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LAIRE/1243: Stuttgart 21 - Wachsender Widerstand gegen Herrschaftsprojekt (SB)


Beschleunigt, getaktet, berechenbar - der Mensch im 21. Jahrhundert

Widerstand gegen Milliardengrab Stuttgart 21 richtet sich gegen die vorherrschende Bevormundung durch den Staat


Wenn Umweltschützer, Stadtentwickler und Verkehrsexperten eine Förderung des Nahverkehrs anmahnen, weil sie den Autoverkehr ausbremsen und die Treibhausgasemissionen und Feinstaubbelastung in den Metropolen reduzieren wollen, dann haben sie damit nicht Großprojekte wie Stuttgart 21 gemeint. Dieses Verkehrs- und Städtebauprojekt dient zuvorderst der Beschleunigung des regionalen, nationalen und europaweiten Zugverkehrs zwischen urbanen Zentren und funktional an die Metropolen gebundenen Subzentren. Die übrigen Räume bleiben auf der Strecke.

Mit Stuttgart 21 werden zig Milliarden Euro in eine umstrittene Infrastrukturmaßnahme zur verkehrstechnischen Umgestaltung des Großraums Stuttgart gesteckt bzw. - wie eine wachsende Zahl von Kritikern einwendet - in den Sand gesetzt. Die Menschen, die sich regelmäßig zu Montagsdemonstrationen treffen und zu Zehntausenden gegen die komplexen Bauvorhaben protestieren, ahnen womöglich, daß sehr viel mehr auf dem Spiel steht als die Verschwendung knapper Mittel - auch wenn die exorbitanten Kosten ein gewichtiger Einwand gegen das Verkehrskonzept sind.

Die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 steht beispielhaft für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Konflikt. Unter den verschiedenen Optionen, wie eine verkehrstechnische Durchgestaltung des Fern-, Regional- und S-Bahnverkehrs in Stuttgart hätte aussehen können, haben die politischen Entscheidungsträger eine der aufwendigsten und teuersten gewählt. Die ist gleichzeitig sozialfeindlich, denn um die - je nach Schätzung - vier, fünf oder acht Milliarden Euro Baukosten wieder hereinzuholen, werden andere Bauvorhaben wie der Ausbau regionaler Zugstrecken gestrichen; voraussichtlich verteuern sich auch die ohnehin sozialfeindlich hohen Fahrpreise.

Auf der 100 Hektar großen innerstädtischen Fläche, die durch Stuttgart 21 frei wird, werden mit Sicherheit Einrichtungen entstehen, die vorzugsweise von wohlhabenderen Personen der Gesellschaft genutzt werden. Damit folgt Stuttgart einem Trend, wie er auch in anderen deutschen Großstädten zu beobachten ist. Durch das Großprojekt soll Stuttgarts Attraktivität als Wirtschaftsstandort und herausragendes urbanes Zentrum erhöht werden. Zugleich findet eine Segregation statt, bei der die ärmeren Bevölkerungsteile in die vorstädtischen Randlagen abgedrängt werden.

Die Bundesregierung, das Land Baden-Württemberg, die Landeshauptstadt Stuttgart und die Deutsche Bahn AG wollen den Standort Stuttgart aber auch deshalb aufwerten, damit dieser in Konkurrenz zu anderen metropolitanen Zentren nicht ins Hintertreffen gerät - ein "Sachzwang" der Globalisierung. Wenn heute eine Autofabrik in China errichtet wird, bekommt das gewissermaßen auch der Stuttgarter Raum zu spüren. Und das um so empfindlicher, je besser der fernöstliche Standort seinerseits verkehrstechnisch mit dem Umland vernetzt ist.

Der Mensch wird immer mehr zur Ware. Personen und Güter werden unter Hochgeschwindigkeit von A nach B befördert, die Taktraten kurz und berechenbar gehalten (auch wenn die Bahn das zur Zeit noch nicht hinbekommt). Die verschiedenen Verkehrssysteme sollen dahingehend optimiert werden, daß ein räumlich und zeitlich geschlossenes, auf ganzer Linie durchgetaktetes System entsteht. Durch nichts und niemanden soll der Fluß der Verkehrsströme gestört werden. Beschleunigung und Kontrolle, Kontrolle durch Beschleunigung sind das Gebot der Stunde.

Dem wird sich das vorherrschende Menschenbild anpassen. Daseinsgrundfunktionen wie wohnen, arbeiten und die Freizeit gestalten - miteinander verbunden über ein einziges Verkehrssystem - werden zu berechenbaren Größen. Der Stadtbewohner verkommt zu einem von zeitlichen Abläufen beherrschten Monaden. Beim Widerstand gegen Stuttgart 21 geht es um viel mehr als "nur" um die Verschwendung von Steuermitteln. Deshalb ergreift er immer größere Bevölkerungsteile und genau deshalb werden die vorherrschenden Interessen nicht nachgeben.

19. September 2010