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STANDPUNKT/354: Ihre Mütter, ihre Väter (Uri Avnery)


Ihre Mütter, ihre Väter

von Uri Avnery, 1. März 2013



ES IST der Sommer 1941. Fünf junge Menschen - drei junge Männer und zwei junge Frauen - treffen sich in einer Bar und verbringen einen fröhlichen Abend, flirten mit einander, werden betrunken, tanzen verbotene ausländische Tänze. Sie sind zusammen im selben Berliner Stadtteil aufgewachsen.

Es ist eine glückliche Zeit. Der Krieg, den Adolf Hitler vor anderthalb Jahren begann, geht unglaublich gut voran. In dieser kurzen Zeit eroberte Deutschland Polen, Dänemark, Norwegen und Holland, Belgien und Frankreich. Die Wehrmacht ist unbesiegbar. Der Führer ist ein Genie, "der größte Feldherr aller Zeiten".

So beginnt der Film, der gerade in unseren Kinos läuft - ein einzigartiges historisches Dokument. Er läuft fünf atemlose Stunden und beschäftigt die Gedanken und Gefühle seiner Zuschauer noch tage- und wochenlang.

Im Grunde ist es ein Film, der von Deutschen für Deutsche gedreht wurde. Der deutsche Titel sagt alles "Unsere Mütter, unsere Väter". Der Zweck ist, die Fragen zu beantworten, die heute noch junge Deutsche beunruhigen. "Wer waren unsere Eltern und Großeltern? Was taten sie während dieses schrecklichen Krieges? Was empfanden sie? Waren sie an den schrecklichen Verbrechen beteiligt, die von den Nazis begangen wurden?

Diese Fragen werden im Film nicht deutlich beantwortet. Aber jeder deutsche Zuschauer ist gezwungen, sie zu stellen. Es gibt keine klaren Antworten. Der Film ergründet es nicht. Eher zeigt er ein breites Panorama des deutschen Volkes in Kriegszeiten, die verschiedenen Teile der Gesellschaft, die verschiedenen Typen von Kriegsverbrechern, passive Zuschauer bis zu den Opfern.

Der Holocaust steht nicht im Mittelpunkt der Ereignisse, ist aber ständig anwesend, nicht als ein besonderes Ereignis, sondern als ein in die Struktur der Realität eingewobenes Teil.


DER FILM beginnt 1941 und deshalb kann die Frage, die für mich die wichtigste wäre, nicht beantwortet werden. Wie kann eine zivilisierte, vielleicht die kultivierteste Nation in der Welt eine Regierung wählen, deren Programm offensichtlich kriminell war.

Es stimmt, Hitler wurde in freien Wahlen niemals von einer absoluten Mehrheit gewählt. Aber er kam sehr nah dran. Und er fand leicht politische Partner, die bereit waren, ihm zu helfen, eine Regierung zu bilden.

Einige sagten damals: es sei ein einzigartiges deutsches Phänomen gewesen, der Ausdruck besonderer deutscher Mentalität, während Jahrhunderten der Geschichte geformt. Diese Theorie wird nun angezweifelt. Aber wenn es so wäre, kann dies dann in einem andern Land auch geschehen? Könnte es in unserem Land geschehen? Kann es heute geschehen? Welches sind die Umstände, die das ermöglichen?

Der Film gibt keine Antwort auf diese Fragen. Er überlässt die Antworten dem Zuschauer.

Die jungen Helden des Filmes fragen nicht. Sie waren 10 Jahre alt, als die Nazis zur Macht kamen, und für sie war das "1000-Jährige Reich" (wie die Nazis es nannten) die einzige Realität, die sie kannten. Es war der natürliche Zustand der Dinge. So beginnt die Handlung.


ZWEI DER Jugendlichen waren Soldaten. Einer hatte den Krieg schon gesehen und trug einen Orden für Tapferkeit. Sein Bruder war gerade eingezogen worden. Der dritte junge Mann war ein Jude. Wie die beiden Mädchen waren sie voll jugendlichen Überschwangs. Alles sah gut aus.

Der Krieg? Nun, er kann nicht mehr lange dauern, oder? Der Führer selbst hat versprochen, dass bis Weihnachten der Endsieg errungen sein wird. Die fünf jungen Leute versprechen einander, sich an Weihnachten wieder zu treffen. Keiner hat die leiseste, böse Vorahnung der schrecklichen Erfahrungen, die allen bevorstehen.

Während ich diese Szene sah, konnte ich nicht anders, als an meine frühere Klasse denken. Ein paar Wochen nach der Machtübernahme der Nazis wurde ich ein Schüler der 1. Klasse des Gymnasiums. Meine Mitschüler waren gerade so alt, wie die Helden im Film. Sie sind 1941 eingezogen worden, und da es eine Eliteschule war, sind wahrscheinlich alle Offiziere geworden.

Nach einem halben Jahr im Gymnasium, nahm mich meine Familie mit nach Palästina. Niemals traf ich einen meiner Klassenkameraden wieder, außer einem (Rudolf Augstein, den Gründer des Magazins Der Spiegel; Ich traf ihn Jahre nach dem Krieg, und er wurde wieder mein Freund.) Was geschah mit allen anderen? Wie viele überlebten den Krieg? Wie viele waren zu Krüppeln geworden? Wie viele waren zu Kriegsverbrechern geworden?

Im Sommer 1941 waren sie wahrscheinlich noch so glücklich wie die Jugendlichen im Film, die hofften Weihnachten wieder zu Hause zu sein.


DIE BEIDEN Brüder wurden an die russische Front geschickt, eine unvorstellbare Hölle. Dem Film gelingt es, die Realitäten des Krieges zu zeigen, leicht erkennbar von jemandem, der auch ein Soldat im Kampf war. Nur dass dieser Kampf hier hundertmal schlimmer war, und der Film zeigt dies brillant.

Der ältere Bruder, ein Oberstleutnant, versucht, den Jüngeren zu schützen. Das Blutbad, das noch vier Jahre weitergeht, Tag um Tag, Stunde um Stunde verändert ihren Charakter. Sie werden brutal. Der Tod ist rund um sie. Sie sehen schreckliche Kriegsverbrechen. Sie haben den Befehl Gefangene zu erschießen, sie sehen wie jüdische Kinder abgeschlachtet werden. Am Anfang wagen sie noch schwach zu protestieren, dann behalten sie ihre Zweifel für sich; dann nehmen sie Teil an den Verbrechen, als ob es selbstverständlich wäre.

Eine der jungen Frauen meldet sich freiwillig an die Front in ein Militärkrankenhaus, wird Zeuge der schreckliche Qualen der Verwundeten, denunziert eine jüdische Krankenschwester und fühlt sofort Gewissensbisse darüber. Am Ende nahe Berlin wird sie von einem sowjet-russischen Soldaten vergewaltigt, wie fast alle deutschen Frauen in den von der rachedürstenden Sowjetarmee eroberten Gebieten.

Die israelischen Zuschauer im Kino könnten mehr am Schicksal des jüdischen Jungen interessiert gewesen sein, der an dem fröhlichen Fest zu Beginn des Filmes teilnahm. Sein Vater ist ein stolzer Deutscher, der sich nicht vorstellen kann, dass Deutsche so schlimme wie die von Hitler angedrohten Dinge tun könnten. Er denkt nicht im Traum daran, sein geliebtes Vaterland zu verlassen. Aber er warnt seinen Sohn davor, sexuelle Beziehungen zu seiner arischen Freundin einzugehen: "es ist gegen das Gesetz!"

Als der Sohn ins Ausland fliehen will, wozu ihm ein verräterischer Gestapo-Offizier "hilft", wird er geschnappt und in die Todeslager geschickt. Auf dem Weg dorthin gelingt ihm die Flucht. Er schließt sich polnischen Partisanen an (die die Juden mehr als die Nazis hassen) und überlebt schließlich.

Vielleicht ist die tragischste Figur das zweite Mädchen, eine leichtfertige, sorglose Sängerin, die mit einem ranghohen SS-Mann schläft, um ihre Karriere zu fördern. Sie wird mit ihrer Gruppe an die Front geschickt, um Soldaten zu unterhalten. So sieht sie, was dort wirklich geschieht, äußert sich über den Krieg, wird ins Gefängnis gesteckt und in den letzten Stunden des Krieges hingerichtet.


ABER DAS Schicksal der Helden ist nur das Gerüst des Filmes. Viel wichtiger sind die kleinen Momente des täglichen Lebens, das Portrait verschiedener Charaktere der deutschen Gesellschaft.

Zum Beispiel, als ein Freund eine Wohnung besucht, in der die jüdische Familie zuvor gelebt hat, und die blonde arische Frau, der die Wohnung zugewiesen worden ist, sich über den Zustand der Wohnung beschwert, aus der die Juden heraus geholt und in den Tod geschickt worden sind. "Sie haben nicht einmal sauber gemacht, bevor sie sie verließen. So sind die Juden, ein schmutziges Volk!"

Jeder lebt in ständiger Angst, denunziert zu werden. Es ist ein alles durchdringender Terror, dem sich keiner entziehen kann. Selbst an der Front mit dem Tod vor Augen, wird ein Soldat, der eine Andeutung von Zweifel über den Endsieg äußert, sofort von seinen Kameraden zum Schweigen gebracht. "Bist du verrückt?"

Noch schlimmer ist die erstickende Atmosphäre der allgemeinen Übereinstimmung. Vom höchsten Offizier bis zum niedrigsten Dienstmädchen, wiederholt jeder endlos die Propagandaparolen des Regimes. Nicht aus Angst, sondern weil sie jedes Wort der alles durchdringenden Propagandamaschine glauben. Sie hören nichts anderes.

Es ist immens wichtig, dies zu verstehen. In einem totalitären Staat, faschistisch oder kommunistisch oder sonst etwas, können nur wenige freie Geister den sich endlos wiederholenden Slogans der Regierung widerstehen. Alles andere klingt irreal, anormal, verrückt. Als die sowjetische Armee schon ihren Weg durch Polen erkämpfte und sich Berlin näherte, glaubten die Leute noch immer fest an den Endsieg. Schließlich hatte der Führer es so gesagt, und der Führer hat immer Recht. Allein die Idee ist grotesk.

Dieser Bestandteil der Situation ist für viele schwer zu verstehen. Ein Bürger unter einem kriminellen, totalitären Regime wird wie ein Kind. Propaganda wird für ihn zur Realität, der einzigen Realität, die er kennt. Sie ist wirksamer als selbst der Terror.


DIES IST die Antwort auf die Frage, die wir unbedingt immer wieder stellen müssen: Wie war der Holocaust möglich? Er wurde von einigen geplant, wurde aber von Hunderttausenden Deutscher durchgeführt, vom Lokomotivführer bis zu dem Beamten, der die Papiere ordnete. Wie konnten sie es tun?

Sie konnten, weil es für sie das natürlichste Ding war, es zu tun. Schließlich waren die Juden dabei, Deutschland zu zerstören. Die kommunistischen Horden bedrohten das Leben jedes wahren Ariers. Deutschland benötigte mehr Lebensraum der Führer hat das so gesagt.

Deshalb ist der Film so bedeutend, nicht nur für die Deutschen, sondern für jedes Volk, einschließlich des unsrigen.

Die Leute, die sorglos mit Ultra-Nationalisten, Faschisten, Rassisten oder anderen anti-demokratischen Ideen spielen, realisieren nicht, dass sie mit dem Feuer spielen. Sie können sich nicht einmal vorstellen, was es bedeutet, in einem Land zu leben, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, das die Demokratie verachtet, das ein anderes Volk unterdrückt, das Minderheiten dämonisiert. Der Film zeigt wem oder was es gleicht: der Hölle.


DER FILM verbirgt nicht, dass die Juden die Hauptopfer im Nazireich waren und nichts ihrem Leiden nahe kommt. Das zweite Opfer war das deutsche Volk, Opfer seiner selbst.

Viele Leute bestehen darauf, dass nach diesem Trauma die Juden sich nicht wie normale Menschen benehmen können und dass deshalb Israel nicht nach den Standards normaler Staaten beurteilt werden kann. Sie sind traumatisiert.

Dies trifft auch für das deutsche Volk zu. Allein die Notwendigkeit, diesen ungewöhnlichen Film zu produzieren, beweist, dass das Nazigespenst noch immer die Deutschen verfolgt, dass sie noch immer von ihrer Vergangenheit traumatisiert sind.

Als Angela Merkel in dieser Woche Benjamin Netanjahu besuchte, lachte die ganze Welt über das Foto, auf dem der Schatten des Fingers des Ministerpräsidenten versehentlich einen Schnauzbart ins Gesicht der Kanzlerin wirft.

Aber die Beziehungen zwischen unsern beiden traumatisierten Völkern sind weit davon entfernt, ein Witz zu sein.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 01.03.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2014