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STANDPUNKT/499: Nasser und ich (Uri Avnery)


Nasser und ich

von Uri Avnery, 3. Oktober 2015


VOR 45 JAHREN starb Gamal Abd-al-Nasser im frühen Alter von 52 Jahren. Das ist jedoch kein Ereignis, das der Vergangenheit angehört. Es hat weiterhin auch auf die Gegenwart sehr großen Einfluss und wird wahrscheinlich auch die Zukunft beeinflussen.

Mein Zusammentreffen mit ihm geht ins Jahr 1945 zurück. Ich pflegte zu scherzen, dass "wir uns sehr nah waren, einander aber nie richtig vorgestellt wurden!"

Es trug sich folgendermaßen zu: Im Juli 45 versuchten wir verzweifelt, den Vormarsch der ägyptischen Armee auf Tel Aviv zu stoppen. Der Eckstein unserer Front war ein Dorf mit Namen Negba. An einem Abend wurde uns mitgeteilt, dass eine ägyptische Einheit die Straße zu diesem Kibbuz abgeschnitten und sich dort verschanzt habe.

Die Kompanie, zu der ich gehörte, war eine mobile Kommando-Einheit mit Jeeps von denen jedes mit zwei Maschinengewehren bewaffnet war. Wir hatten den Befehl, die Position zu stürmen und sie um jeden Preis zu erobern. Es war eine verrückte Idee - man verwendet keine Jeeps, um Soldaten, die sich verschanzt haben, anzugreifen. Aber die Kommandeure waren auch verzweifelt.

Also fuhren wir in der Dunkelheit die schmale Straße entlang, bis wir die ägyptische Position erreichten, und wurden mit mörderischem Feuer empfangen. Wir zogen uns zurück. Aber dann schloss sich uns der Bataillon-Kommandeur an und leitete einen anderen Angriff. Dieses Mal überrannten wir buchstäblich die Ägypter, ja fühlten menschliche Körper unter unseren Rädern. Die Ägypter flohen. Ihr Kommandant wurde verletzt. Wie ich später herausfand, war es ein Major mit Namen Gamal Abd-al-Nasser.

Danach wandte sich das Kriegsglück. Wir bekamen die Oberhand und umzingelten eine ganze ägyptische Brigade. Ich war ein Teil des belagernden Militärs und wurde schwer verletzt. Auf der anderen Seite war Major Abd-al-Nasser.


VIER JAHRE später rief mich Gingi sehr aufgeregt an. "Ich muss dich sofort treffen", sagte er mir.

Gingi ist der hebräische Slangausdruck für Ingwer (Ginger), wie die Briten einen Rothaarigen nennen. Dieser spezielle Gingi war ein kleiner, sehr dunkler Jemenite. Er hatte diesen Spitznamen bekommen, weil er sehr schwarzes Haar hatte - das war die Art unseres Humors.

Gingi (sein tatsächlicher Name war Yerucham Cohen) hatte während des Krieges als Adjudant des Kommandeurs der Südfront, Yigal Alon, gedient. Während des Kampfes war eine kurze Feuerpause eingelegt worden, um beiden Seiten zu ermöglichen, die Toten und Verletzten, die zwischen den Linien lagen, herauszuholen. Gingi, der ausgezeichnet arabisch sprach, wurde gesandt, um mit dem Emissär der eingekesselten Brigade zu verhandeln.

Wie es manchmal geschieht, bildete sich bei den Begegnungen eine Freundschaft zwischen den beiden Männern. Einmal, als der Ägypter sehr niedergeschlagen war, versuchte Gingi ihn zu trösten und sagte: "Verzweifle nicht, Gamal, du wirst hier lebend herauskommen und Kinder haben!"

Die Prophezeiung wurde erfüllt. Der Krieg war zu Ende; die umzingelte Brigade kehrte nach Kairo zurück. Yerucham wurde zum Mitglied einer israelisch-ägyptischen Waffenstillstands-Kommission ernannt. Eines Tages erzählte ihm sein ägyptischer Gesprächspartner: "Ich wurde von meinem Oberstleutnant Abd-al-Nasser gebeten, dir zu sagen, dass ihm ein Sohn geboren worden sei."

Yerucham kaufte einen Babyanzug und beim nächsten Treffen gab er diesen seinem Kollegen. Nasser schickte seinen Dank zurück: eine Gebäckmischung vom berühmten Groppi-Cafe in Kairo.


IM SOMMER 1952 rebellierte die ägyptische Armee und veranlasste nach einem unblutigen Putsch den Playboy-König Faruk dazu, seine Sachen zu packen. Der Putsch wurde von einer Gruppe "Freier Offiziere" durchgeführt, geleitet von dem 51-jährigen General Muhammad Naguib.

Ich veröffentlichte in meinem Magazin an die Offiziere eine Gratulation.

Als ich Gingi traf, sagte er mir. "Vergiss Naguib. Er ist nur ein Strohmann. Der wirkliche Führer ist ein Bursche mit Namen Nasser!" Mein Magazin hatte also einen Sensationsbericht - lange bevor jemand in der Welt wusste, verrieten wir, dass der wirkliche Führer ein Offizier mit Namen Abd-al-Nasser war.

(Eine Anmerkung über arabische Namen: Gamal ist ein Kamel, ein arabisches Symbol für Schönheit. Abd al Nasser - ausgesprochen Abd-an-Nasser - bedeutet "Diener [Allahs] des Siegreichen". Indem wir den Mann nur Nasser nannten, wie wir es alle taten, verliehen wir ihm einen der 99 Namen Allahs.)

Als Nasser zum offiziellen Führer wurde, erzählte mir Yerucham ganz im Geheimen, dass er gerade eine erstaunliche Einladung bekommen habe: Nasser hatte ihn eingeladen, ihn ganz privat in Kairo zu besuchen.

"Geh!" bat ich ihn inständig. "Dies könnte eine historische Öffnung sein!"

Aber Yerucham war ein gehorsamer Staatsbürger. Er bat das Auswärtige Amt um Erlaubnis. Der als friedliebend bekannte Minister Moshe Sharett verbat ihm, die Einladung anzunehmen. "Wenn Nasser mit Israel zu reden wünscht, muss er sich ans Auswärtige Amt wenden", wurde Yerucham gesagt. Das war natürlich das Ende der Geschichte.


NASSER WAR ein neuer Typ Araber - groß, gut aussehend, charismatisch, ein faszinierender Redner. David Ben Gurion, der schon alt geworden war, fürchtete ihn und beneidete ihn vielleicht. Also schmiedete er mit den Franzosen ein Komplott, um ihn abzusetzen.

Nach einem kurzen freiwilligen Exil in einem Kibbuz kehrte Ben Gurion 1955 auf seinen Posten als Verteidigungsminister zurück. Das erste, was er tat, war ein Angriff auf die ägyptische Armee in Gaza. Nach Plan oder durch ein Versehen wurden viele ägyptische Soldaten getötet. Nasser - wütend und gedemütigt - wandte sich an die Sowjets und erhielt große Schiffsladungen mit Waffen. Ben Gurion reagierte darauf, indem er ein enges Bündnis mit den USA knüpfte, das bis heute andauert.

Seit 1954 befand sich Frankreich im Krieg mit der algerischen Befreiungsbewegung. Da die Franzosen sich nicht vorstellen konnten, dass die Algerier sich aus eigenem Antrieb gegen Frankreich erhoben hätten, beschuldigten sie Nasser, er habe sie aufgehetzt. Die Briten schlossen sich dem Klub an, weil Nasser die Britisch-Französische Gesellschaft, die für den Suezkanal verantwortlich war, verstaatlichte.

Das Ergebnis war 1956 das Suez-Abenteuer. Israel griff die ägyptische Armee in der Sinai-Wüste an, während die Franzosen und die Briten in ihrem Rücken landeten. Der ägyptischen Armee, nun praktisch umzingelt, wurde befohlen, so schnell wie möglich umzukehren. Einige Soldaten ließen sogar ihre Stiefel zurück. Israel war von dem überwältigenden Sieg wie betrunken.

Aber die Amerikaner waren verärgert, ebenso die Sowjets. Der US-Präsident Eisenhower und der sowjetische Präsident Bulgarin stellten Ultimaten und die drei verschworenen Mächte mussten sich vollkommen zurückziehen. "Ike" war der letzte amerikanische Präsident, der es wagte, sich mit Israel und den US-Juden anzulegen.

Über Nacht wurde Nasser der Held der ganzen arabischen Welt. Seine Vision einer Pan-arabischen Nation war in Reichweite. Die Palästinenser, ihrer eigenen Heimat beraubt und zwischen Israel, Jordanien und Ägypten aufgeteilt, sahen ihre Zukunft in solch einer gemeinsamen Nation und verehrten Nasser.

In Israel wurde Nasser zum größten Feind, zum Teufel in Person. Er wurde offiziell und in allen Medien als "der ägyptische Tyrann" und häufig als "der zweite Hitler" bezeichnet. Als ich vorschlug, mit ihm Frieden zu schließen, hielten mich die Leute für verrückt.


NASSER LIESS sich von seiner immense Popularität in der ganzen arabischen Welt dazu hinreißen, Dummheiten zu machen. Als der israelische Stabschef Yitzhak Rabin den Syrern mit einer Invasion drohte, sah Nasser darin einen einfachen Weg, seine Führung zu zeigen. Er warnte Israel und sandte seine Armee in die entmilitarisierte Sinai-Wüste.

Jeder in Israel hatte Angst. Jeder - außer mir (und der Armee). Ein paar Monate vorher wurde ich in ein Geheimnis eingeweiht, das ein führender israelischer General Freunden anvertraut hatte: "Ich bete jede Nacht, dass Nasser seine Armee in den Sinai sendet. Dort werden wir sie zermalmen!"

Und so geschah es. Zu spät realisierte Nasser, dass er in eine Falle getappt war (wie es mein Magazin in seiner Schlagzeile verkündigte). Um die Katastrophe abzuwenden, stieß er die Drohung aus, die den Israelis das Blut gerinnen ließ: Er werde "Israel ins Meer werfen", und sandte einen hochrangigen Gesandten nach Washington, die US-Regierung darum zu bitten, Israel zu stoppen.

Es war zu spät. Nach langem Zögern und nachdem sie die ausdrückliche Erlaubnis von Präsident Johnson bekommen hatte, griff die israelische Armee an und zerschlug die ägyptischen, die jordanischen und die syrischen Streitkräfte innerhalb von sechs Tagen.

Das hatte zwei historische Ergebnisse (a) Israel wurde zur Kolonialmacht und (b) das Rückgrat des Pan-arabischen Nationalismus war gebrochen.


NASSER BLIEB noch drei Jahre an der Macht - ein Schatten seiner selbst. Offensichtlich dachte er nach.

Eines Tages bat mich mein französischer Freund, der berühmte Journalist Eric Rouleau, dringend, nach Paris zu kommen. Rouleau war ein in Ägypten geborener Jude, der für die renommierte französische Zeitung "Le Monde" arbeitete. Er kannte sich mit der ägyptischen Elite aus. Er sagte mir, dass Nasser ihm gerade ein langes Interview gegeben habe. Wie vereinbart, übermittelte er den Text an Nasser zur Bestätigung. Nach einiger Durchsicht strich Nasser einen wichtigen Teil heraus: ein Friedensangebot an Israel. Es war im Wesentlichen das Angebot, das neun Jahre später die Grundlage für das Friedensabkommen zwischen Sadat und Begin bildete.

Aber Rouleau hatte das volle Interview auf seinem Tonband. Er bot mir den Text an, damit ich ihn unter dem Siegel der Verschwiegenheit an die israelische Regierung weitergeben könnte.

Ich eilte nach Hause und rief ein zentrales Mitglied der israelischen Regierung an. Der Finanzminister Pinchas Sapir, der als das sanfteste Mitglied des Kabinetts galt. Er empfing mich auch gleich, lauschte dem, was ich zu sagen hatte, und zeigte nicht das geringste Interesse. Ein paar Tage später, während der Krise des "schwarzen Septembers" in Jordanien starb Nasser plötzlich.


MIT IHM starb die Vision des Pan-arabischen Nationalismus. Die Wiedergeburt der arabischen Nation unter der Flagge einer europäischen Idee stützte sich auf einen rationalen säkularen Gedanken.

Ein spirituelles und politisches Vakuum wurde in der arabischen Welt geschaffen. Aber die Natur toleriert - wie wir alle wissen - keine leeren Räume.

Nasser war tot und nach dem gewaltsamen Ende seiner Nachfolger und Nachahmer: Sadat, Mubarrak, Gaddafi und Saddam, stand das Vakuum für eine neue Macht offen: für den salafistischen Islamismus.

Ich habe in der Vergangenheit viele Male gewarnt, falls wir Nasser und den arabischen Nationalismus zerstören, würden religiöse Kräfte in den Vordergrund treten. Statt eines Kampfes zwischen rationalen Feinden, die einen vernünftigen Frieden schließen können, wird es zu einem religiösen Krieg kommen, der per definitionem irrational sein wird und keinen Kompromiss erlaubt.

Genau hier sind wir jetzt. Anstelle von Nasser haben wir jetzt Daesh. Anstelle der arabischen Welt, die von einem charismatischen Führer geleitet wurde, der den arabischen Massen überall einen Sinn für Würde und Erneuerung gab, stehen wir jetzt einem Feind gegenüber, der öffentliche Enthauptungen glorifiziert und uns ins 7. Jahrhundert zurückversetzen will.

Ich gebe der israelischen und amerikanischen politischen Blindheit und reinen Dummheit die Schuld für diese Entwicklung. Ich hoffe, uns bleibt noch genug Zeit, um dies rückgängig zu machen.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 03.10.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2015

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