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STANDPUNKT/915: Argentinien - Atilio A. Boron, Vargas Llosa erinnert mich an Goebbels (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Argentinien
Vargas Llosa erinnert mich an Goebbels

Von Atilio A. Boron


(Buenos Aires, 25. Dezember 2019. Von Atilio A. Boron) - In seinem letzten Interview mit der brasilianischen Tageszeitung O Estado de Sao Paulo wiederholt der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa seine ermüdende Litanei zu den politischen Entwicklungen in Lateinamerika und erklärt: "Die Argentinier werden die Abwahl von Mauricio Macri noch bitter bereuen" [1]. Nicht nur das: Den Wahlsieg Alberto Fernández' bezeichnet er als "Tragödie"; die auf die "unglückselige" Entscheidung vieler Menschen, dem Wahlbündnis "Frente de Todos" ihre Stimme zu geben, zurückgehe: "Dieser politische Selbstmord ist bemerkenswert, schließlich weiß man ja, dass das Land alle seine derzeitigen Probleme des Landes dem Peronismus zu verdanken hat."


Verdummung der öffentlichen Meinung

Ehrlich gesagt habe ich lange überlegt, ob ich mich nun hinsetzen und eine Antwort auf Vargas Llosas Bemerkungen schreiben soll. Aber in Anbetracht dieser "Einfälle", dass diese semi-intellektuellen Äußerungen des Autors, die von wirklichen "Ideen" unterschieden werden müssen, dank des abgestimmten Vorgehens der internationalen Medienoligarchie eine enorme Verbreitung erlangen, schien es mir der Mühe wert, mich einzumischen und seine Behauptungen zu widerlegen. Diese Verwirrung und Verdummung der öffentlichen Meinung erfordern eine schnelle Erwiderung auf seine giftigen Angriffe [2]. Ich werde mich auf drei Punkte konzentrieren.


Die Regierungszeit des Vargas Llosa-Freunds Mauricio Macri ist die wahre Tragödie

Erstens: Es wäre schon sehr verwunderlich oder sogar ziemlich dumm, wenn die Argentinier*innen die Abwahl eines Präsidenten bedauern würden, in dessen Amtszeit die Armut der Bevölkerung auf 40,8 % gestiegen ist; weitere 35 % leben knapp oberhalb der Armutsgrenze. In akademischen Analysen und in der Presse wird das gern verschwiegen. Als ob der 60-prozentige "nicht-arme" Teil der Bevölkerung aus einer stabilen Mittelschicht oder stinkreichen Leuten mit dicker Brieftasche bestünde. Überhaupt nicht. Ein Großteil dieser 60 Prozent sind Menschen, die jederzeit in die Armut abrutschen können. Wenn wir von 25 Prozent ausgehen, die nicht arm sind und auch nicht fürchten müssen, arm zu werden, wäre das schon eine sehr optimistische Schätzung. Der Rest bewegt sich definitiv auf Messers Schneide und experimentiert tagtäglich mit 1000 verschiedenen Tricks, um nicht in die Armut abzurutschen. Die Kinderarmut zeigt, dass das stimmt: Sechs von zehn Kindern sind arm. Es erschiene mir geschmacklos, noch einmal auf die hinlänglich bekannten Fakten über die Wirtschaftskrise und den nationalen Notstand einzugehen, die wir der Regierung Macri zu verdanken haben: Senkung der Reallöhne und der Renten, massenhafte Schließung kleiner und mittelständischer Unternehmen, massiver Einbruch des Bruttoinlandsprodukts, saftige Preiserhöhungen im öffentlichen Sektor, galoppierende Inflation und riesige Auslandsverschuldung, was die Kapitalflucht in beispielloser Art und Weise befördert und den korrupten Charakter der Cambiemos-Regierung wie mit einem Brandzeichen kennzeichnet. Die Tragödie war die Regierungszeit des Vargas Llosa-Freunds Mauricio Macri, nicht der Regierungsantritt Alberto Fernández', in den die Bevölkerung ihre Hoffnung setzt. Es besteht also kein Grund, diese Entwicklung zu bedauern!

Kann ein Mann wie Vargas Llosa so elementare Fakten einfach ignorieren? Unmöglich. Diese Annahme können wir ausschließen. Vielmehr ist seine Kritik Ausdruck der fanatischen Obsession eines Konvertiten [in seiner Jugend war Vargas Llosa linker Aktivist, Anm. d. Übers.] oder, noch schlimmer, eines Menschen, dem die Mission übertragen wurde, alles zu verteufeln, was sich dem neoliberalen Paradigma entgegenstellt, auch wenn er dafür lügen und die Wahrheit unter den Teppich kehren muss.


"Den Staat verkleinern, die Nation vergrößern" - eine unselige Doktrin

Zweitens: Mit der Bemerkung, die Ursache für alle Probleme dieses Landes sei der Peronismo, beleidigt er seine Leser*innen, indem er ihnen ihre Intelligenz abspricht. Wie kann man einfach ignorieren, dass sämtliche Staatsstreiche, die das Land seit 1930 in Serie erschüttert haben, ein liberalistisches Wirtschaftskonzept verfolgten? Für die Diktatur der 30er Jahre gilt dies ebenso wie die von 1955, die dem IWF sukzessive die Türen öffnete. Die von 1966 mit dem großspurigen Beinamen "Argentinische Revolution" vertrat genau die Ideen, die der Autor von Tiempos Recios ("Harte Zeiten") begeistert vertritt. Nicht unerwähnt bleiben kann die mörderische Junta des sogenannten "Prozesses" [der Nationalen Reorganisation, Anm. d. Übers.], die 1976 gewaltsam die Macht übernahm, das Land in ein wirtschaftliches und soziales Chaos stürzte, 30.000 Personen verschwinden ließ, die Hoffnung auf eine Rückgewinnung der Falklandinseln auf Jahrzehnte hinaus zum Erliegen brachte und ihre gesamte Wirtschafts- und Sozialpolitik auf dem neoliberalistischen Prinzip und dem Grundsatz: "Den Staat verkleinern, die Nation vergrößern" aufbaute. Als hätte das noch nicht gereicht, wurde diese unselige Doktrin anschließend von Pseudo-Peronist Carlos S. Menem übernommen. Eine nähere Betrachtung zum Thema zeigt, dass "in den 50 Jahren nach dem Beitritt unseres Landes zum IWF-Abkommen bis zur vorzeitigen vollständigen Begleichung der Schuld seit der Währungskrise 2006 Argentinien 38 Jahre in Unterstützungsprogrammen des IWF verbracht hat [3]. Dazu kommt, dass sich die Generaldirektorin des IWF Christine Lagarde innerhalb von zwei Jahren zu einer richtigen Wirtschaftsministerin unter Macri entwickelt hat. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unseres Landes erklärt sich viel mehr, wenn nicht sogar ausschließlich, durch diese 40 Jahre der gemeinsamen Regierung von Präsidentenpalast und IWF und nicht durch die Fehler des Peronimus, die jeder Regierung hätten passieren können, oder den Alfonsinismus zu Beginn des Wiederaufbaus der Demokratie, ja nicht einmal durch die unselige Alianza gegen Ende des letzten Jahrhunderts.


Was hat das alles mit Goebbels zu tun?

Drittens und letztens: Der eine oder die andere Leser*in wird sich sicher schon gefragt haben, was das alles mit Joseph Goebbels zu tun hat. Antwort: einiges, denn der Autor von Tante Julia und der Schreibkünstler zeigt, wie gut er sich auf die Kommunikationstaktiken des Propagandaministers unter Hitler verstand (G. hatte übrigens in Heidelberg im Fach Geisteswissenschaften promoviert, also Vorsicht vor der Uni und den Geisteswissenschaftlern!). Ein Satz, der die Denkweise der Nazihierarchie auf den Punkt bringt, lautet wörtlich: Die Propaganda muss sich auf eine kleine Auswahl an Ideen beschränken und diese unermüdlich wiederholen, sie immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln präsentieren, aber so, dass es stets auf das gleiche Prinzip hinausläuft. Ohne Zweifel oder Brüche. Hierher stammt auch der berühmte Satz: 'Eine Lüge muss nur oft genug wiederholt werden, dann wird sie wahr.'" Genau das tut Vargas Llosa mit der Meisterhaftigkeit seines sprachlichen Könnens: ein paar Ideen aufgreifen und sie bis zur Erschöpfung wiederholen. Ohne Zweifel oder Brüche. Wie bei jedem Fanatiker ist sein Diskurs hermetisch abgedichtet; seine grobgestrickte Ideologie bleibt gegenüber unbequemen Fakten verschlossen. Stattdessen wiederholt er seine Lügen unaufhörlich, wie Goebbels es empfohlen hatte. Vargas Llosas Hartnäckigkeit ist bewundernswert, doch leider steht er auf der falschen Seite. Dank der immensen Macht der Medien werden aus diesen Lügen unumstößliche Wahrheiten oder "Volksempfinden", das nicht einfach so in Zweifel gezogen werden darf. Jeder Kritikversuch wird als gefährlich betrachtet oder gar als Sakrileg empfunden. Trotzdem ist seine Stellungnahme eine künstliche Konstruktion, die wie ein Kartenhaus zusammenstürzt, stellt man sie einer historischen Analyse oder der deutlichen Sprache einer Statistik gegenüber. Aus gutem Grund hat man in den letzten 40 Jahren äußerst selten Gelegenheit gehabt zu erleben, wie er seine Positionen vertritt, und wenn, dann fast immer mit sorgfältig ausgewählten wohlmeinenden Gesprächspartnern.

Zusammenfassend: Die Behauptungen in diesem Interview, die wir uns angeschaut haben, sind reine Propaganda, durchdrungen von einem Hass, der viel aussagt über die Beschaffenheit dieser Zeiten, in denen der Untergang des Neoliberalismus unvermeidlich ist. Das macht den peruanischen Schriftsteller rasend und blendet seinen Verstand. Aber: Er wird sich daran gewöhnen müssen.


Anmerkungen:

[1] Veröffentlicht in O Estado de Sao Paulo am 22. Dezember, wenige Stunden danach erschienen auf Spanisch in der argentinischen Tageszeitung Clarín.
https://www.clarin.com/politica/mario-vargas-llosa-argentinos-van-lamentar-enormemente-derrota-mauricio-macri-_0_42-G4vHQ.html

[2] Eine umfassende Widerlegung seiner künstlichen Propaganda findet sich in meinem El Hechicero de la Tribu (Madrid, Buenos Aires, México: AKAL, 2019)

[3] 1 Noemí BRENTA, Argentina atrapada. Historia de las relaciones con el FMI 1956-2006 (Buenos Aires, Ediciones Cooperativas, 2008)


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/tagespolitik/vargas-llosa-erinnert-mich-an-goebbels/


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2020

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