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STANDPUNKT/569: Willkommen! Bienvenue! (Uri Avnery)


Willkommen! Bienvenue!

von Uri Avnery, 16. Juli 2016


FÜR MICH ist Frankreich das Land der Freiheit.

Als ich gerade zehn Jahre alt war, floh ich mit meiner Familie von Nazi-Deutschland nach Frankreich. Wir waren auf dem Weg nach Palästina. Wir befürchteten, an der Grenze verhaftet zu werden. Als unser Zug den Rhein überquerte, wir Deutschland hinter uns ließen und in Frankreich einreisten, atmete ich tief durch. Aus der Tyrannei in die Freiheit, von der Hölle ins Paradies.

Ich vergaß dieses Gefühl nie. Immer, wenn ich Frankreich besuchte, überkam es mich.

Ich erinnerte mich diese Woche wieder daran, als ich einen viel zitierten "Untersuchungsbericht" über "Antisemitismus in Frankreich" im Fernsehen sah. Es war ein Haufen Propaganda-Nonsens.


"ANTISEMITISMUS IN Frankreich" ist nun in Mode in Israel. Eine riesiger Propagandaaufwand wird in diese Kampagne investiert. Das Ziel ist, die französischen Juden dazu zu bewegen, nach Israel zu kommen, um "Alija zu machen" (eine entsetzliche Entstellung des Hebräischen).

Dem "Untersuchungsbericht" zufolge sind die Juden in Frankreich einer furchtbaren Gefahr ausgesetzt. Jeden Augenblick müssen sie auf einen zweiten Holocaust gefasst sein. Sie werden auf den Straßen angegriffen. Sie haben Angst, die Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen. Zum Wohl ihrer Kinder müssen sie nach Israel kommen. Und zwar schnellstens, - jetzt!

Als ich mir den Fernseh-Bericht näher ansah, bemerkte ich eine Besonderheit: fast alle männlichen Juden, die interviewt wurden, trugen eine Kippa. Seltsam, ich habe kaum jemals einen französischen Juden getroffen, der eine Kippa trug.

Dann bemerkte ich eine weitere Besonderheit: es erschien mir, als ob alle Juden, die interviewt wurden, wie Nordafrikaner aussahen, insbesondere algerisch.

Auch wurden alle erwähnten gewaltsamen Zwischenfälle von Muslimen verursacht. Sie fanden nicht auf der Avenue des Champs Elysées statt, sondern in den Vororten, wo arme nordafrikanische Muslime mit nordafrikanischen Juden auf engstem Raum zusammenleben.

Warum ereignen sich diese Zwischenfälle? Warum dort? Und was haben sie mit französischem Antisemitismus zu tun?


WENN ICH vom "französischen Antisemitismus" höre, sehe ich in meiner Vorstellung die lange Tradition der Aversion des christlichen Frankreichs gegenüber Juden. Sogar nach der Französischen Revolution, die auch die Juden befreite, gab es eine Menge Antisemitismus in Frankreich. Man muss sich nur an die Dreyfus-Affäre am Ende des 19. Jahrhunderts erinnern, als ein französischer jüdischer Offizier der Armee fälschlicherweise als deutscher Spion angeklagt war und auf die Teufelsinsel, Französisch Guyana, verbannt wurde. Massen von Franzosen marschierten über die Champs Elysées und schrien: "Tod den Juden!" Einer der Zuschauer war ein jüdischer Journalist aus Wien, Theodor Herzl genannt, der den Schluss daraus zog, dass alle Juden Europa verlassen und ihren eigenen Staat errichten müssten. Der Zionismus wurde geboren.

Diese Art von christlichem Antisemitismus, der (wie ich glaube) aus der neutestamentlichen Geschichte vom Tod Jesu erwuchs, existierte schon immer in Frankreich, genauso wie in den meisten anderen europäischen Ländern. Seit dem Holocaust, ist es ein Rand-Phänomen geworden. Ich glaube, dass das in Frankreich auch so ist.


DIE MUSLIMISCH-JÜDISCHE Feindschaft, die sich nun in den Vororten von Paris abspielt, ist etwas gänzlich anderes und hat nichts zu tun mit Antisemiten. Zufällig sind beide Seiten Semiten.

Es begann vor langer Zeit in Algerien. Die Franzosen eroberten das Land und siedelten dort in großer Anzahl. Dann taten sie etwas ziemlich Kleveres: Sie übertrugen die französische Staatsangehörigkeit auf die Juden vor Ort, aber nicht auf die Muslime, die die breite Mehrheit bildeten. Wie die alten Römer zu sagen pflegten: "Teile und herrsche."

Als 1954 der algerische Unabhängigkeitskrieg ausbrach, standen die Juden, die stolze französische Bürger waren, auf der Seite des Unterdrückers gegen die Unterdrückten.

Mehr noch. Als die französische Armee signalisierte, dass sie abziehen wollte, stellten die Siedler eine Untergrund-Militärorganisation auf, die OAS, um die Muslime zu terrorisieren. Die Juden vor Ort waren involviert. Nach und nach begannen die französischen Siedler, nach Frankreich zurückzukehren und die Juden blieben. Die OAS wurde dann fast eine jüdische Organisation.

Ich war irgendwie involviert. Die algerische Nationale Befreiungsfront, die FLN, die spürte, dass sie kurz vor dem Sieg stand, war sehr besorgt, dass die Juden Algerien verlassen würden. Da die Juden eine große Rolle in dem algerischen wirtschaftlichen und intellektuellen Leben spielten, fürchteten die FLN-Führer, dass eine derartige Abwanderung einen großen Verlust für den entstehenden Staat bedeuten würde.

Sie traten an mich mit der Bitte heran, in Israel eine Organisation aufzustellen, um die algerische Unabhängigkeit zu unterstützen. Als ich den "Israelischen Rat für ein freies Algerien" gründete, baten sie uns, Material in Hebräisch zu veröffentlichen, das sie ins Französische übersetzten und unter den Juden verteilten.

Erfolglos. Am Ende setzte Charles de Gaulle einen Termin für den Rückzug der französischen Armee. Über eine Million französische Siedler flohen beinahe über Nacht nach Frankreich und mit ihnen praktisch alle Juden.

Algerische Juden kamen nicht nach Israel. Sie waren zu gut in die französische Kultur integriert. Marokkanische und tunesische Juden spalteten sich: die gebildeten gingen nach Frankreich, alle anderen kamen hierher.

Was sich heute abspielt, ist die Fortsetzung dieses algerischen Konfliktes auf französischem Boden. Der Hass, der einst in den Straßen von Algier und Oran herrschte, wird in den Straßen von Paris und Marseilles ausgetragen.

Tragisch? In der Tat. Traurig? Gewiss. Antisemitismus - keineswegs. Es hat nichts mit dieser alten europäischen Geißel zu tun.


UM EIN richtiges Bild zu bekommen, muss man die Anzahl der muslimischen Gewalttaten gegen Juden in Frankreich mit der Anzahl der Gewalttaten der christlichen Franzosen gegen die Muslime vergleichen.

Ich habe keine derartigen Statistiken gesehen, wahrscheinlich weil Frankreich darauf besteht, dass es keinen Unterschied zwischen Franzosen aller Hautfarben, Glaubensrichtungen und Rassen gibt.

Dennoch würde ich hundertprozentig darauf wetten, dass die Gewalttaten gegen Muslime bei weitem zahlreicher sind als Gewalttaten gegen die Juden.

Französischer Neo-Faschismus, angeführt von der sehr klugen Marine Le Pen, ist ganz auf den Hass gegen Muslime konzentriert, wohingegen sie alles Erdenkliche tut, um den Juden zu schmeicheln. Einige Juden sind sogar in der Partei. Sie bewundert uns, sie liebt uns. Sie warf ihren eigenen Vater hinaus, weil er sich nicht zurückhalten konnte, Sätze zu äußern, die einen Rest von Antisemitismus widerspiegelten.

Also, woher kommt die gegenwärtige Furcht vor dem französischen Antisemitismus?

Ach, es gibt mehrere gute Gründe.

Grundsätzlich sind Zionismus und Antisemitismus Zwillinge. Es ist der moderne europäische Antisemitismus, der den modernen Zionismus schuf. Wie erwähnt, wurde Herzl zum Zionisten, als er die (französischen) Antisemiten sah. Meine Familie kam nach Palästina wegen des (deutschen) Antisemitismus. So war es mehr oder weniger bei allen israelischen Juden.

Man könnte sagen, dass die Zionisten, wenn es den Antisemitismus nicht gegeben hätte, ihn hätten erfinden müssen.

Gemäß der zionistischen Ideologie existiert der Staat Israel als eine Zufluchtsstätte für verfolgte Juden. Wo auch immer Juden in der Welt in einer Notlage sind, retten wir sie und bringen sie hierher. (Auch wenn Israel vielleicht der am wenigsten sichere Platz in der Welt für Juden ist.)

Wenn der Antisemitismus zu schwach ist, "um diese Aufgabe zu erfüllen", müssen wir ihm dabei helfen, wie wir es 1952 im Irak taten, als wir Bomben in Synagogen legten, um die Juden anzuspornen, das Land zu verlassen und hierher zu kommen.

Es scheint so, dass gerade jetzt ein Mangel an Antisemitismus vorherrscht. Russische Juden kommen nicht mehr, auch keine amerikanischen. Also muss Frankreich die Lücke schließen.

Es gibt auch eine noch zynischere Erklärung. Israel hat ein aufwendiges Instrumentarium errichtet, um Juden hierher zu bringen. Es gibt Einwanderungs-Beamte in israelischen Botschaften. Es gibt die "Jewish Agency" (Jüdische Agentur) eine weltweite Organisation, die sich hauptsächlich der Aufgabe verschrieben hat, Juden nach Israel zu bringen. Was würde mit diesem ganzen Heer von Gesandten, Organisatoren, Bürokraten, politischen Beauftragten und dergleichen geschehen, wenn es keine Juden gäbe, die sich danach sehnten herzukommen und bei ihrer Ankunft den Boden zu küssen?

Glücklicherweise gibt es diese "Welle von Antisemitismus" in Frankreich und jeder ist voll und ganz damit beschäftigt. Politiker schwingen Reden, Journalisten produzieren emotionale "Untersuchungs"-Serien, die zionistische Seele ist aufgewacht, der Zionismus ist voll im Gange. Flugzeuge voller Kippa tragender Juden kommen an. Hallelujah!


WAS GESCHIEHT mit all diesen Einwanderern, die die "Alija machen", sobald sie hierher kommen?

Das ist eine gute Frage. Einige Bürokraten sind beauftragt, sich um sie zu kümmern. Wir haben ein ganzes Ministerium, das sich der "Eingliederung der Immigranten" widmet. (Es ist wohl der Job für einen Politiker, den er sich als letzten wünscht, eine Art Parkplatz, bis sich etwas Besseres findet.)

Wenn die neuen Einwanderer einmal hier sind, scheinen viele begeisterte Zionisten das Interesse an ihnen zu verlieren. Praktisch alle Einwanderer aus islamischen Ländern - sie selbst wie ihre Nachkommen - beschweren sich seit der Staatsgründung darüber, dass sie benachteiligt würden.

Das Problem steht jetzt im Mittelpunkt einer lebhaften Debatte. Ein Komitee, das von einem blinden orientalischen Poeten geleitet wird, hat gerade einen ausführlichen Bericht erstellt und verlangt, dass sämtliche Geschichtsbücher neu geschrieben werden, um orientalischen jüdischen Politiker, Rabbinern, Künstlern und Schriftstellern auf der Ebene der Parität mit Juden europäischer Abstammung gerecht zu werden.

Halboffiziellen Schätzungen zufolge werden ca. 30 Prozent der neuen "französischen" Einwanderer wahrscheinlich nach Frankreich zurückkehren. Das scheint als normal akzeptiert zu werden.

Aber wenn 70 Prozent bei uns bleiben, ist das ein Reingewinn. Bienvenue, mes amis!



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 16.07.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2016

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