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STANDPUNKT/476: Früchte des Raubes ... (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 9. Juli 2015
(german-foreign-policy.com)

Auf die Flucht getrieben (I)


DAMASKUS/BERLIN - Die Bundesrepublik trägt mit ihrer Außenpolitik in erheblichem Maße zu Hunger und Krieg auf mehreren Kontinenten bei und provoziert damit die Flucht von Millionen Menschen unter anderem nach Europa. Dies zeigt ein Blick auf das Vorgehen Berlins gegenüber diversen Ländern Südosteuropas, Afrikas, des Nahen Ostens und Zentralasiens. Politische Einmischung, teils sogar militärische Interventionen wirkten in vielen Fällen daran mit, Staaten zu zerrütten und die Bewohner aus dem Land zu jagen. Exemplarisch verdeutlicht das die deutsche Syrien-Politik. Die Bundesrepublik hat bis heute laut offiziellen Angaben über 100.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Den Krieg, der sie auf die Flucht getrieben hat, hat die Bundesregierung mit ihrer politischen Unterstützung für den Aufstand gegen die Regierung Assad sehenden Auges in Kauf genommen, wie etwa eine Kurzanalyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus dem Jahr 2012 erkennen lässt. Auch sieht Berlin bis heute über die Förderung jihadistischer Organisationen wie des "Islamischen Staats" (IS) durch enge Verbündete hinweg - obwohl etwa der IS erneut zahllose Menschen auf die Flucht zwingt. Sogar am Embargo gegen Syrien hält Berlin bis heute fest, obwohl Beobachter schon vor Jahren feststellten, es mache die Lebensbedingungen für die gesamte Bevölkerung des Landes unerträglich. Kritiker rufen zur sofortigen Einstellung des Embargos auf.


Umsturzförderung

Wie die Bundesregierung in den vergangenen Jahren dazu beigetragen hat und auch weiterhin dazu beiträgt, Verhältnisse zu schaffen, vor denen Menschen fliehen müssen, zeigt exemplarisch die Entwicklung des Krieges in Syrien. Nachdem dort im Frühjahr 2011 heftige Unruhen losgebrochen waren, entschied sich Berlin im Sommer 2011, entschlossen auf den Sturz der Regierung Assad zu setzen. Entsprechend kooperierte die Bundesregierung mit denjenigen Teilen der syrischen Opposition, die Verhandlungen mit der Regierung in Damaskus ablehnten, stattdessen deren bedingungslosen Rücktritt forderten und bereit waren, zu den Waffen zu greifen. Das verschärfte den Konflikt, nicht zuletzt, weil dadurch diejenigen Gruppierungen der syrischen Opposition, die - einen Bürgerkrieg befürchtend - gewaltfreien Protest und Verhandlungen mit der Regierung befürworteten, ins Hintertreffen gerieten; in der deutschen Medienöffentlichkeit wurden sie damals weithin ignoriert. Die Berliner Unterstützung für die Umsturzkräfte ging schon im ersten Halbjahr 2012 so weit, dass die vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gemeinsam mit rund 50 syrischen Exil-Oppositionellen ein Konzept für die Umgestaltung Syriens nach einem Sturz der Regierung Assad ausarbeitete - unter dem Arbeitstitel "The Day After".[1]


Krieg

Jenseits der Tatsache, dass Planungen für einen Umsturz in einem fremden Land jeglichen internationalen Normen Hohn sprechen und eine schwere Aggression bedeuten, sind sich die zuständigen Berliner Stellen über die Risiken ihres Unterfangens vollkommen im Klaren gewesen. Beispielhaft lässt sich dies einer Kurzanalyse entnehmen, die die SWP im Februar 2012 publizierte; damals war das Projekt "The Day After" soeben gestartet worden. Die Analyse skizzierte unterschiedliche Szenarien für die Entwicklung im Land. "Zu favorisieren" sei das Szenario einer "Implosion des Regimes", schrieben die Autoren - und stellten fest, dies könne zu einer "massiven Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen" führen, letztlich sogar zu einem "umfassende[n] Bürgerkrieg". "Dieser dürfte sehr wahrscheinlich entlang konfessioneller Linien ausgefochten werden", hieß es weiter; zudem drohe er zu einem "Stellvertreterkrieg" äußerer Mächte zu werden: "Schon jetzt drängen Saudi-Arabien und Katar" - beides Verbündete Deutschlands - "darauf, die Rebellen militärisch auszurüsten"; auch sei "ein Übergreifen des Konflikts auf Nachbarländer ... möglich", hieß es weiter: "So könnten die im irakisch-syrischen Grenzgebiet lebenden Stämme in die Kämpfe verwickelt werden"; außerdem sei das Ausgreifen des Konflikts auf den Libanon denkbar. Sämtliche Voraussagen sind mittlerweile eingetroffen. Dass Menschen auf die Flucht getrieben würden, galt der SWP schon Anfang 2012 als selbstverständlich: Sie ging ganz klar von "Flüchtlingsbewegungen, insbesondere in die Türkei, den Libanon und nach Jordanien" aus.[2]


Hunger

Ebenfalls unumstritten war Anfang 2012 bei der SWP, dass die westlichen Sanktionen gegen Syrien, die 2011 verhängt worden waren, die Situation der Bevölkerung dramatisch verschlechtert hatten und damit weitere Anreize zur Flucht bieten mussten. Insbesondere "die europäischen Sanktionen gegen den syrischen Ölsektor" hätten bereits tiefe Spuren hinterlassen, hieß es in der Kurzanalyse vom Februar 2012: "Die Bevölkerung leidet unter der Knappheit von Benzin, Heizöl und Butangas"; außerdem träfen "Stromsperren von bis zu sechs Stunden täglich ... mittlerweile auch die Hauptstadt". Folgen gebe es inzwischen auch für die Versorgung mit Lebensmitteln: "Importgüter wie Weizen werden knapp und damit mangelt es an Brot; die Preise für lokal erzeugte Güter des täglichen Bedarfs, etwa Milchprodukte, steigen spürbar." Die Autoren räumten ein, trotz zunehmender Leiden der Zivilbevölkerung seien keinerlei "Anzeichen für die erhofften politischen Wirkungen der Sanktionen zu sehen": Weder habe "die Regimespitze ihre Haltung verändert", noch habe "die Unternehmerelite sich vom Regime abgewandt". Die strategischen Interessen der Bundesrepublik kühl kalkulierend, redeten die SWP-Experten für die Zukunft dennoch "einer stringenten Umsetzung und weiteren Verschärfung der bestehenden Sanktionen" das Wort.[3]


Sehenden Auges

Strategische Interessen Deutschlands standen nicht nur bei den Entscheidungen Pate, in Syrien auf die gewaltorientierten Teile der Opposition zu setzen, das Risiko eines unkontrolliert eskalierenden Bürgerkriegs in Kauf zu nehmen und die Versorgungslage im Land mit Wirtschaftssanktionen dramatisch zu verschlechtern, sondern auch bei der Berliner Entscheidung, die Unterstützung salafistischer Milizen durch enge Verbündete in Nah- und Mittelost billigend zu tolerieren - bis hin zur Terrorförderung. Um die Regierung Assad zu stürzen, stärken vor allem Saudi-Arabien und die Türkei salafistische, teilweise auch jihadistische Milizen bis hin zu Al Qaida und zum "Islamischen Staat" (IS) - bis heute; den Aufstieg des IS haben die westlichen Staaten ausweislich von US-Geheimdienstdokumenten billigend in Kauf genommen, aus strategischen Gründen - um Irans Einfluss auf Syrien zu brechen (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Dass der Terror von Jihadisten, von Al Qaida und des IS nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien Massen in die Flucht treibt, ist bekannt. Die Bundesregierung hat dies nie zum Anlass genommen, Riad und Ankara entschlossen von der Terrorförderung abzuhalten; vielmehr kooperiert sie bis heute überaus eng mit ihnen, Rüstungsexporte inklusive. Saudi-Arabien steht auf der Rangliste der Empfänger deutscher Rüstungslieferungen für das Jahr 2014 auf Platz sechs, die Türkei befindet sich immerhin noch unter den Top 20. Saudi-Arabien nutzt übrigens für den Krieg im Jemen, der weitere Flüchtlinge produziert, unter anderem deutsches Kriegsgerät.[5]


Die Fluchtursachen bekämpfen

Dass die Bundesregierung die Förderung jihadistischer Milizen inklusive des IS durch die Türkei und Saudi-Arabien toleriert, stößt inzwischen zunehmend auf Kritik. Jetzt werden zudem Proteste gegen die Syrien-Sanktionen laut. Es sei ein "Verbrechen, ein Volk gezielt auszuhungern, um von außen einen gewünschten Regimewechsel zu erzwingen", sagt Bernd Duschner von der Friedensinitiative "Freundschaft mit Valjevo", der einen mittlerweile von mehr als 2.000 Personen unterzeichneten Aufruf zum Stopp des Embargos gestartet hat, im Gespräch mit german-foreign-policy.com. Die Friedensinitiative unterstützt Flüchtlinge aus Syrien - und fordert, die Sanktionen, eine "zentrale Ursache des Flüchtlingselends" [6], endlich einzustellen. Die Bundesregierung, die sich offiziell den Kampf gegen die Fluchtursachen in den Herkunftsländern auf die Fahnen geschrieben hat, reagiert nicht.

Das Interview mit Bernd Duschner finden Sie unter:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59155

german-foreign-policy.com setzt die Berichterstattung über den deutschen Beitrag zur Produktion von Fluchtursachen in der kommenden Woche fort.

Mehr zur deutschen Flüchtlingsabwehr: Abschotten, abwälzen, abschieben, Das Ende der Freizügigkeit, Grenzen dicht! (I), Grenzen dicht! (II), Willkommen in Deutschland, Folgen des Anti-Terror-Kriegs, Einmalige Abschreckung, Kein Ende in Sicht, Die Flüchtlings-Todesregion Nr. 1, Krieg gegen Flüchtlinge, Krieg gegen Flüchtlinge (II) und Zu Gast bei Freunden.


Anmerkungen:

[1] S. dazu The Day After
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58386
The Day After (II)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58394
The Day After (III)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58409 und
The Day After (IV)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58411

[2], [3] Muriel Asseburg, Heiko Wimmen: Der gewaltsame Machtkampf in Syrien. Szenarien und Einwirkungsmöglichkeiten der internationalen Gemeinschaft. SWP-Aktuell 12, Februar 2012.

[4] S. dazu Vom Nutzen des Jihad (I)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59123
Vom Nutzen des Jihad (II)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59124 und
Das Spiel mit dem Terror
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59147

[5] S. dazu In Flammen
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59081 und
In Flammen (II)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59091

[6] S. dazu Gezielt ausgehungert
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59155

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
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Fax: 01212 52 57 08 537
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2015

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