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STANDPUNKT/393: Zwei Reden (Uri Avnery)


Zwei Reden

von Uri Avnery, 4. Oktober 2014



WENN ICH zwischen den beiden Redner-Gladiatoren wählen könnte, würde ich lieber Mahmud Abbas als Vertreter Israels wählen und Netanjahu die andere Seite vertreten lassen.

Abbas stand fast bewegungslos da und las seine Rede (auf Arabisch) mit ruhiger Würde. Ohne effekthaschende Gags.

Netanjahu benutzte alle Tricks, die man in Grundkursen für öffentliches Reden lernt. Er bewegte sein Gesicht regelmäßig von links nach rechts und zurück, streckte seine Arme aus, erhob und senkte Überzeugung heischend seine Stimme. An einer Stelle brachte er die erforderliche visuelle Überraschung. Das letzte Mal war es die kindische Zeichnung einer eingebildeten iranischen Atombombe; dieses Mal war es ein Foto von palästinensischen Kindern in Gaza, die neben einem Raketenwerfer spielen.

(Netanjahu hatte einen Vorrat von Fotos bei sich, um sie zu zeigen - ISIS - Enthauptungen und Ähnliches - eher wie ein Vertreter, der Beispiele seiner Angebote mit sich herumträgt.)

Alles ein bisschen zu glatt, zu raffiniert, zu 'aufrichtig' wie der Möbelhändler, der er einmal war.

Beide Reden wurden bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen gehalten. Abbas sprach vor zwei Wochen. Netanjahu in dieser Woche. Wegen der jüdischen Feiertage kam er später - wie jemand, der zu einer Party kommt, nachdem schon alle wichtigen Gäste gegangen sind.

Die Halle war halb leer, das spärliche Publikum bestand aus jungen Diplomaten, die gesandt waren, um die Präsenz ihrer Regierung zu demonstrieren. Sie waren offensichtlich gelangweilt.

Den Applaus lieferte die aufgeblasene israelische Delegation in der Halle und die zionistischen Würdenträger und Un-Würdenträger saßen, angeführt vom Casino-Mogul Sheldon Adelson, auf der Galerie. (Nach der Rede nahm Adelson Netanjahu in ein teures nicht koscheres Restaurant mit. Die Polizei blockierte die Straßen dorthin. Aber Adelson kritisierte öffentlich die Rede als zu moderat.)

Doch ging es nicht darum. Man macht in der Vollversammlung nicht viele Worte, um ihre Mitglieder zu überzeugen. Man spricht dort für seine Zuhörerschaft zu Hause. Netanjahu tat es und Abbas auch.


DIE REDE von Abbas war ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt: eine sehr moderate Rede in sehr extremer Sprache.

Sie war ganz klar an das palästinensische Volk gerichtet, das über das Töten und die Zerstörung im Gaza-Krieg noch vor Zorn kochte. Das veranlasste Abbas, eine sehr starke Sprache zu verwenden, die seinen Hauptzweck, den Frieden zu fördern, vereitelte. Er benutzte das Wort "Genozid" - nicht ein- sondern dreimal. Das war eine Fundgrube für die israelische Propaganda-Maschine, die seine Rede sofort als "Genozid-Rede" bezeichnete.

Während des Gaza-Krieges wurden mehr als 2000 Palästinenser getötet, die meisten Zivilisten, viele von ihnen Kinder (501), fast alle durch Bombenangriffe vom Land, aus der Luft und vom Meer. Das war brutal, ja, sogar grauenhaft, aber es war kein Genozid. Ein Genozid ist eine Sache von Hunderttausenden, Millionen - Auschwitz, die Armenier, Ruanda, Kambodscha.

Auch Abbas Rede war total einseitig. Die Hamas, die Raketen, die Angriffs-Tunnel wurden nicht erwähnt. Der Krieg war eine rein israelische Angelegenheit: sie fingen an, sie töteten, sie verübten einen Völkermord. Alles gut und schön für einen Führer, der sich selbst gegen die Anklagen verteidigen muss, zu sanft zu sein. Aber eine verpasste gute Gelegenheit, den Frieden zu fördern.

Sieht man aber von den starken Ausdrücken ab, war die Rede selbst ganz moderat, so moderat wie sie nur sein konnte. Sein wichtigster Inhalt war ein Friedensprogramm, das mit den Bedingungen übereinstimmt, die die Palästinenser vom Anfang Yassir Arafats Friedenspolitik an vorgeschlagen haben, und das mit dem übereinstimmt, was die Arabische Friedensinitiative vorschlägt.

Es bleibt bei der Zwei-Staaten-Lösung: ein Staat Palästina mit Ost-Jerusalem als seiner Hauptstadt "neben dem Staat Israel", "die Grenzen von 1967", eine miteinander abgestimmte Lösung für die Notlage der palästinensischen Flüchtlinge" (d.h. mit Israel abgestimmt, was im Wesentlichen keine Rückkehr bedeutet.) Er erwähnte auch die arabische Friedensinitiative. Womöglich könnte kein palästinensischer Führer weniger fordern.

Er verlangte auch "einen spezifischen Zeitrahmen", um das Spiel endloser "Verhandlungen" zu verhindern.

Dafür bezeichnete Netanjahu ihn als die Inkarnation alles Bösen, als Partner von Hamas, die das Äquivalent zu ISIS sei, der der Erbe Adolf Hitlers sei, dessen jetzige Verkörperung der Iran ist.


ICH KENNE Mahmoud Abbas seit 32 Jahren. Er war nicht bei meinem ersten Treffen mit Yassir Arafat im belagerten Beirut dabei, aber als ich Arafat im Januar 1983 in Tunis traf, war er dabei. Als Chef der Abteilung für Israel im PLO-Hauptquartier war er bei allen Treffen mit Arafat in Tunis dabei. Seit der Rückkehr der PLO nach Palästina habe ich Abbas mehrfach gesehen.

Er wurde 1935 in Safed geboren, wo auch meine verstorbene Frau Rachel aufwuchs. Bei unseren Treffen pflegten sie sich an ihre Kindheit dort zu erinnern und versuchten herauszufinden, ob Abbas jemals ein Patient von Rachels Vater, einem Kinderarzt, war.

Es gab einen auffälligen Unterschied zwischen den beiden Persönlichkeiten Arafat und Abbas. Arafat war auffallend, extrovertiert und kontaktfreudig. Abbas ist reserviert und introvertiert. Arafat traf mit blitzartiger Geschwindigkeit Entscheidungen. Abbas ist bedächtig und vorsichtig. Arafat war in seinen menschlichen Beziehungen herzlich, mit liebevollen Gesten, zog (buchstäblich) die menschliche Berührung vor. Abbas ist kühl und unpersönlich. Arafat brachte man Liebe entgegen, Abbas Respekt.

Aber politisch gab es fast keinen Unterschied. Arafat war nicht so extrem, wie er schien. Abbas ist nicht so moderat, wie er aussieht. Ihre Friedensbedingungen sind dieselben. Es sind die Minimalbedingungen, dem womöglich jeder palästinensische Führer - tatsächlich jeder arabische Führer - zustimmen könnte.

Da kann es Monate der Verhandlungen über Details geben, über den genauen Verlauf der Grenzen, Austausch von Land, die symbolische Anzahl der Flüchtlinge, denen erlaubt wird, zurückzukehren, Sicherheitsverabredungen, die Entlassungen der Gefangenen, Wasser und vieles mehr.

Aber die grundsätzlichen palästinensischen Forderungen sind unerschütterlich. Entweder ihr stimmt zu oder ihr lasst es bleiben.

Netanjahu sagt: Wir lassen es bleiben!



WENN MAN ES bleiben lässt - was bleibt dann übrig?

Der Status quo, natürlich. Die klassische zionistische Haltung. Es gibt kein palästinensisches Volk. Es wird keinen palästinensischen Staat geben. Gott, ob er existiert oder nicht, hat uns das ganze Land versprochen (einschließlich Jordanien).

Aber in der Welt von heute kann man dies oder ähnliche Dinge nicht sagen. Man muss einen verbalen Trick finden, um sich dem Problem zu entziehen.

Am Ende des jüngsten Gaza-Krieges versprach Netanjahu einen "neuen politischen Horizont". Kritiker waren schnell da und machten darauf aufmerksam, dass der Horizont etwas ist, das zurückweicht, sobald man sich ihm nähert. Macht nichts.

Was ist also der neue Horizont? Netanjahu und seine Ratgeber zerbrachen sich die Köpfe und kamen mit der "regionalen Lösung".

Die "regionale Lösung" ist eine neue Mode, die vor ein paar Monaten anfing, sich zu verbreiten. Einer ihrer Sprecher ist Dedi Zucker, einer der Gründer von Peace Now und ein früheres Merez-Mitglied der Knesset. Haaretz gegenüber erklärte er: Die israelisch-palästinensischen Friedensbemühungen sind tot. Wir müssen uns einer anderen Strategie zuwenden: "der regionalen Lösung". Statt mit den Palästinensern zu verhandeln, müssen wir mit der ganzen arabischen Welt verhandeln und mit ihren Führern Frieden schließen.

Guten Morgen, Dedi. Als meine Freunde und ich anfangs 1949 die Zwei-Staaten-Lösung vorbrachten, stimmten wir dem sofortigen Aufbau eines palästinensischen Staates zu - verbunden mit der Schaffung einer Semitischen Union, in der Israel, Palästina, alle arabischen Staaten, vielleicht die Türkei und auch der Iran mit eingeschlossen sind. Wir haben dies endlos wiederholt. Als der (damalige) saudische Kronprinz die arabische Friedens-Initiative vorschlug, haben wir ihre sofortige Annahme gefordert.

Es gibt überhaupt keinen Widerspruch zwischen einer israelisch-palästinensischen Lösung und einer israelisch-panarabischen Lösung. Sie sind ein und dasselbe. Die Arabische Liga wird ohne die Übereinstimmung mit der palästinensischen Führung keinen Frieden schließen und keine palästinensische Führung wird ohne den Rückhalt der Arabischen Liga Frieden schließen. (Ich bemerkte dies in einem Artikel in Haaretz an dem Tag von Netanjahus Rede).

Doch vor einiger Zeit tauchte diese "neue" Idee in Israel auf, eine Gesellschaft wurde gegründet, Geld wurde gespendet, um sie zu propagieren. Wohlmeinende Linke schlossen sich an. Ich habe mich gewundert - schließlich bin ich nicht erst gestern auf die Welt gekommen.

Nun kommt Netanjahu in die Vollversammlung und sagt genau dasselbe. Halleluja! Da ist eine Lösung. Die "Regionale". Nun ist es nicht mehr nötig, mit den boshaften Palästinensern zu reden. Wir können mit den "moderaten" arabischen Führern reden.

Von Netanjahu kann nicht erwartet werden, sich mit Einzelheiten abzugeben. Was für Bedingungen hat er im Kopf? Welche Lösung für Palästina? Große Männer können sich nicht mit Kleinigkeiten abgeben.

Die ganze Sache ist natürlich lächerlich. Selbst jetzt, nachdem mehrere arabische Staaten sich der amerikanischen Koalition gegen ISIS angeschlossen haben, möchte sich keiner der Staaten in Gesellschaft von Israel sehen lassen. Die USA haben Israel diskret und höflich aufgefordert, sich doch bitte rauszuhalten.


NETANJAHU IST immer schnell dabei, sich ändernde Umstände so zu nutzen, dass sie seiner unveränderlichen Haltung förderlich sind.

Das neueste heiße Problem ist ISIS (oder der Islamische Staat, wie er jetzt lieber genannt werden will.) Die Welt ist entsetzt über seine Grausamkeiten. Jeder verurteilt sie.

Netanjahu bringt all seine Feinde mit ISIS in Zusammenhang: Abbas, Hamas, Iran - sie alle sind ISIS.

Im Logik-Unterricht hört man eine Geschichte über einen Innuit, der in die Stadt kommt und zum ersten Mal Glas sieht. Er nimmt es in seinen Mund und beginnt zu kauen. Seine Logik: Eis ist durchsichtig. Glas ist durchsichtig. Eis kann gekaut werden - also kann Glas auch gekaut werden.

Dieselbe Logik sagt: ISIS ist islamistisch. ISIS kämpft um ein weltweites Kalifat. Hamas ist islamistisch. Also will Hamas ein weltweites Kalifat.

Alle wollen die Welt beherrschen. Wie die "Weisen von Zion".

Netanjahu rechnet mit der Tatsache, dass die meisten Leute nicht wissen, worüber er spricht. Derselben Logik zufolge gehört Frankreich zu ISIS. Tatsache ist: in der Französischen Revolution hat man geköpft, ISIS köpft. Vor einiger Zeit köpften die Briten ihren König. Alle sind ISIS.

In Wirklichkeit gibt es, mit Ausnahme ihrer bekennenden Zugehörigkeit zum Islam, überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen Hamas und ISIS. ISIS lehnt alle nationalen Grenzen ab, er will einen islamischen Weltstaat. Hamas ist äußerst nationalistisch. Sie will einen Staat Palästina. In letzter Zeit spricht sie sogar über die Grenzen von 1967.

Es kann keine Ähnlichkeiten zwischen ISIS und dem Iran geben. Sie stehen auf einander entgegengesetzten Seiten der islamischen Geschichte. ISIS ist sunnitisch, der Iran schiitisch. ISIS will Bashar al-Assad absetzen und möglichst auch köpfen, während der Iran Assads Hauptunterstützer ist.


ALLE DIESE Fakten sind jedem bekannt, der sich für Politik interessiert. Sie sind sicher den Diplomaten in den Korridoren der UN bekannt. Warum also wiederholt Netanjahu diese falschen Darstellungen (um es vorsichtig auszudrücken) vom UN-Rednerpult aus?

Weil er nicht zu Diplomaten sprach. Er sprach zu den primitivsten Wählern in Israel, die stolz darauf sind, einen so fließend Englisch sprechenden Vertreter zu haben, der sich an die Welt wendet.

Und überhaupt - wen kümmert es schon, was die Gojim denken?



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 04.10.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2014