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STANDPUNKT/394: Kreuzfahrer und Zionisten (Uri Avnery)


Kreuzfahrer und Zionisten

von Uri Avnery, 11. Oktober 2014



IN LETZTER ZEIT sind die Wörter "Kreuzfahrer" und "Zionisten" immer öfter als Zwillinge erschienen. In einer Dokumentation über ISIS, die ich gerade sah, tauchen sie in fast jedem Satz auf, den die islamistischen Kämpfer, einschließlich Teenager, äußern.

Vor etwa 60 Jahren schrieb ich einen Artikel mit genau dieser Überschrift: "Kreuzfahrer und Zionisten". Vielleicht war er überhaupt der erste über dieses Thema.

Er erregte eine Menge Widerspruch. Zu jener Zeit war es ein zionistischer Artikel über Glauben, der jede Ähnlichkeit bestritt, Gott bewahre. Im Gegensatz zu den Kreuzfahrern sind die Juden eine Nation. Im Gegensatz zu den Kreuzfahrern, die im Vergleich zu den zivilisierten Muslimen jener Zeit Barbaren waren, sind die Zionisten technisch überlegen. Im Gegensatz zu den Kreuzfahrern, verließen sich die Zionisten auf die Arbeit ihrer Hände. (Das war natürlich vor dem Sechs-Tage-Krieg).


ICH HABE schon mehrfach erzählt, was mich mit der Geschichte der Kreuzfahrer verbindet, aber ich kann der Versuchung nicht widerstehen, es noch einmal zu tun.

Während des 1948er-Krieges kämpfte meine Kommando-Einheit im Süden. Als der Krieg zu Ende war, blieb ein schmaler Streifen Land entlang des Mittelmeeres in ägyptischer Hand. Wir nannten ihn den "Gazastreifen" und bauten rund um ihn Außenposten.

Ein paar Jahre später las ich Steven Runcimans monumentale "Geschichte der Kreuzfahrer". Meine Aufmerksamkeit wurde sofort auf eine seltsame Übereinstimmung gelenkt: nach dem ersten Kreuzfahrerzug blieb ein schmaler Streifen am Mittelmeer in ägyptischer Hand. Er reichte einige Kilometer über Gaza hinaus. Die Kreuzfahrer bauten eine Reihe Festungen, um ihn einzugrenzen. Die befanden sich fast an denselben Orten wie unsere eigenen Außenposten.

Als ich die drei Bände fertig gelesen hatte, tat ich etwas, was ich nie vorher und danach getan hatte. Ich schrieb einen Brief an den Autor. Nachdem ich das Werk gelobt hatte, fragte ich ihn: Haben Sie je über die Ähnlichkeit zwischen ihnen und uns nachgedacht?"

Die Antwort kam innerhalb weniger Tage. Er habe nicht nur einmal darüber nachgedacht, schrieb Runciman, sondern er denke immerzu darüber nach. Tatsächlich wollte er dem Buch einen Untertitel geben "Ein Führer für Zionisten, wie man es nicht tun sollte". "Doch meine jüdischen Freunde rieten mir davon ab", bemerkte er. Falls ich einmal zufällig durch London käme, fügte er hinzu, würde er sich freuen, wenn ich ihn anriefe.

Zufällig war ich ein paar Monate später in London und rief ihn an. Er bat mich, sofort zu ihm zu kommen.

(Der Name Runciman war mir vertraut: Sein Vater Walter, ein Vicomte, war von Neville Chamberlain 1938 als Vermittler zwischen Nazi-Deutschland und den Tschechen ausgesandt worden und empörte die Welt, indem er die Deutschen mit "Heil Hitler" grüßte.)


STEVEN RUNCIMAN machte mir selbst die Tür auf. Ein großgewachsener britischer Gentleman um die Fünfzig. Da ich unheilbarer anglophil bin, war ich von seinen aristokratischen Manieren entzückt.

Nach einem Glas Sherry vertieften wir uns in eine Diskussion über Parallelen zwischen Kreuzfahrern und Zionisten und verloren jedes Zeitgefühl. Stundenlang verglichen wir Ereignisse und Namen. Wer war der Herzl der Kreuzfahrer (Papst Urban), wer war der Ben Gurion der Kreuzfahrer (Godfrey? Baldwin?). Wer war der zionistische Reynald von Chatillon (Moshe Dayan), wer der israelische Raymond von Tripoli, wer befürwortete den Frieden mit den Muslimen (Runciman deutete freundlicherweise auf mich).

Jahre später lud Runciman meine Frau und mich nach Schottland ein, wohin er umgezogen war, um in einem alten Beobachtungsturm nahe Lockerbie zu leben. Der war zur Verteidigung gegen England gebaut worden. Während des Essens, das von einem einzigen Diener serviert wurde, sprach er über die Geister, die in dem Ort spuken. Rachel und ich waren erstaunt, als uns klar wurde, dass er wirklich an sie glaubte.


DIE BEIDEN historischen Bewegungen sind durch wenigstens sechs Jahrhunderte voneinander getrennt und ihre politischen, sozialen, kulturellen und militärischen Hintergründe sind natürlich total verschieden. Aber einige Ähnlichkeiten sind offensichtlich.

Die Kreuzfahrer und die Zionisten (wie auch die Philister vor ihnen) drangen in Palästina vom Westen ein. Das Meer und Europa im Rücken, standen sie der muslimisch-arabischen Welt gegenüber. Sie lebten in einem ständigen Krieg.

In jener Zeit identifizierten sich die Juden mit den Arabern. Die schrecklichen Massaker an den jüdischen Gemeinden entlang des Rheins, die von einigen Kreuzfahrern auf ihrem Weg ins Heilige Land begangen wurden, haben sich dem jüdischen Bewusstsein tief eingeprägt.

Nach der Eroberung Jerusalems begingen die Kreuzfahrer noch ein weiteres abscheuliches Verbrechen, indem sie alle muslimischen und jüdischen Bewohner abschlachteten, Männer, Frauen und Kinder, so dass sie "bis zu ihren Knien in Blut wateten", wie ein christlicher Chronist es ausdrückte.

Haifa, eine der letzten Städte, die die Kreuzfahrer einnahmen, wurde von seinen jüdischen Bewohnern verteidigt, Schulter an Schulter mit den Soldaten aus der muslimischen Garnison.


ICH WURDE erzogen, die Kreuzfahrer zu hassen, aber mir war der abgrundtiefe Hass der Muslime nicht bewusst, bis ich den arabisch-israelischen Schriftsteller Emil Habibi darum bat, ein Manifest für eine israelisch-palästinensische Partnerschaft über Jerusalem zu unterschreiben. Ich hatte darin alle Kulturen aufgelistet, die in der Vergangenheit die Stadt bereicherten. Als Habibi sah, dass ich die Kreuzfahrer mit eingeschlossen hatte, weigerte er sich, zu unterschreiben. "Sie waren ein Haufen von Mördern!" erklärte er. Ich musste sie streichen.

Wenn Araber uns mit den Kreuzfahrern vergleichen, wollen sie damit sagen, dass auch wir ausländische Eindringlinge, Fremde in diesem Land und dieser Region sind.

Deshalb ist der Vergleich so gefährlich. Wenn die Araber nach sechs Jahrhunderten immer noch so einen tiefen Hass gegen die Kreuzfahrer haben, wie sollen sie sich da jemals mit uns versöhnen?

Statt unsere Zeit mit Debatten zu verschwenden, ob wir ähnlich sind oder nicht, wären wir gut beraten, aus der Geschichte der Kreuzfahrer zu lernen.


DIE ERSTE Lektion betrifft die Frage der Identität. Wer sind wir? Sind wir Europäer, die einer feindseligen Region gegenüberstehen? Sind wir "eine Mauer gegen die asiatische Barbarei", wie es Theodor Herzl einmal ausdrückte? Sind wir "eine Villa im Dschungel", nach dem berühmten Ausspruch von Ehud Barak?

Kurz gesagt, sehen wir uns als ein Teil dieser Region oder als Europäer, die zufällig im falschen Kontinent landeten?

Meiner Meinung nach, ist dies die elementare Frage des Zionismus, die auf den ersten Tag zurückgeht und alles diktiert, was wir bis zum heutigen Tag gemacht haben. In meiner Broschüre "Krieg oder Frieden in der semitischen Region", die ich am Vorabend des 48er-Krieges herausgab, stellte ich diese Frage im allerersten Satz.

Für die Kreuzfahrer war das überhaupt keine Frage. Sie waren die Blüte der europäischen Ritterschaft und sie kamen, um gegen die Sarazenen zu kämpfen. Sie schlossen mit den arabischen Herrschern Hudnas (Waffenstillstände), vor allem mit den Emirs von Damaskus, aber den Islam zu bekämpfen war ihr eigentlicher Daseinszweck. Die wenigen Befürworter des Friedens und der Versöhnung, wie der oben erwähnte Raymond von Tripoli, waren verachtete Außenseiter.

Israel ist in einer ähnlichen Situation. Stimmt, wir geben niemals zu, dass wir den Krieg wollen - es sind immer die Araber, die den Frieden verweigern. Aber von seinem ersten Tag an weigerte sich der Staat Israel, seine Grenzen festzulegen, immer bereit, sich mit Gewalt auszudehnen - genau wie die Kreuzfahrer. Heute, 66 Jahre nach der Gründung unseres Staates, befasst sich die Hälfte der täglichen Nachrichten in unseren Medien mit dem Krieg gegen die Araber - innerhalb und außerhalb Israels. (Letzte Woche verlangte unser Landwirtschaftsminister, Ya'ir Shamir, dass wir dringend Maßnahmen ergreifen müssten, um die Geburtenrate der Beduinen im Negev einzuschränken - wie Pharao in der biblischen Geschichte.)

Israel leidet an einem tief sitzenden Gefühl existenzieller Unsicherheit, die sich in unzähligen Formen ausdrückt. Da Israel in vielerlei Hinsicht eine auffallende Erfolgsgeschichte aufweist und eine Militärmacht von Weltklasse ist, stößt dieses Gefühl der Unsicherheit oft auf Verwunderung. Ich glaube, dass seine Wurzeln in dem Gefühl liegen, nicht zu dieser Region, in der wir leben, zu gehören, sondern eine Villa im Dschungel zu sein, die wirklich ein Ghetto in der Region ist.

Man könnte sagen, dieses Gefühl sei natürlich, da die meisten Israelis europäischer Abstammung seien. Aber das ist nicht wahr. 20% der israelischen Bürger sind Araber. Wenigstens die Hälfte der Juden (sie oder ihre Eltern) kamen aus arabischen Ländern, wo sie arabisch sprachen und arabische Musik hörten. Der größte sephardische Denker, Moses Maimonides (Rambam auf hebräisch), sprach und schrieb arabisch und war der persönliche Arzt des großen Salah ad-Din (Saladin). Er war so sehr ein arabischer Jude wie Baruch Spinoza ein portugiesischer Jude und Moses Mendelsohn ein deutscher Jude war.


WAREN DIE Kreuzfahrer eine kleine aristokratische Minderheit in ihrem Staat, wie zionistische Historiker immer behaupten? Das hängt davon ab, wie man zählt.

Als die ersten Kreuzfahrer in Palästina ankamen, bestand die Mehrheit der Bevölkerung noch aus Christen verschiedener östlicher Sekten. Doch die katholischen Eindringliche betrachteten sie als minderwertige Fremde. Die "Poulains", wie sie genannt wurden, wurden verachtet und diskriminiert. Sie fühlten sich den Arabern näher, als den verhassten "Franken" und waren nicht traurig, als diese hinausgeschmissen wurden. Die meisten dieser Christen konvertierten später zum Islam und waren die Vorfahren von vielen der heutigen muslimischen Palästinenser.

Eine andere Lektion ist, das Thema Einwanderung ernst zu nehmen. In der Kreuzfahrer-Gesellschaft gab es ein ständiges Kommen und Gehen. Gerade jetzt läuft in Israel eine hitzige Debatte über Auswanderung. Junge Leute, meistens gut erzogen, verlassen mit ihren Kindern Israel und ziehen nach Berlin und in andere europäische und amerikanische Städte. Die Israelis sehen jedes Jahr ängstlich auf die Bilanz: wie viele sind durch Antisemitismus nach Israel getrieben worden, wie viele Juden sind durch Krieg und rechten Extremismus nach Europa zurück vertrieben worden. Dies war für die Kreuzfahrer eine Tragödie.

Ein Hauptgrund dafür, dass die Zionisten die Parallele mit den Kreuzfahrern zurückweisen, ist ihr trauriges Ende. Nach fast 200 Jahren in Palästina mit vielen Höhen und Tiefen wurden die letzten Kreuzfahrer buchstäblich vom Hafendamm in Acco ins Meer geworfen. Wie der frühere Untergrundchef und Ministerpräsident Yitzhak Shamir gerne sagte: "Das Meer ist dasselbe Meer und die Araber sind dieselben Araber."

Die Kreuzfahrer hatten natürlich keine Atombomben und keine deutschen Unterseeboote.


WENN ISIS und andere Araber den Begriff Kreuzfahrer benutzen, meinen sie nicht nur die mittelalterlichen Invasoren. Sie meinen alle amerikanischen und europäischen Christen. Wenn sie über Zionisten sprechen, meinen sie alle jüdischen Israelis, oft alle Juden.

Ich glaube, dass die Verbindung der beiden Termini äußerst gefährlich für uns ist. Ich fürchte mich nicht vor den militärischen Fähigkeiten von ISIS, die sind unbedeutend, aber vor der Kraft ihrer Ideen. Kein amerikanischer Bomber wird diese auslöschen können.

Es ist spät geworden. Wir müssen uns von den alten und den modernen Kreuzfahrern abkoppeln. 132 Jahre nach der Ankunft der ersten modernen Zionisten in Palästina ist es höchste Zeit, uns selbst als das zu definieren, was wir wirklich sind: eine neue Nation, die in diesem Land entstanden ist und in diese Region gehört, natürliche Verbündete im Kampf für Freiheit.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 11.10.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2014