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STANDPUNKT/392: Ja, wenn ich 25 wäre! (Uri Avnery)


Ja, wenn ich 25 wäre!

von Uri Avnery, 27. September 2014



UNTERSUCHUNGEN ZEIGEN, dass das am meisten gebrauchte Wort im Hebräischen "Schalom" ist. Israelis grüßen einander mit "Schalom" und viele tun dasselbe, wenn sie sich verabschieden. (Die anderen gebrauchen den Slangausdruck "jallah bye", das eine Wort ist arabisch, das andere englisch.)

Schalom ist kein Synonym für das europäische Wort "Frieden", wie viele glauben. Es bedeutet weit mehr. Es gründet sich auf die hebräische Wortwurzel "ganz" und vermittelt den Sinn von "Ganzheit", Sicherheit, Wohlbefinden. In keiner europäischen Sprache kann man sagen: "unsere Soldaten griffen den Feind an und kehrten im Frieden zu ihrer Basis zurück".

Auf Arabisch hat Salaam dieselbe Bedeutung.

Aber selbst in seiner begrenzten Bedeutung von Frieden drückt Schalom ein tiefes menschliches Verlangen aus. Seit dem Altertum sehnten sich die Menschen nach Frieden und fürchteten den Krieg. "Dona nobis pacem" - "(Gott,) gib uns Frieden" ist Teil der katholischen Messe. Mehrere Komponisten haben dies vertont. Ich erinnere mich, dass ich es als Kind im Kanon gesungen habe.

Doch im heutigen Israel wirkt das Wort "Frieden" im politischen Diskurs fast unanständig. Man mag noch einen Wunsch für ein "politisches Abkommen" ausdrücken, aber selbst das klingt schon etwas verdächtig.

Es ist Mode geworden, zu sagen, dass die Friedensbewegung im Begriff ist, auszusterben. Dass die Zwei-Staaten-Lösung tot ist, während die sog. "Ein-Staat-Lösung" tot geboren ist.

Der sicherste Weg ist "Ich bin ganz für den Frieden, aber."


VOR KURZEM hat der Haaretz-Kolumnist Ari Shavit, der unter amerikanischen Juden beliebt ist, einen Artikel geschrieben, in dem er die "extreme Rechte" und die "extreme Linke" gleichermaßen verurteilt - diejenigen, die den Krieg befürworten und jene, die für Frieden sind. Es gelang ihm, einen stürmischen Protest hervorzurufen. Die Linken protestierten, sie hätten nie einen Opponenten ermordet, besonders keinen Ministerpräsidenten, während die vom rechten Flügel dies und vieles andere getan haben.

Kann man die Parteiführerin der Merez-Partei Zehava Galon mit Miri Regev vom Likud vergleichen? (Vor kurzem verklagte Regev, eine gut aussehende frühere Armee-Sprecherin, einen Blogger, weil er sie "eine Hure mit einem Mund wie eine Jauchegrube" nannte. Die Anklage wurde vom Gericht zurückgewiesen.)

Die Besten und Intelligentesten Israels griffen Shavit an. Der Kolumnist Akiva Eldar, der weltbekannte Bildhauer Dan Karavan (der die Wand hinter dem Knesset-Sprecher schuf) und viele andere verurteilten seine Argumentation. Wie kann man die beiden nur vergleichen?

Die Rechte führt uns in einen Apartheidstaat, in dem eine jüdische Minderheit die arabische Mehrheit unterdrücken wird, während die Linke eine Situation befürwortet, in der beide Völker Seite an Seite im Frieden leben. Wo ist die Symmetrie?

Aber Kolumnisten lieben Symmetrie. Indem man beide Seiten verurteilt, erweckt man den Eindruck von Erhabenheit und Fairness. Außerdem gibt das ihren Lesern das Gefühl, sie seien Freigeister, die weit über dem Tumult der Massen schweben.

Für Politiker ist die Versuchung sogar noch größer. Die Linken wie die Rechten behaupten, zum "Zentrum" zu gehören, denn sie gehen davon aus, dass dort die meisten Stimmen zu holen sind. Wenn ein Politiker rechts ist, nimmt er an, dass ihn die Rechten ohnehin wählen, deshalb erscheint es ihm lohnender, sich um die Wähler des "Zentrums" zu bemühen. Dasselbe gilt für die Linken.

Dies führt zu einer Korruption des politischen Prozesses. Beide Seiten verbergen oder spielen ihre wahren Ansichten herunter, um einer Gruppe von Wählern zu gefallen, die überhaupt keine Ansichten haben und denen dies, offen gesagt, völlig egal ist.

Mit anderen Worten, diejenigen, die sich am wenigsten Gedanken um die Zukunft der Nation machen, werden entscheiden, wer die Nation in die Zukunft führt.

Das lässt einen an Winston Churchill denken, der sagte, der beste Weg an der Demokratie zu verzweifeln, sei, fünf Minuten mit einem Wähler zu reden. Doch derselbe Churchill sagte auch: Demokratie ist zwar ein schlechtes System, aber alle anderen Systeme, die jemals ausprobiert worden sind, sind noch schlechter.


SHAVIT IST nicht gegen den Frieden. Im Gegenteil, er liebt den Frieden.

Er legt einen großzügigen Friedensplan vor: Wenn Mahmoud Abbas unmissverständlich Ehud Olmerts Friedensvorschlag akzeptiert und wenn alle arabischen Staaten alle Forderungen, die die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge betreffen, aufgeben, dann wird er, Shavit, bereit sein, um den Frieden zu verhandeln.

Das klingt für mich etwas naiv.

Olmert legte seinen Friedensvorschlag vor, als er im Begriff war, sein Amt aufzugeben, nachdem er wegen Korruption angeklagt worden war. Ich erinnere mich nicht an seinen Inhalt, und ich habe den Verdacht, dass ihn auch niemand anders im Gedächtnis hat. Er erfüllte nicht die minimalsten palästinensischen Bedingungen. Warum sollte Abbas von einem abgedankten Politiker einen israelischen Plan akzeptieren, bevor Friedensverhandlungen auch nur angefangen haben?

Was die Flüchtlinge betrifft, so ist dies noch naiver. Der Anspruch der Flüchtlinge ist bei weitem die stärkste Karte der arabischen Diplomaten. Sie mögen sie aufgeben, aber nur nach einem langen und harten Kampf für einen adäquaten Preis: einen palästinensischen Staat, eine Hauptstadt in Ostjerusalem und eine Verbindung zwischen der Westbank und dem Gazastreifen - für den Anfang.

Die Forderungen, noch vor den Verhandlungen aufzugeben, sind wohl ein bisschen unrealistisch. Es zeigt, dass Shavit keine Ahnung hat, was Frieden bedeutet.


DIE ISRAELISCHE Linke ist nicht tot. Sie ist - wie die Deutschen sagen - "scheintot"; sie lebt noch, wird aber für tot gehalten. (Einer meiner Alpträume in der Kindheit war, lebendig begraben zu werden.)

Die Labor-Partei ist ein bemitleidenswertes Überbleibsel der mächtigen Kraft, die sie einmal als Führung der Gemeinschaft vor der Staatsgründung und des Kampfes für die Schaffung Israels gewesen ist. Heute wird sie von bemitleidenswerten Leuten angeführt und vor allem von dem offiziellen "Führer der Opposition" Yitzhak Herzog. Während des letzten Krieges war die Partei stumm, außer dass sie Benjamin Netanjahu von Zeit zu Zeit einen unerbetenen Rat gegeben hat, wie er den Krieg besser führen könnte.

Die Meretz-Partei war kaum redseliger. Solange die Kanonen dröhnten, schwiegen ihre Musen.

Keine der beiden Parteien hat die geringste Chance, den Ereignissen eine andere Richtung zu geben. Bei Umfragen erhält Herzog keine 10% für den Posten des Ministerpräsidenten.

Und die arabischen Parteien? Wer fragt da? Niemand? Gut so.


AN MEINEM 91. Geburtstag vor zwei Wochen habe ich mich gefragt: Wenn ich 25 wäre und unbedingt aktiv werden wollte, wie würde ich darangehen, eine neue Linke zu schaffen?

Mein erster Rat für mich selbst würde sein: Benimm dich nicht wie der Aborigine, der einen neuen Bumerang kaufte und den alten wegwarf, der ihn genau auf den Kopf schlug. Ich würde den alten Bumerang in einen geschlossenen Schrank verbannen und einen glänzenden neuen erwerben.

Wie? Zuerst würde ich alle alten Slogans, Appelle und Handelsmarken los werden und mit dem Begriff "Links" beginnen.

Was bedeutet für einen durchschnittlichen Israeli das Wort "Links"? Die anderthalb Millionen "russischen" Immigranten verbinden damit die verhasste Sowjetunion, Stalin und den KGB. Die Millionen von "orientalischen" jüdischen Bürger denken dabei an die verhasste Ashkenasi-Elite, die noch immer viele Aspekte des Landes beherrscht. Die Religiösen aller Schattierungen sehen darin die säkulare Öffentlichkeit, die Gott und seine 613 Gebote vergessen hat. Für die arabischen Bürger bedeutet es eine lange Geschichte des Betrugs durch linke Regierungen.

Wir brauchen eine neue Benennung, eine, die alle unterschiedlichen Sektoren der israelischen Gesellschaft akzeptieren und liebenswert finden: Männer und Frauen, Aschkenasen und Orientalen, Religiöse und Säkulare, Juden und Araber.

Das ist ein bisschen viel verlangt. Ich würde in jedem Sektor Gesprächsgruppen einrichten, die das untereinander ausmachen und die schließlich einen originellen hebräischen Ausdruck finden, der die Herzen der Menschen und nicht nur ihren Verstand anspricht.

Emotionen sind sehr wichtig. Seit Langem ist die israelische Linke trocken und steril und kann niemanden mehr mitreißen. Bei Demonstrationen der "zionistischen Linken" gibt es keine Begeisterung, keine erhebenden Lieder, nichts wie "We shall overcome!"

Frieden, Demokratie, Gleichheit, Humanismus - das sind keine leeren und veralteten Slogans. Verbunden mit dem Respekt für jüdische (und arabische) Traditionen und der Weisheit der Alten, sowohl für die einzigartigen Beiträge jeder der verschiedenen Sektoren als auch für das Allgemeinwohl kann das eine anregende neue Mischung ergeben.

Wir brauchen einen Traum, wie Martin Luther King so redegewandt sagte. Eine Vision. Nicht nur ein Wahlprogramm.


EINE VISION benötigt ein Mittel für ihre Realisierung. Ohne eine aufregende neue Vision kann es keine neue politische Kraft geben. Doch ohne politische Kraft bleibt die Vision ein Traum.

Die alte Linke ist todgeweiht, weil sie während der letzten sechzig Jahre kampflos alle ihre Machtmittel aufgegeben hat - von der einst mächtigen Histadrut (Gewerkschaft)-Organisation bis zu fast allen Medien. Die Krankheit der Linken, die Zersplitterung, untergräbt ihre Stärke. Wir haben eine Menge Friedens- und Menschenrechtsvereinigungen, viele von ihnen aus wunderbaren Menschen zusammengesetzt, die eine wunderbare Arbeit im Kampf gegen Krieg, Besatzung, soziale Ungleichheit und Unterdrückung leisten, doch besetzt jede eine eigene Nische. Sie sind leider unfähig, sich zu vereinigen, um selbst das elementarste gemeinsame Instrument aufzubauen.

Politik ist eine Sache von Ideen und Macht. Beide müssen von Grund auf neu gebildet werden.


ZUM GLÜCK bin ich nicht mehr 25 Jahre alt, und gerne überlasse ich die Aufgabe der jüngeren Generation.

Nach dem jüdischen Kalender begann am Donnerstag, also vor zwei Tagen, ein neues Jahr. Hoffen wir, dass es die ersten Anzeichen des Aufwachens sehen wird.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 27.09.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2014