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STANDPUNKT/931: Berliner Prioritäten (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 12. März 2020
german-foreign-policy.com

Berliner Prioritäten

Bundesregierung räumt in der Coronakrise der Wirtschaft Vorrang vor Schritten zur Eindämmung des Covid-19-Virus ein.


BERLIN - Die Bundesregierung leitet in der Coronakrise Hilfsmaßnahmen für die deutsche Wirtschaft ein und verweigert von der WHO dringend empfohlene Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Berlin unternehme "alles", damit das Covid-19-Virus "die Wirtschaft in Deutschland nicht flächendeckend trifft", ließ sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier schon zu Monatsbeginn zitieren. Die Maßnahmen stärken die Stellung deutscher Unternehmen in der globalen Rivalität; nächste Schritte sollen am morgigen Freitag besprochen werden. Gleichzeitig spricht sich die Bundesregierung dagegen aus, Schulen und Kitas zu schließen. Die WHO und führende Experten raten dazu, weil Kinder das Virus laut ersten Untersuchungen länger als Erwachsene übertragen. Gesundheitsminister Jens Spahn erklärt dagegen, Schulschließungen seien zu vermeiden, damit die Eltern ihren Unternehmen weiter als Arbeitskräfte zur Verfügung stünden. Damit schwindet freilich jede Chance, das Virus, wie es mehreren Ländern Asiens gelungen ist, einzudämmen. Kanzlerin Angela Merkel äußert, es könnten sich "60 bis 70 Prozent" der Bevölkerung anstecken - flächendeckend.

Erste Hilfsmaßnahmen

Die Bundesregierung hat in der Coronakrise erste umfassende Hilfsmaßnahmen für die deutsche Wirtschaft beschlossen. Bereits in der Nacht von Sonntag auf Montag hatten CDU/CSU und SPD sich auf eine deutlich erleichterte Gewährung von Kurzarbeitergeld geeinigt; dies ist für den Fall vorgesehen, dass Mitarbeiter wegen Verdachts auf Covid-19 in Quarantäne müssen oder die Produktion wegen ausbleibender Zulieferteile unterbrochen werden muss.[1] Das Bundeskabinett hat der Maßnahme am Dienstag im Eilverfahren zugestimmt. Darüber hinaus haben die Regierungsparteien neue Investitionsmittel in Aussicht gestellt. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hatte schon zu Monatsbeginn geäußert, Berlin unternehme "alles, damit dieses Virus die Wirtschaft in Deutschland nicht flächendeckend trifft" [2]: Man wolle dazu umgehend "die Liquiditätsspielräume von Unternehmen, insbesondere von kleinen und mittleren sicherstellen". CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt schlug ein rapide mobilisierbares Investitionspaket vor und nannte in diesem Zusammenhang eine Summe von 50 Milliarden Euro.

"Gut, aber nicht genug"

Die deutsche Wirtschaft begrüßt die Maßnahmen und fordert umgehend weitere Schritte. So äußert etwa Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), "der Einstieg in eine Investitionsoffensive" sei "gut", aber nicht ausreichend: "Sinnvoll" seien "die Einrichtung einer nationalen Investitionsallianz aus Bund, Ländern und Kommunen" sowie "das Versprechen eines regelmäßigen Investitionsberichts der Regierung an den Bundestag".[3] Darüber hinaus seien steuerliche Vergünstigungen für Unternehmen wünschenswert; auch sollten "Projekte privater Investoren ... erleichtert werden". Der deutschen Industrie drohe "die längste Rezession seit der Wiedervereinigung"; dies müsse verhindert werden. Neben dem BDI haben eine Reihe weiterer Verbände und Wirtschafts-Think-Tanks Forderungskataloge vorgelegt; Kanzlerin Merkel wird am morgigen Freitagabend mit Vertretern von Unternehmen und Gewerkschaften über weitere Schritte verhandeln.

Wichtige Lektionen

Den eilig gestarteten Krisenmaßnahmen der Bundesregierung zugunsten der deutschen Wirtschaft entspricht eine erstaunliche Indifferenz gegenüber Empfehlungen internationaler Organisationen zum Schutz der Bevölkerung, sofern sie ökonomische Interessen schädigen könnten. Das gilt etwa für Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Berlin teilweise missachtet, obwohl es sich, wenn dies deutschen Zielen nützt, gerne als Wahrer einer "regelbasierten internationalen Ordnung" inszeniert. So hatte die WHO Ende Februar einen Bericht vorgelegt, in dem sie die Schritte, die China nach anfänglichen fatalen Vertuschungsversuchen eingeleitet hatte, offen lobt. Chinas "kompromisslose und rigorose Anwendung nicht-pharmazeutischer Maßnahmen", um die "Übertragung des Covid-19-Virus einzudämmen", habe "wichtige Lektionen für die globale Antwort" auf die Ausbreitung der Krankheit geliefert, heißt es in dem Bericht.[4] Das bezieht sich auf konsequente Quarantänemaßnahmen, darunter nicht nur die Absage von Großveranstaltungen, sondern auch die Schließung von Schulen sowie Betrieben. Der Volksrepublik ist es damit als erstem Land gelungen, das Covid-19-Virus einzudämmen; gestern wurden lediglich 24 neue Fälle verzeichnet, davon zehn bei Rückkehrern, die sich im Ausland angesteckt hatten. Zudem ist eine Eindämmung nach aktuellem Stand auch in Singapur und Hongkong gelungen. Beide hatten eigenständig ebenfalls konsequente Quarantänemaßnahmen verhängt.

"Reset jetzt"

Bereits in dem erwähnten Bericht von Ende Februar hatte die WHO konstatiert, "große Teile der globalen Gemeinschaft" seien "noch nicht bereit, sowohl in ihrer Einstellung als auch materiell, die Maßnahmen durchzuführen, die zur Eindämmung von Covid-19 in China angewandt wurden".[5] Dabei seien sie derzeit "die einzigen", die die Übertragungsketten erwiesenermaßen "durchbrechen oder minimieren" könnten. Unter anderem riet die WHO dringend dazu, nicht nur umgehend umfassende Tests durchzuführen und rigorose Quarantänepflichten durchzusetzen; es müssten auch deutlich weiter reichende Schritte unternommen werden, so etwa die Schließung von Schulen und Betrieben. Der Forderung haben sich auch deutsche Experten angeschlossen. So sprach sich etwa Alexander Kekulé, Mikrobiologe und Virologe an der Universität Halle-Wittenberg, dafür aus, "14 Tage Zwangspause" einzulegen, die Schließung von Schulen und Kindergärten inklusive; dies könne immer noch zu einer Art "Reset" führen. "Wenn wir das machen wollen, dann jetzt", erklärte Kekulé: "In sechs Wochen wäre es dafür zu spät."[6] Die Schließung von Schulen gilt als wichtig, weil Kinder zwar recht wenig Krankheitssymptome entwickeln, das Virus aber deutlich länger übertragen.[7] Mittlerweile haben sich mehrere EU-Länder zu dem Schritt durchgerungen - Italien, Griechenland, Rumänien, Österreich und Dänemark -, daneben 19 weitere Staaten weltweit.[8]

"Worauf es ankommt"

Die Bundesregierung kommt der begründeten Empfehlung der WHO und namhafter Experten bis heute nicht nach. Die Maßnahmen, die sie befürwortet, betreffen nur Freizeitaktivitäten - und nehmen die Arbeit in Firmen so weit wie möglich aus. So äußerte Gesundheitsminister Jens Spahn zu Wochenbeginn, es sei "sicher leichter, auf ein Konzert, einen Klubbesuch, ein Fußballspiel zu verzichten als auf den täglichen Weg zur Arbeit": "Auf diese Abstufung kommt es die nächsten Wochen und Monate an."[9] Um eine Ansteckung zu vermeiden, solle man nach Möglichkeit nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren, sondern zu Fuß gehen oder das Fahrrad nutzen. Spahn sprach sich ausdrücklich auch gegen die Schließung von Schulen und Kindergärten aus; das sei zu vermeiden, damit die Eltern weiterhin zur Arbeit gehen könnten.[10]

Keine Eindämmung

Die Priorisierung deutscher Wirtschaftsinteressen ist damit mit Schritten, die zur Eindämmung des Covid-19-Virus notwendig wären, nicht vereinbar. Entsprechend nannte Bundeskanzlerin Angela Merkel am gestrigen Mittwoch auch nicht die Eindämmung des Virus als Ziel, sondern nur die Verlangsamung seiner Verbreitung: "Es geht um das Gewinnen von Zeit".[11] Dies sei nötig, da sonst das Gesundheitssystem kollabieren könne; schließlich gingen, konstatierte Merkel, Experten davon aus, dass sich "60 bis 70 Prozent" der deutschen Bevölkerung anstecken dürften. Das soll demnach zeitlich so weit wie möglich in die Länge gezogen werden. Freilich ändert dies nichts an der Mortalitätsrate. Sie wird von der WHO aktuell mit 3,4 Prozent angegeben. Wissenschaftler wenden zwar ein, dass dieser Wert wegen der hohen Dunkelziffer bei den Erkrankungen überhöht sein und tatsächlich eher bei einem Prozent liegen könnte. Freilich wäre die Mortalitätsrate dann aber immer noch gut zehn mal so hoch wie diejenige bei der üblichen saisonalen Grippe.[12]


Anmerkungen:

[1] Kurzarbeit und Investitionen - so hilft der Staat. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.03.2020.

[2] Altmaier will Liquiditätsspielräume von Firmen sicherstellen. handelsblatt.com 03.03.2020.

[3] Industrie begrüßt Beschlüsse zum Wirtschaftsschutz. bdi.eu 09.03.2020.

[4], [5] Report of the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19). 16-24 February 2020.

[6] Imre Grimm: Kompletter Corona-Shutdown: Würde unserer Gesellschaft eine Zwangspause guttun? rnd.de 07.03.2020.

[7] Kinder stecken sich mit dem Coronavirus an, werden aber nicht krank. deutschlandfunk.de 09.03.2020.

[8] COVID-19 Educational Disruption and Response. en.unesco.org 11.03.2020.

[9], [10] Heike Schmoll: Die Entdeckung der Langsamkeit. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.03.2020.

[11] Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Coronavirus in Deutschland. Merkel ruft zu Solidarität auf. Berlin, 11.03.2020.

[12] Wolfram Weimer: Welche Sterberate ist zu erwarten? n-tv.de 10.03.2020.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2020

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