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STANDPUNKT/514: Paris - Nach den Terroranschlägen, Fronten erhärten sich (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. November 2015

Paris: Nach den Terroranschlägen - Fronten erhärten sich

ein Gastbeitrag von Roberto Savio *

Bild: © Privat

Roberto Savio
Bild: © Privat

ROM (IPS/IDN) - Nach den Terroranschlägen in Paris am 13. November ist der Ruf nach einer gemeinsamen Front des Westens gegen den Islamischen Staat (IS) lauter geworden. Auch in westlichen Medien wird eine Intensivierung der militärischen Intervention gegen Kämpfer der radikalen islamischen Fundamentalisten gefordert. Das überrascht nicht. Die Blutbäder von Paris können nur Trauer auf der einen Seite und weiteren Horror auf der anderen nach sich ziehen.

Doch es lohnt einen Blick darauf, wo der islamische Terrorismus herkommt und welche Verantwortung der Westen selbst am Aufstieg des Islamischen Staates trägt. Drei Punkten möchte ich hier besondere Aufmerksamkeit schenken: Erstens den schwierigen historischen Beziehungen zwischen der arabischen Welt und dem Westen, zweitens der speziellen Beziehung zwischen Europa und den Muslimen, die in europäischen Ländern leben, und drittens der Ausweglosigkeit, in der sich der Westen nun befindet.

Die nicht immer ganz einfache Geschichte zwischen Muslimen und Christen reicht weit zurück. Bleiben wir aber in der näheren Vergangenheit. Im Jahr 1916 wurde während des Ersten Weltkrieges eine Vereinbarung getroffen, in der das Osmanische Reich zwischen Frankreich, Großbritannien und Russland aufgeteilt werden sollte. Das Russische Kaiserreich wurde allerdings zerstört, und Kemal Atatürk schaffte es, die Türkei in die Unabhängigkeit zu führen. So teilten am Ende Frankreich und Großbritannien den Rest des Osmanischen Reichs unter sich auf.

Am Verhandlungstisch wurden künstliche Grenzen gezogen. Unter anderem wurden dabei Syrien und Irak geschaffen - um zwei Länder zu nennen, die im Mittelpunkt der aktuellen Geschehnisse liegen. An die Spitze dieser künstlichen Länder wurden Männer gestellt, die nie durch Wahlen legitimiert wurden und die sich für Demokratie und Modernisierungsprozesse nicht interessierten.

Bei der Aufteilung des Territoriums versäumten es die Verhandler - François Georges-Picot für die französische Seite und Sir Mark Sykes für die britische -, auch den Kurden einen Teil vom Kuchen zuzuschreiben. Sie blieben ohne eigenes Land, und so säten Georges-Picot und Sykes die Samen für ein weiteres Konfliktfeld unserer Zeit.


Millionen junge Muslime ohne Job und Perspektive

Doch zurück zu den Spannungen zwischen dem Islam und dem Westen. Millionen gut und weniger gut ausgebildete junge Leute in arabischen Ländern oder arabischen Ursprungs, viele von ihnen ohne Job, blicken heute auf die Geschichte ihrer Länder zurück und ziehen die Schlussfolgerung, dass der Westen für ihre Perspektivlosigkeit verantwortlich ist.

Der Arabische Frühling in den Jahren 2010 bis 2012 brachte letztlich keine Verbesserungen der Lebenssituation vieler junger Leute und führte zu noch mehr Frustration. In Ägypten wurde Diktator Husni Mubarak mit Duldung durch den Westen lediglich durch einen anderen ausgetauscht, Abd al-Fattah as-Sisi. Tunesien, wo der Arabische Frühling begonnen hatte, und das als einziges Land der Region tatsächlich demokratisch ist, erhält vom Westen hingegen wenig Unterstützung.

Hinzu kommen drei militärische Interventionen: Im Irak, in Syrien und in Libyen. Im Namen von Frieden und Demokratie hatten alle drei das Ziel, die machthabenden Diktatoren zu stürzen - Hussein, Assad und Gaddafi - und eine neue Politik anzustoßen. Doch für keine dieser Interventionen wurden Pläne entworfen, was mit den Ländern geschehen sollte, sobald sie von den Diktatoren befreit wären. Was blieb - und in Syrien noch kommen wird - ist ein politisches Vakuum.


IS war Kennern der Szene lange bekannt

In der Zwischenzeit wurde der Islamische Staat gegründet und entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer ernstzunehmenden Macht. Auch wenn viele Europäer, die sich bisher wenig mit der arabischen Welt beschäftigt hatten, in diesem Jahr zum ersten Mal vom IS gehört haben: Kennern der Szene war er seit langem bekannt. Das zeigt beispielsweise ein Interview vom Juli dieses Jahres, das der Fernsehsender Al Jazeera mit Michael Flynn führte, dem ehemaligen Chef des Verteidigungsnachrichtendienstes DIA, der als Dachorganisation der Nachrichtendienste der US-Streitkräfte dient. Flynn erklärte in dem Interview, dass bereits im Jahr 2007 neokonservative Politiker den damaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney davon überzeugten, mit Hilfe der Hisbollah im Osten Syriens Salafisten zu unterstützen, die das Assad-Regime zu Fall bringen sollten.

Salafismus ist ein radikaler Zweig des Sunnismus und offizielle Religion in Saudi-Arabien. Der IS wiederum ist ein Ableger des Salafismus. Als der IS im Jahr 2012 zum ersten Mal in Erscheinung trat, schickte Flynn umgehend einen warnenden Bericht ins Weiße Haus. Darauf habe er nie eine Antwort erhalten, erklärte Flynn im Interview mit Al Jazeera. Das Weiße Haus habe beide Augen zugedrückt und sich "willentlich entschieden" den IS gewähren zu lassen.

Die Geschichte klingt wie eine Wiederholung der Unterstützung Bin Ladens bei seinem Kampf gegen Russland in Afghanistan, bevor er die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortete. Wir sollten mittlerweile wissen, dass es unmöglich ist, Fanatismus an die Leine zu legen.

Der Kampf gegen den IS begann erst spät. Und er ist leider nicht das einzige Problem im Konfliktherd Syrien, wo verschiedene Interessengruppen unterschiedliche Stellvertreterkriege führen.


Zehn Jahre nach brennenden Banlieues ist Frustration weiter gestiegen

Kommen wir zum zweiten Punkt: Muslimen in Europa. In Frankreich leben sechs Millionen Muslime, was der gesamten Bevölkerung Norwegens entspricht. In keinem europäischen Land leben mehr Muslime. Vor zehn Jahren machten die Pariser Banlieues Schlagzeilen, als eine Revolte ausbrach, in der innerhalb von 20 Tagen 10.000 Autos angezündet wurden. Damals waren die Zeitungen voll von Geschichten über Jugendliche ohne Jobs und Perspektiven, die keinen Zugang zur französischen Mehrheitsgesellschaft haben. Sie waren die Kinder und Enkel von Immigranten, die sich selbst als Franzosen verstanden. Ihre Nachfahren aber steckten in einer Identitätskrise, sahen keine Zukunft für sich.

Die Frustration in den Pariser Ghettos hat in den vergangenen zehn Jahren noch zugenommen. Die Banlieues gelten als Rekrutierungsfeld für den Islamischen Staat - so wie andere soziale Brennpunkte überall in Europa, wo arabische Jugendliche keine Hoffnung in die Zukunft haben. Schätzungen zufolge besteht der IS heute nicht mehr hauptsächlich aus Syrern und Irakern. Etwa die Hälfte der Kämpfer soll mittlerweile aus dem europäischen Ausland kommen. Geschichten über Rapper aus London und Berlin, die für den IS kämpfen, sind nur die Spitze des Eisbergs.


No-Win-Win-Situation für den Westen

Mein dritter Punkt beschäftigt sich mit der ausweglosen Situation des Westens. Wenn er militärisch interveniert - womit Frankreich bereits begonnen hat -, wird sich überall auf der Welt die Überzeugung festigen, dass der Westen der Feind der arabischen Welt ist. Es ist möglich, dass der Westen den IS militärisch besiegen kann. Aber das gleiche gilt nicht für die Frustration und den Wunsch nach Rache, den die Gegenschläge bei vielen Muslimen auslösen.

Doch auch wenn der Westen nicht interveniert, muss er mit weiteren Anschlägen rechnen. Konservative und Rechte würden das Ausbleiben von Interventionen als Schwäche interpretieren. Schon jetzt profitieren rechte Parteien in Europa von der Stimmungslage gegen Muslime, die mit den Anschlägen von Paris meinen, eine weitere Legitimation dafür gefunden haben, die Grenzen Europas für Flüchtlinge zu schließen. Eine breitere Front gegen den Islam wird den IS für viele Muslime, die sich in Europa ausgeschlossen fühlen, attraktiver machen. Statt Dialog und Integration steigt Polarisierung. Gewalt erzeugt Gegengewalt.


* Roberto Savio ist einer der Gründer der Nachrichtenagentur IPS und heute Herausgeber des Nachrichtendienstes 'Other News' sowie Berater des Nachrichtendienstes IDN und des 'Global Cooperation Council'. Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel, der am 17. November bei 'Other News' erschienen war. (Ende/IPS/jk/19.11.2015)


Link:

http://www.indepthnews.info/index.php/global-issues/2560-behind-the-scenes-of-a-massacre

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 19. November 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2015

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