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STANDPUNKT/263: Damaskus darf nicht Aleppo werden (AIK)


Antiimperialistische Koordination

Damaskus darf nicht Aleppo werden

Moaz al Khatibs Gesprächsangebot aus der Tiefe der syrischen Gesellschaft

von Wilhelm Langthaler, 14. Februar 2013



Das erstmalige Angebot des Chefs der offiziellen syrischen Opposition, der "Syrian National Coalition", zu direkten Verhandlungen mit der Assad-Regierung zeigt eine Veränderung größter Bedeutung an. Wichtige Teile der sunnitischen Bevölkerung und wohl auch der Elite wollen den Bürgerkrieg nicht weiter (konfessionell) eskalieren lassen. Der dafür zu zahlende Preis ist ihnen einfach zu hoch. Sie wollen ihrer Hauptstadt Damaskus das Schicksal Homs' und Aleppos ersparen. Nun versuchen sie die Notbremse zu ziehen.

Bisher hatten nur die von der Linken geführten Tahrir-Demokraten um den "National Coodination Body for Democratic Change" (NBC) systematisch vor der gefährlichen Dialektik zwischen Militarisierung und Konfessionalismus gewarnt. Sie waren von Anfang an für politische Verhandlungen und eine defensive, de-eskalierende Strategie gegenüber der Regime-Repression eingetreten. (Option I) Aufgrund der Härte der Reaktion des herrschenden Apparats, seiner regelrechten Politik der verbrannten Erde, konnte der NCB von der offiziellen Opposition jedoch leicht als "Agenten des Regimes" isoliert werden - obwohl viele ihrer Exponenten jahrzehntelang Widerstand geleistet und im Gefängnis verbracht hatten, während die heutigen Vertreter der offiziellen Opposition passiv geblieben oder sogar kooperiert oder aber das Land verlassen hatten.

Die offizielle Opposition, ein Bündnis aus Muslimbrüdern, Linken und Liberalen, hatte ihrerseits sehr schnell auf die militärische Eskalation und vor allem auf eine ausländische Intervention nach dem libyschen Vorbild gesetzt. (Option II) Dabei kam ihr die ausufernde militärische Repression des Regimes zugute, die die anfangs friedliche und zivile Bewegung verunmöglichte und einen organischen Zug hin zur bewaffneten Selbstverteidigung hervorrief.

Doch zu einem direkten militärischen Eingreifen des Westens kam es nicht. Wesentlicher Grund dafür ist die Schwäche und entsprechende Vorsicht der USA angesichts der Erfahrungen im Irak und in Afghanistan, die sich in der Linie Obamas ausdrückt.

In Syrien selbst löste die Militarisierung Schritt für Schritt eine Verschiebung innerhalb der Aufstandsbewegung hin zu salafitischen und jihadistischen Kräften aus, die ideologisch fester und vor allem kampfkräftiger sind - auch Dank der finanziellen Unterstützung aus den Golfstaaten. Natürlich spielen die globalen Jihadis eine wichtige Rolle, aber es griffe bei weitem zu kurz, das Phänomen nur extern erklären zu wollen. Nachdem die Linke an den Rand gedrängt war und eine ausländische Intervention sich als unwahrscheinlich erwies, bot sich nun die radikal- konfessionelle Variante an - der Bürgerkrieg gegen die Ungläubigen und Häretiker. (Option III)

Politisch war es immer das Ziel des Regimes, die Opposition als schlimmes fundamentalistisches Monster aussehen zu lassen. Die reale Islamisierung oder besser die Jihadisierung der Opposition bewirkte politisch eine Stabilisierung des Regime-Blocks. Anstatt Demokratie zählt nun mehr Konfession. Damit konnte und kann das Regime nicht nur die Minderheiten auf seiner Seite behalten oder zumindest neutralisieren - die verständliche Angst vor dem Islamismus hegen -, sondern auch gute Teile der sozialen Eliten und des liberalen Mittelstandes, die zwar der sunnitischen Konfession angehören, aber mit dem destabilisierenden Jihad nichts zu tun haben wollen. Allein auf die Minderheiten gestützt hätte Assad jedenfalls nicht so lange überleben können.

Nicht zu vergessen, dass auch die USA kein Interesse an einem Überhandnehmen des Jihadismus haben. Mit dem symbolischen Verbot der Nusra- Front haben sie das klar zum Ausdruck gebracht. Bis auf die Golf-Staaten will das keine der regionalen Mächte. Damit tendieren auch Länder wie die Türkei zum Zurückrudern.

Es hat sich also national wie international eine Pattsituation verfestigt, die militärisch unmittelbar nicht aufzulösen ist.

Der Gang der Dinge in Homs und Aleppo zeigt, dass auch der Jihadismus zum Scheitern verurteilt ist. In Homs, der Hauptstadt der Revolte, konnte das Regime die Jihadis in einem Kessel von der Bevölkerung isolieren. Die konfessionelle Trennung wurde de facto bereits vollzogen. Das Regime kontrolliert wieder wichtige Teile der Stadt, in der sich eine große Mehrheit der Bevölkerung aufhält. Man könnte sogar von einem Teilerfolg des Regimes sprechen. In Aleppo wiederum tobt der Krieg seit bald einem Jahr. Das Regime bombardiert Wohnviertel mit Artillerie, während die Jihadisten mit konfessionellen geprägten Anschlägen zurückschlagen. Terror versus Gegenterror. Von ehemals vier Millionen Einwohnern ist eine Million geflüchtet, das öffentliche Leben ist paralysiert und von der Stadt bleibt nur mehr Schutt und Asche. Durch die Nähe zur Türkei kann zwar der militärische Nachschub der Rebellen aufrecht erhalten werden, während das Regime nur strategische Bereiche zu halten vermag. Doch versorgen können die Rebellen die Zivilbevölkerung nicht.

Wer in Syrien kann sich ein solches Schicksal für Damaskus wünschen, das knapp davor steht ebenfalls in den Abgrund gestoßen zu werden?


Hoffnung auf einen befriedenden Kompromiss

Die offizielle Opposition argumentierte ihre Politik bisher mit dem Willen des Volkes, der gefiltert und gefärbt über die Medien wie Al Jazeera, zum Ausdruck kam. So verwiesen sie bei ihrer Forderung nach militärischer Intervention sowie der Bewaffnung durch den Westen auf den Druck der Straße. Das gleiche Spiel wurde mit der Verweigerung von Verhandlungen und einer politischen Lösung gespielt. Jeder der dafür eintrat, wie die Vertreter der Linken, wurde also Verräter gebrandmarkt.

Es gab dennoch auch bisher islamische Würdenträger außerhalb der Muslimbrüder, die gegen die konfessionelle Mobilisierung und ihre Steigerung in den Bürgerkrieg auf der einen Seite und für den Dialog auf der anderen Seite eingetreten waren. Doch sie getrauten oder waren nicht fähig sich öffentlich, in der politischen Sphäre zu äußern. Moaz al Khatib hatte vor seiner Ernennung zum Chef der "Syrian National Coalition" als einer von diesen Moderaten gegolten. Man darf jedoch nicht vergessen, dass er mit seiner Funktionsübernahme auf die Positionen der offiziellen Opposition eingeschwenkt war. Dass die Bildung der "Coalition" und die damit einhergehende Schwächung des "Syrian National Council" dennoch eine Aufweichung der hartem Bürgerkriegslinie darstellt, bestätigt sich nun mit seiner Aussage.

Khatib machte sein Gesprächsangebot überraschend, für seine Bündnispartner musste es sogar putschartig erscheinen. Tatsächlich hätte es gegen den Council und die Coalition nie durchsetzen können. So blieb ihnen nichts anderes als wütend auf Khatib zu schimpfen. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass Khatib isoliert wäre. Seine Aussage ist keine Eintragsfliege, keine unüberlegte, unausgegorene Idee. Sie kann auch kaum ohne Rücksprache bzw. Rückversicherung erfolgt sein. Vielmehr lesen wir sie als Stimme gewichtiger Kräfte im Inneren wie im Äußeren, die bisher unartikuliert geblieben waren.

Viele interpretieren es als einen verzweifelten Versuch der Damaszener Bourgeoisie und des Mittelstandes dem Schicksal von Homs und Aleppo zu entrinnen. Ein befriedender Kompromiss erscheint ihnen als das kleinste Übel. Sie glauben nicht mehr an den militärischen Sieg einer Seite in ansehbarer Frist, sondern sehen sich mit der sie selbst untergrabenden totalen Zerstörung konfrontiert. Diese These überzeugt.

Und da sind da noch die USA, die zwar eine direkte Intervention ausschlossen, aber die von ihnen mit gestaltete Opposition in ihrer intransigenten Haltung bestärkten. Das zunehmende Erstarken der Jihadisten, ihres seit über einem Jahrzehnt liebsten Feindes, macht ihnen indes zunehmend Angst, sowohl dem herrschenden Apparat als auch der öffentlichen Meinung. Wenn Washington den Einsatz seiner überlegenen Militärmacht ausschließt, bleibt ihnen nur der Kompromiss übrig. Denn ihre Verbündeten am Golf, die sie bisher gewähren ließen, treiben ihr eigenes Spiel. Sie unterstützen ausschließlich islamistische Kräfte, in der Bandbreite von den Muslimbrüdern über diverse Salafiten bis hin zu den Jihadisten. Die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton hatte im Apparat die harte Linie vertreten, jene der offensiven Bewaffnung der Opposition. Dabei hätte man gleichzeitig auch eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses innerhalb der bewaffneten Opposition weg von den Jihadisten bewirken wollen. Doch mit dem Abtreten Clintons und der veränderten Realität "on the ground", scheint diese Linie geschwächt und sich ein Fenster für eine Verhandlungslösung zu öffnen, das Washington bisher zugehalten hatte. (Die Genfer Erklärung vom 30. Juni 2012 zwischen Washington und Moskau zeigt aber, dass es die weiche Linie auch schon vorher gab, wenn auch untergeordnet und in Wartestellung.) Obama selbst gehört eher den Tauben an, auch wenn er auf die Kräfteverhältnisse in den Eliten Rücksicht nehmen muss. Dass Moskau schon seit einem sehr frühen Zeitpunkt auf eine Verhandlungslösung gedrängt, muss hier nicht ausgeführt werden.

Damit soll keineswegs ausgesagt werden, dass ein Kompromiss im Werden wäre oder auch nur wahrscheinlich sei. Es ist nach wie vor nicht auszuschließen, dass Syrien sich in einem konfessionellen Krieg mit starker geopolitischer Dimension zerfleischt. Doch es gilt zu demonstrieren, dass es auch eine andere Möglichkeit gibt. Es ist eine politische Aufgabe nicht nur im Land, sondern auch international, diesen Kompromiss Wirklichkeit werden zu lassen.


Verrat an der Revolution?

Dass die offizielle Opposition Verrat schreit, ist nicht weiter verwunderlich und war zu erwarten. Aber es gibt auch linke Gruppen, die eine Verhandlungslösung so sehen. So erklärt die "Revolutionary Left Current", dass eine Verhandlungslösung eine "Korrektur von oben" wäre, um die Interessen der Bourgeoisie zu wahren und die Revolution ihrer Früchte zu berauben.

Dabei lieferten sie ein plausibles Kriterium zur Beurteilung von Verhandlungen und ihren Ergebnissen gleich mit: "Sie [Verhandlungen] müssen den Massen die Möglichkeiten geben ihren Kampf zum Sturz des diktatorischen Regimes fortzusetzen und nicht das Leben des Regimes zu verlängern oder gar sein Überleben zu sichern. Insbesondere geht es um radikale Veränderung von unten durch und für die Volksmassen."

Wir glauben indes nicht, dass die syrische Revolution einem klassischen marxistischen Modell folgen kann, nach der die Radikalisierung der Volksbewegung im bewaffneten Kampf zum Sturz des alten Regimes gipfelte. Zwei massive Hindernisse blockieren diesen Weg: a) der Konfessionalismus, b) die geopolitische Konstellation. Wir haben das vielfach ausgeführt [1].

Ad a) Unter den gegebenen Umständen akzentuiert der bewaffnete Kampf die konfessionelle Lesart des Konflikts und tendiert weg von der demokratischen Revolution hin zum konfessionellen Bürgerkrieg. Eine revolutionäre Linke ist unter den gegebenen Kräfteverhältnissen unmöglich in der Lage diesen Tiger zu reiten oder zu zähmen. Vielmehr läuft sie akut Gefahr von diesem verschlungen zu werden.

Ad b) Aus einsichtigen geopolitischen Gründen fürchtet Russland, der Iran und China den Fall Assads. Während wir deren Missachtung demokratischer Rechte verurteilen, kann ihre Opposition zur amerikanischen Vorherrschaft uns nicht gleichgültig sein. Die Volksbewegungen bedürfen der Schwächung der monopolaren Weltordnung wie Luft zum Atmen. Jeder Schritt hin zum Multipolarismus ist positiv, wenn auch nicht hinreichend. Die geopolitische Zuordnung der Opposition, nämlich auch der demokratischen, zum US-Block ist katastrophal. Ihr kann nur mittels eines geopolitischen Kompromisses entgegengewirkt werden, der ein demokratischeres Syrien aus dem US-Orbit heraushält.

Diese zwei entscheidenden Aspekte gebieten eine de-eskalierende Haltung, denn die Militarisierung wirkt gegen die Interessen der Volksbewegung. Das bedeutet keineswegs (bewaffnete) Selbstverteidigung abzulehnen. Ein politisches Abkommen, ein Kompromiss mit dem Regime, der mehr Freiheiten zur Fortsetzung des demokratischen Kampfes bietet, wäre die beste Etappenlösung für die demokratische Revolution, die militärisch nicht gewonnen werden kann. (Ein solcher Kompromiss würde natürlich auch eine einschneidende Änderung des Regimes mit sich bringen, das Regime verändern.)

Wenn die Damaszener Bourgeoisie schlussendlich zu einem Kompromiss ruft - umso besser. Natürlich geht es ihnen um eine "Änderung von oben", aber das war auch in Tunesien und Ägypten der Fall. Trotzdem haben sich durch den Kompromiss die Bewegungsfreiheit und entsprechend auch die Kampfbedingungen der Volksbewegung wesentlich verbessert.

Besser ein oder auch zwei Schritte zurück, als die Katastrophe eines vollen konfessionellen Bürgerkriegs zu riskieren (selbst wenn Teile der Volksmassen hinter den Jihadis stehen). Denn ein solcher Krieg löscht das Moment der demokratischen Volksrevolution aus.

Letztendlich geht es beim Verhandlungsangebot auch darum, den demokratisch-revolutionären Block überkonfessionell in der Mehrheit zu verankern. Nicht mit Waffengewalt ist das möglich (die gegenwärtig konfessionell interpretiert wird), sondern mit dem politischen Angebot für Verhandlungen in Richtung eines demokratischen Übergangs. Nur so können die konfessionellen Gemeinschaften auf die Seite der demokratischen Revolution gezogen und diese hegemonial werden.

Anmerkung:

[1] http://www.antiimperialista.org/de/topics/180


URL des Beitrags: http://www.antiimperialista.org/de/damaskus_nicht_aleppo

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Quelle:
Antiimperialistische Koordination
Kontakt: Wilhelm Langthaler
Telefon: +43-(0)650-4134677
E-Mail: aik@antiimperialista.org
Internet: www.antiimperialista.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2013