dies bestätigen auch die Unterlagen, die in den Archiven des Rathauses gelagert sind. Die Forderung, mehr Geld für die Behebung der desolaten Heimzustände auszugeben, ignorierten die PolitikerInnen und so blieb über 60 Jahre das Elend und Leid in den Heimen erhalten. Die Verschwiegenheitspflicht sorgte dafür, dass die Bevölkerung von all den Problemen nichts erfuhr. Übrigens, die Medien allen voran der öffentliche Rundfunk waren schon sehr früh, wahrscheinlich seit dem Jahr 1945 über die Missstände in den Kinderheimen informiert. Diesbezüglich liegt auch Material in ihren Archiven. Warum der öffentliche Rundfunk und die Medien, wie es noch die Heime gab, nie über ihre Zustände berichteten, hängt auch von den politischen Aufgaben ab, die sie als Vermittler von Meinungen, im Sinne der herrschenden Klasse zu verbreiten haben.

Ebenso herrscht in den Altersheimen die Verschwiegenheitspflicht. Zum Beispiel das "Kuratorium Wiener Pensionisten-Häuser" verwendet in ihrem Pflegeheimgesetz einen ähnlichen Wortlaut, an den sich seinerzeit die Wachmannschaften in den Konzentrationslagern halten mussten. Der Text im Pflegeheimgesetzt lautet: "Ich nehme zur Kenntnis, dass ich ... zur Verschwiegenheit über alle mir ... bekannt gewordenen Tatsachen verpflichtet bin." Die Gemeinde Wien, wie auch andere Altersheimbetreiber zwingen den Beschäftigten den Vertrag der Verschwiegenheitspflicht auf. Schließlich geht es hier um Liegenschaften, Wertpapiere und um angespartes Geld und um die laufenden Einnahmen von Pensionen, über die die Pensionisten keine Verfügungsgewalt mehr haben. Wie die Gelder fließen und welche Interessen das Geld bedient, soll in der Dunkelheit bleiben. Auch die amtsführende Frau Magister Sonja Wehsely, die für Gesundheit und Soziales und somit auch für die Altersheime zuständig ist, nützt die Verschwiegenheitspflicht dahingehend aus, um ihre asozialen Sparmaßnahmen in den Altersheimen umzusetzen.

So sorgt sie sich mehr um die Bilanzen der beiden Gesellschaften "Fonds Soziales Wien" und des Kuratoriums als um die Bedürfnisse der Pensionisten. Bei der einen Gesellschaft spart sie bei den Pflegestufen und bei der Anderen beim Einkommen der ArbeiterInnen. Aus diesem Grunde werden seit dem Jahr 2011 die Altersheime umstrukturiert. Die Pensionistinnen dürfen nur dann die "Häuser zum Leben" in Anspruch nehmen, wenn Pflegebedarf vorliegt. Deshalb entscheidet nicht mehr das Kuratorium, sondern die Gesellschaft "Fonds Soziales Wien" wer in ein Altersheim einziehen darf. Was das Einsparen beim Einkommen der Beschäftigten betrifft, so werden alle Arbeitsplätze in der unteren Hierarchie, im Bereich der Betreuung, Pflege, Therapie, Küchen und Reinigung, nur von Beschäftigten besetzt, die in atypischen Arbeitsverhältnissen angestellt sind. Wahrscheinlich wird der Aufwand an menschlicher Betreuung reduziert und die Freiräume der PensionistInnen im Verhältnis verringert, wie die Arbeitszeiten der ArbeiterInnen eingespart werden. Wie sich auch immer die Interessen der Gesellschaft "Fonds Soziales Wien" und die des Kuratoriums auf die pflegebedürftigen Menschen auswirkt und wie die Gelder und das Vermögen der Pensionisten verwaltet, verteilt und aufgebraucht wird, wird auch in der Zukunft wegen der Verschwiegenheitspflicht vor uns verborgen bleiben. Denn über die Altersheime ist der gleiche Schirm der Verschwiegenheitspflicht gespannt, wie er seinerzeit über die Konzentrationslager und über die Erziehungsheime gespannt war.

Kommen wir zum Schluss. Wie können die Beschäftigten eine solidarische Interessensgemeinschaft bilden, wenn sie zum Schweigen gezwungen werden? Die Grundlage einer solidarischen Gemeinschaft besteht im gegenseitigen Informationsaustausch und gerade der Informationsaustausch ist den Beschäftigten durch die Verschwiegenheitspflicht entzogen. Die Verschwiegenheitspflicht ist die gesetzliche Verordnung zur Intransparenz, sie erschwert die Wahrnehmung der wirklichen Verhältnisse und isoliert die Menschen voneinander. Die Einstellung, wie die sozialdemokratische Stadtverwaltung zur Transparenz steht, steht im Widerspruch zu ihrer selbst dargestellten Gesinnung. Als seinerzeit die sozialistische Partei im Interessenskonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital noch auf der Seite der LohnarbeiterInnen stand, kämpfte sie für ihre Meinungs- und Redefreiheit; heute verordnet sie das Gegenteil, obwohl sie genau weiß, dass die Verschwiegenheitspflicht die ArbeiterInnen entmündigt.

Der Zwang zur Verschwiegenheit, diese Pflicht schützt nicht den Menschen, sondern dient der politischen Repression und der Aufrechterhaltung autoritärer Verhältnisse und schützt die Interessen krimineller Organisationen. Alle Erfahrungen mit der gesetzlichen Verordnung, die den Menschen zum Schweigen zwingen, zeigen uns, dass es letztlich nur um Verdunkelung, Korruption und Unterdrückung geht, also genau das Gegenteil von all dem was transparent, demokratisch, sozial und solidarisch ist.

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Quelle:
© 2012 by Gilbert Karasek
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2012