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STANDPUNKT/787: Der Marsch der Toren (Uri Avnery)


Der Marsch der Toren

von Uri Avnery, 21. Juli 2018


MAN KANN die Ereignisse im Gazastreifen entweder mit dem linken oder mit dem rechten Auge betrachten. Man kann sie als unmenschlich, grausam und töricht verurteilen oder man kann sie als notwendig und unvermeidbar rechtfertigen. Doch da gibt es noch ein Adjektiv, das geht über die Frage hinaus: sie sind dumm.

Wenn die verstorbene Barbara Tuchman noch leben würde, könnte sie versucht sein, noch ein Kapitel an ihr bahnbrechendes Opus "Der Marsch der Toren" hinzuzufügen: ein Kapitel mit der Überschrift: "Geblendet in Gaza".


DIE LETZTE Episode in diesem Epos begann vor ein paar Monaten, als unabhängige Aktivisten im Gazastreifen zu einem Marsch an die israelische Grenze aufriefen, den Hamas unterstützte. Er wurde "Der große Marsch zur Rückkehr" genannt, eine symbolische Geste für die mehr als eine Million arabischen Bewohner, die 1948 flohen oder von ihrem Land, das der Staat Israel wurde, vertrieben wurden.

Die israelischen Behörden gaben vor, dies ernst zu nehmen. Ein erschreckendes Bild wurde für die israelische Öffentlichkeit gemalt: 1,8 Millionen Araber - Männer, Frauen und Kinder - würden sich gegen den Grenzzaun werfen, ihn an vielen Stellen durchbrechen und sich auf Israels Städte und Dörfer stürzen. Grauenhaft.

Israelische Scharfschützen wurden entlang der Grenze mit der Order aufgestellt, auf jeden zu schießen, der wie ein "Rädelsführer" aussieht. An mehreren aufeinander folgenden Freitagen (der wöchentliche muslimische Sonntag) wurden mehr als 150 unbewaffnete Demonstranten, einschließlich vieler Kinder, erschossen und viele Hunderte durch Schüsse schwer verwundet, ganz abgesehen von jenen, die durch Tränengas verletzt wurden.

Das israelische Argument war, dass die Opfer erschossen wurden, während sie versuchten, "die Zäune zu stürmen". Tatsächlich war kein einziger dieser Versuche fotografiert worden, obwohl Hunderte von Fotografen auf beiden Seiten des Zauns postiert waren.

Angesichts eines weltweiten Protestes ließ die Armee die Befehle ändern und jetzt werden nur selten Unbewaffnete getötet. Die Palästinenser änderten auch ihre Taktik: die Hauptbemühung gilt jetzt dem Fliegenlassen von Kinderdrachen, die sie mit brennenden Schwänzen nach Israel schicken, um israelische Felder in Brand zu setzen.

Da der Wind fast immer aus dem Westen weht, ist es eine leichte Sache, Israel auf diese Weise zu verletzen. Das können Kinder tun und sie tun es. Jetzt verlangt der Minister für Erziehung, dass die Luftwaffe die Kinder bombardiert, der Stabschef weigert sich und erklärt ihm, dass dies gegen die Werte der israelischen Armee sei.

Gegenwärtig sind unsere Zeitungen und Fernsehnachrichten voll mit Gaza beschäftigt. Alle scheinen sich darüber einig zu sein, dass dort früher oder später ein ausgewachsener Krieg ausbrechen wird.


DAS HAUPTMERKMAL dieser Übung ist ihre äußerste Dummheit.

Jede militärische Aktion muss ein politisches Ziel haben. Wie der deutsche militärische Denker Carl von Klausewitz bekanntermaßen sagte: "Krieg ist nichts weiter als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln."

Der Gazastreifen ist 41 km lang und 6 bis 12 km breit. Er ist einer der am engsten besiedelten Orte auf der Erde. Dem Namen nach gehört er wie die von Israel besetzte Westbank zum weitgehend theoretischen Staat Palästina. Tatsächlich wird der Gazastreifen von der radikalen muslimischen Hamas-Partei beherrscht.

In der Vergangenheit strömten täglich Massen palästinensischer Arbeiter aus dem Gazastreifen nach Israel. Aber seitdem die Hamas im Gazastreifen die Macht übernommen hat, hat die israelische Regierung fast eine totale Blockade über Land- und Seeverbindungen verhängt. Die ägyptische Diktatur, eine enge Verbündete Israels und ein Todfeind des radikalen Islam, arbeitet mit Israel zusammen.

Was will Israel? Die bevorzugte Lösung ist, den ganzen Gazastreifen und seine Bevölkerung im Meer zu versenken. Da dies nicht gut geht, was kann dann getan werden?

Das Letzte, was Israel wünscht, ist, den Gazastreifen mit seiner riesigen Bevölkerung, die nicht vertrieben werden kann, zu annektieren. Israel will keine Siedlungen im Gazastreifen aufbauen (die wenigen, die dort aufgebaut wurden, wurden von Ariel Scharon abgerissen, der dachte, es lohne sich nicht, sie zu halten und zu verteidigen).

Die wirkliche Politik ist, das Leben in Gaza so miserabel zu machen, dass die Gazaner selbst sich erheben und die Hamas-Behörden hinauswerfen. In diesem Sinn wurde die Wasserversorgung auf zwei Stunden pro Tag reduziert, mit dem Strom geschah dasselbe. Die Beschäftigung liegt bei rund 50%, der Lohn unter dem Minimum. Es ist ein Bild totalen Elends.

Da alles, was Gaza erreicht, durch Israel (oder Ägypten) kommt, sind Vorräte oft tagelang vollständig abgeschnitten - als "Strafe".

Leider zeigt die Geschichte, dass solche Methoden selten Erfolg haben. Sie vertiefen nur die Feindschaft. Was kann also getan werden?


DIE ANTWORT ist unglaublich einfach: sich zusammen hinsetzen, miteinander reden und ein Abkommen erreichen.

Ja, wie kann man mit einem Todfeind zusammensitzen, dessen offizielle Ideologie einen jüdischen Staat total ablehnt?

Der Islam, der (wie jede Religion) auf alles eine Antwort hat, kennt etwas, das sich Hudna nennt, einen anhaltenden Waffenstillstand. Dieser kann viele Jahrzehnte dauern und wird (durch die Religion gestützt) gehalten.

Mehrere Jahre lang hat Hamas beinahe offen darauf hingedeutet, dass es für eine lange Hudna bereit wäre. Ägypten hat sich bereit erklärt, zu vermitteln. Unsere Regierung hat das Angebot total ignoriert. Der Feind will eine Hudna. Kommt nicht in Frage, Gott bewahre! Das wäre schrecklich unpopulär.

Aber es wäre das Vernünftigste, was man tun könnte. Stoppt alle feindseligen Akte von beiden Seite, sagen wir mal für 50 Jahre. Hebt die Blockade auf. Baut einen wirklichen Hafen in Gaza-Stadt. Erlaubt freien Handel zwischen Gaza unter einer Art militärischer Inspektion. Dasselbe für einen Flughafen. Macht Gaza zu einem 2. Singapur. Erlaubt freie Bewegung zwischen Gaza und der Westbank über eine Brücke oder eine exterritoriale Autobahn. Erlaubt Arbeitern aus Gaza, in Israel Arbeit zu finden, anstatt Arbeiter aus China und Rumänien zu importieren.


WARUM NICHT? Allein die Idee wird von einem gewöhnlichen Israeli zurückgewiesen.

Ein Geschäft mit der Hamas? Unmöglich!!! Hamas will Israel zerstören. Jeder weiß das.

Ich höre dies viele Male und wundre mich über die Dummheit der Leute, die dies wiederholen.

Wie kann eine Gruppe von ein paar Hunderttausend einen der am schwersten bewaffneten Staaten, der Nuklear-Waffen besitzen, zerstören? Wie? Mit Drachen?

Donald Trump und Vladimir Putin erweisen uns Ehrerbietung. Der Welt faschistische Diktatoren und liberale Präsidenten kommen zu Besuch. Wie kann Hamas eine tödliche Gefahr darstellen?

Warum stoppt Hamas nicht selbst die Feindseligkeiten. Hamas hat Konkurrenten, die sogar noch radikaler sind. Sie wagt nicht, irgendein Zeichen von Schwäche zu zeigen.


VOR EIN paar Jahrzehnten hat die arabische Welt auf die Initiative Saudi Arabiens Israel unter mehreren Bedingungen den Frieden angeboten - alle waren akzeptabel. Aufeinander folgende Regierungen haben sie nicht nur nicht akzeptiert, sie haben sie alle ignoriert.

Darin liegt eine gewisse Logik. Die israelische Regierung will die Westbank annektieren. Sie will, dass die arabische Bevölkerung rausgeht und durch jüdische Siedler ersetzt wird. Sie führt diese Politik langsam und vorsichtig, aber konsequent durch.

Es ist eine grausame Politik, eine widerwärtige Politik, doch liegt eine gewisse Logik darin. Wenn man wirklich dieses abscheuliche Ziel hat, dann mag die Methode adäquat sein. Aber dies passt nicht zum Gazastreifen, den keiner zu annektieren wünscht. Die auf Gaza angewandten Methoden sind die reine Dummheit.


DIES BEDEUTET nicht, dass die israelische Politik den übrigen Palästinensern gegenüber auf irgendeine Weise klüger wäre. Das ist sie nicht.

Benjamin Netanjahu und seine handverlesenen dummen Minister haben keine Politik. So sieht es jedenfalls aus. Tatsächlich haben sie eine nicht öffentlich erklärte: eine schleichende Annexion der Westbank.

Dies geht jetzt mit einer größeren Geschwindigkeit einher als vorher. Die täglichen Nachrichten geben den Eindruck, dass die ganze Regierungsmaschine sich jetzt auf dieses Projekt konzentriert.

Dies wird direkt zu einem Staat im Apartheid-Stil führen, wo eine große jüdische Minderheit eine arabische Mehrheit dominiert.

Für wie lange? Eine Generation? Zwei? Oder drei?

Es heißt, dass eine kluge Person in der Lage ist, sich selbst aus einer Falle zu ziehen, in die eine weise Person niemals gefallen wäre.

Eine dumme Person zieht sich nicht selbst heraus. Sie ist sich nicht einmal der Falle bewusst.



Copyright 2018 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 21.07.2018
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2018

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