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STANDPUNKT/500: Der Führer ohne Ruhm (Uri Avnery)


Der Führer ohne Ruhm

von Uri Avnery, 10. Oktober 2015


ZUM ERSTEN Mal traf ich Mahmoud Abbas Anfang 1983 in Tunis.

Ich wusste, dass er für israelische Angelegenheiten in der PLO verantwortlich war. Said Hamami und Issam Sartawi, die PLO-Gesandten, mit denen ich seit 1974 in ständigem Kontakt gewesen war, sagten mir, dass er der Beauftragte war. Aber er war nicht bei meinem ersten Treffen mit Yassser Arafat in Beirut während der Belagerung anwesend.

Ich kam mit General Matti Peled und Yaakov Arnon in einer offiziellen Delegation des "Israel-Rates für israelisch-palästinensischen Frieden" nach Tunis. Wir hatten diesen 1975 gegründet. Bevor wir Arafat selbst trafen, wurden wir darum gebeten, Abu Mazen (Wie Abbas genannt wird) zu treffen und unsere Ideen mit ihm zu diskutieren, um dem Führer einen abgestimmten, detaillierten Vorschlag zu unterbreiten. Genauso wurde auch bei den vielen Treffen verfahren, die noch folgen sollten.

Abu Mazen war ganz anders als Arafat. Arafat war auffällig, spontan, extrovertiert. Abu Mazen ist eher verschlossen, introvertiert, vorsichtig, pedantisch. Mein erster Eindruck war, ich hätte einen Schulmeister vor mir.

Nachdem Arafat ermordet worden war (wovon ich überzeugt bin), gab es zwei offensichtliche Kandidaten, ihm zu folgen. Mahmoud Abbas und Farouk Kaddoumi, beides Mitglieder der PLO-Gründungsgeneration. Kaddoumi war viel extremer; er glaubte nicht daran, dass Israel jemals Frieden schliessen würde und bewunderte das syrische Regime von Hafez al-Assad. Die PLO-Führung wählte Abbas.


ALS ABBAS "die Macht" übernahm, fand er sich selbst in einer fast unmöglichen Situation wieder.

Arafat hatte den Status einer Palästinensischen Behörde unter israelischer Besatzung als kalkuliertes Risiko akzeptiert.

Als erstes glaubte er Yitzhak Rabin, wie wir alle (und wie ich ihm riet). Wir glaubten alle, dass Rabin auf dem richtigen Weg wäre, einen palästinensischen Staat neben Israel zu akzeptieren. Innerhalb von fünf Jahren würde der Staat Palästina eine Tatsache werden. Damals konnte niemand den Mord an Rabin, die Feigheit Schimon Peres' und den Aufstieg Benjamin Netanjahus vorhersehen.

Rabin hatte sich zuvor schon dem Druck seiner "Sicherheitschefs" gebeugt und wichtigen Teilen der Oslo-Vereinbarung eine Absage erteilt, darunter der freien Passage zwischen der Westbank und dem Gazastreifen.

In diese Situation kam Abu Mazen: Rabin war tot, das Oslo-Abkommen nur noch ein Schatten seiner selbst, die Besatzung und das Siedlungs-Unternehmen in vollem Schwung.

Es war eine fast hoffnungslose Aufgabe von Anfang an: eine zweifelhafte Autonomie unter Besatzung. Gemäß dem Oslo-Deal, der längstens fünf Jahre gelten sollte, war der größere Teil der Westbank ("Zone C") unter direkter und voller israelischer Kontrolle und die israelische Armee durfte auch in den beiden anderen Gebieten ("A" und "B") frei operieren. In Oslo war zusätzlich ein weiterer Rückzug Israels vorgesehen, der jedoch niemals ausgeführt wurde.

Die palästinensischen Wahlen, die unter diesen Umständen durchgeführt wurden, führten die Hamas zum Sieg. Dazu trug auch die Konkurrenz zwischen den Kandidaten der Fatah bei. Als Israel und die USA die Hamas daran hinderten, an die Macht zu kommen, nahm die Hamas mit Gewalt den Gazastreifen. Die israelische Führung war voller Schadenfreude: Die alte römische Maxime divide et impera erfüllte sehr gut ihren Zweck.

Seit damals haben alle israelischen Regierungen alles in ihrer Macht stehende getan, Abbas an der "Macht" zu halten, während man ihn als bloßen Untergeordneten behandelte. Die palästinensische Behörde - zu Beginn als Embryo des palästinensischen Staates konzipiert - war jeder wirklichen Autorität beraubt. Ariel Sharon pflegte über Abu Mazen von einem "gerupften Huhn" zu reden.


WENN MAN SICH die extreme Gefahr der Situation Abu Mazens klarmachen will, braucht man sich nur an den letzten historischen Präzedenzfall von Autonomie unter Besatzung zu erinnern: an Vichy.

Im Sommer 1940, als die Deutschen Nordfrankreich überrannten und Paris besetzten, ergaben sich die Franzosen. Frankreich wurde in zwei Teile geteilt: Der Norden mit Paris blieb unter direkter deutscher Besatzung, dem Süden war Autonomie gewährt. Ein ehrwürdiger Marschall Henry Petain, ein Held des Ersten Weltkrieges, wurde zum Führer der nicht besetzten Zone ernannt; ihre Hauptstadt war der Kurort Vichy.

Ein einzigwer französischer General ergab sich nicht. Charles de Gaulle floh mit einer kleinen Gruppe von Anhängern nach England, wo er versuchte, die Franzosen durch Radiosendungen zum Widerstand anzustacheln. Die Wirkung war unerheblich.

Gegen alle Erwartungen setzten die Briten den Krieg fort ("Allright, dann eben allein) und das deutsche Regime in Frankreich wurde zwangsläufig immer strenger. Geiseln wurden exekutiert, Juden deportiert; Vichy wurde immer mehr ein Beiwort für Kollaboration mit dem Feind. Langsam gewann der "Widerstand" Boden. Am Ende fielen die Alliierten in Frankreich ein, die Deutschen besetzten das Gebiet von Vichy und wurden besiegt; De Gaulle kehrte als Sieger zurück. Petain wurde zum Tode verurteilt, jedoch nicht hingerichtet.

Die Meinungen über Petain waren geteilt und sind es noch. Einerseits rettete er Paris vor der Zerstörung und rettete das französische Volk vor den Grausamkeiten der Nazis. Nach dem Krieg erholte sich Frankreich wieder schnell, während andere Länder in Schutt und Asche lagen.

Andrerseits wird Petain von vielen als ein Verräter angesehen, ein früherer Held, der mit dem Feind in Kriegszeiten kollaborierte und Widerstandskämpfer und Juden den Nazis auslieferte.


NATÜRLICH können verschiedene historische Situationen nicht verglichen werden. Israelis sind harsche Besatzer, aber sie sind keine Nazis. Abi Mazen ist gewiss kein zweiter Petain. Aber einige Vergleiche können doch gemacht werden.

Ein Weg, eine Politik zu beurteilen, ist, zu fragen: welches sind die Alternativen?

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der palästinensische Widerstand alle möglichen Formen erprobt hat und sich alle als fehlerhaft erwiesen haben.

Am Anfang träumten einige Palästinenser von zivilem Ungehorsam im indischen Stil. Dies gelang überhaupt nicht. Palästinenser sind keine Inder und die Besatzungsarmee, die kein wirkliches Gegenmittel zu zivilem Ungehorsam hatte, begann einfach zu schießen, und zwang so die Palästinenser, Gewalt anzuwenden.

Gewalt blieb auch erfolglos. Die israelische Seite erfreut sich unendlicher militärischer Überlegenheit. Mit Hilfe der Informanten und der Folter werden palästinensische Untergrundzellen regelmäßig aufgedeckt, einschließlich der letzten in dieser Woche.

Viele Palästinenser hoffen auf internationale Intervention. Die wurde von aufeinander folgenden US-Regierungen verhindert, denn diese dienten alle - auf Verlangen des jüdischen Establishments in den USA - der Besetzung. Sympathisanten der palästinensischen Sache, wie die internationale Boykottbewegung (BDS) sind viel zu schwach, als dass sie daran etwas ändern könnten.

Die arabischen Länder können sehr gut Erklärungen abgeben und Pläne vorschlagen, aber die wenigsten sind bereit, den Palästinensern auf irgendeine wirksame Weise beizustehen.

Was bleibt also? Sehr wenig.


ABU MAZEN glaubt - oder gibt vor, an "internationalen Druck" zu glauben. Viele israelische Friedensaktivisten, die an ihrem eigenen Volk verzweifelt sind, kamen zu demselben Schluss.

Mit einer Menge Geduld sammelt Abbas langsam Punkte bei der UN. In dieser Woche wurde die palästinensische Flagge neben den Flaggen der Mitgliedsstaaten am UNO-Hauptquartier gehisst. Dies hat nationalen Stolz geweckt. (Ich erinnere mich noch an ein ähnliches Ereignis unserer eigenen Vergangenheit.) Aber wirklich geändert hat es gar nichts.

Vielleicht hofft Abbas auch, dass der zunehmende Gegensatz zwischen Präsident Obama und Ministerpräsident Netanjahu die Amerikaner dazu bringen wird, das nächste Mal, wenn eine Resolution gegen die Besetzung herauskommt, kein Veto dagegen einzulegen. Ich zweifele jedoch daran, dass das geschehen wird. Aber wenn es geschieht, wird die israelische Regierung eine solche Resolution einfach ignorieren. Dasselbe wird geschehen, wenn es Abbas gelingt, einige israelische Offiziere wegen Kriegsverbrechen beim Internationalen Strafgerichtshof zu verklagen. Israelis glauben nur an "Tatsachen vor Ort".

Ich vermute, dass Abu Mazen all dies weiß. Er versucht, Zeit zu gewinnen. Er versucht, einen gewalttätigen Aufstand zu verhindern, der - wie er glaubt - nur der Besatzung nützt. Diese setzt ihre amerikanisch gedrillten "Sicherheitskräfte " zusammen mit der Besatzungsarmee ein. Das könnte in den Abgrund führen.

Er hat nur einen Trost: die Hamas-Behörde im Gazastreifen ist offensichtlich zur selben Schlussfolgerung gekommen und hält jetzt eine Art Waffenstillstand (hudna) mit Israel.


EINER DER Hauptunterschiede zwischen jüdischen Israelis und Arabern ist ihre Haltung hinsichtlich der Zeit. Israelis sind von Natur aus ungeduldig. Araber bewundern Kamele, ein Tier von unendlicher Geduld. Die Araber haben eine sehr lange Geschichte, während die Israelis fast keine haben.

Ich nehme an, Abu Mazen glaubt, dass es zu diesem Zeitpunkt für die Palästinenser sehr wenig zu tun gibt. Deshalb verfolgt er eine Politik des Abwartens, um die Besatzung auszuhalten, gewalttätige Konfrontationen zu verhindern, die die Palästinenser verlieren müssen und darauf warten, bis sich die Situation verändert. Die Araber sind gut inieser Art Strategie, die SUMUD genannt wird.

Doch die Besatzung steht nicht still. Sie ist aktiv und stiehlt arabisches Land, baut unerbittlich israelische Siedlungen und vergrößert sie.

Auf die Dauer ist dies eine Schlacht des Willens und der Ausdauer. Wie gesagt worden ist. Eine Schlacht zwischen einer nicht aufzuhaltenden Kraft und einer unbeugsamen Masse.


WIE WIRD die Geschichte Abbas beurteilen?

Es ist viel zu früh, dies zu sagen.

Ich glaube, dass er ein wahrer Patriot ist, nicht weniger als Arafat. Aber er ist in Gefahr, gegen seinen Willen abzugleiten und zwar in eine Petain-artige Situation.

Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass er korrupt ist, wie seine Feinde behaupten, oder dass er eine kleine Klasse von Bonzen repräsentiert, die unter und von der Besatzung reich werden.

Die Geschichte hat ihn in eine Situation gebracht, die geradezu unmöglich ist. Er zeigt großen Mut, indem er versucht, sein Volk unter diesen Umständen zu führen.

Es ist keine ruhmreiche Rolle. Dies ist keine Zeit für Ruhm.

Die Geschichte wird ihn als einen Mann im Gedächtnis behalten, der sein Bestes unter katastrophalen Umständen geleistet hat.

Ich zum Beispiel kann ihm nur Gutes wünschen.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 10.10.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2015

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