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LAIRE/1300: Wohlstand hat seinen Preis ... den andere zahlen müssen (SB)


Fluchtgrund Wohlstandsgefälle

Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken


Diese Woche sind mindestens 300 Flüchtlinge bei dem Versuch, mit mehreren Schlauchbooten von Afrika aus über das Mittelmeer nach Europa zu fahren, ums Leben gekommen. In der Woche davor sind etliche Flüchtlinge erfroren, und an den Grenzen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla kommen regelmäßig Menschen um oder werden schwer verletzt, weil sie versuchen, die sieben Meter hohen, dreifach gestaffelten, mit Stacheldraht bewehrten Grenzzäune zu überwinden. Da dies einigen Flüchtlingen noch immer gelingt, soll die Grenzbefestigungsanlage nun um einen vierten Zaun erweitert werden.

Im vergangenen Jahr unterhielt Italien mit der Initiative Mare Nostrum ein Rettungsprogramm für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. Doch Mare Nostrum wird nicht mehr finanziert, und das Nachfolgeprogramm Triton der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ist, wie die vielen aktuellen Todesfälle zeigen, nicht im mindesten ein Ersatz. Wobei Helmut Dietrich von der Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) in Berlin im vergangenen Jahr darauf aufmerksam gemacht hat, daß durch Mare Nostrum keineswegs weniger Menschen im Mittelmeer ums Leben kommen als zuvor. Warum das so ist, erklärte er im Gespräch mit dem Schattenblick:

"Die Technik ist eine Kriegstechnik, sie wurde in den Kriegen in Afghanistan und dem Irak entwickelt, um Menschen aufzuspüren. Wenn das geschieht, wird keine Rettung eingeleitet, sondern die Menschen sollen dann von den nordafrikanischen Küstenwachen zurückgeholt werden. Das passiert aber nicht. Das heißt, Mare Nostrum, jene von Italien durchgeführte, große, militärische Aufklärung, in der enorm viel Technik zum Einsatz kommt, klappt nicht. Die Technik funktioniert nicht, sie ist nicht so einsetzbar, wie es eigentlich geplant war." [1]

So wichtig es für die Flüchtlinge auch wäre, wenn ein funktionierendes Seenotrettungssystem aufgebaut würde, wozu die Europäische Union mit Hilfe ihrer Satelliten, Drohnen und Wachboote der Grenzschutzagentur Frontex sehr gut in der Lage wäre, so wichtig ist es mindestens ebenso, die Fluchtgründe zu beheben. Welchen Anlaß jeder einzelne auch hat, seine Heimat zu verlassen, als Massenphänomen spitzen sich die Fluchtgründe auf einen zentralen Widerspruch zu: Zwischen Afrika und Europa besteht ein enormes Wohlstandsgefälle. Für Spanien und Marokko beträgt es laut Dietrich inzwischen eins zu dreizehn.

Heute unvorstellbar, aber in den sechziger, siebziger und auch noch achtziger Jahren, als das Wohlstandsgefälle sehr viel geringer war, konnten die Menschen zwischen Marokko und den beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla ohne Visum pendeln. Erst 1993, drei Jahre nach Abschluß des Vertrags von Maastricht zur Integration der Europäischen Union, wurde der Bau von Zäunen als Abschottung nach außen, also gegenüber Afrika, geplant; 1996 standen die ersten Grenzbefestigungsanlagen. Durch diesen Bau habe sich etwas Wichtiges geändert, sagte Dietrich. Den Menschen, die nicht erwünscht sind, wurden grundlegende Rechte abgesprochen. Sie wurden zu Menschen zweiter Klasse abgestempelt.

Nach Einschätzung von Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt starben seit dem Jahr 2000 mindestens 30.000 Flüchtlinge auf dem Weg in die Europäische Union. Manche EU-Strategen verkaufen es deshalb als humanitäre Geste, wenn die Flüchtlingsabwehr durch den Aufbau von Lagern in Nordafrika und Abschluß von Rückführungsabkommen, durch Verträge zur Mobilitätspartnerschaft und weitere administrative "Errungenschaften" bereits weit im Vorfeld Europas stattfindet. Auf diese Weise werde verhindert, so heißt es, daß sich die Flüchtlinge Schleppern anvertrauen, die sie doch nur in überfüllten, morschen Booten über das Mittelmeer schickten.

Das Argument ist jedoch zynisch, weil es die teils verheerenden Lebensbedingungen in den Subsaharastaaten und das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika außer acht läßt - abgesehen davon, daß ein wachsender Anteil der Flüchtenden aus Gebieten kommt, in denen bewaffnete Kämpfe stattfinden. Das Leben dieser Menschen war somit unmittelbar gefährdet.

Jene schlechten Lebensbedingungen in Afrika wiederum sind eine durchaus kalkulierbare Folge von bilateralen Verträgen, beispielsweise Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs - Economic Partnership Agreements), die die Europäische Union unter Verwendung massiven Drucks mit afrikanischen Ländern abgeschlossen hat, und weiteren Mechanismen der Vorteilsnahme durch die "Erste Welt". Während die EU mit solchen Verträgen insbesondere ihren Agrarsektor vor Exporten aus Afrika schützt, aber zugleich die europäischen Bauern und den Export ihrer Waren mit Milliardenbeträgen subventioniert - konkurrenzlos hoch für afrikanische Bauern -, sorgt sie gleichzeitig dafür, daß die Handelsschranken in Afrika für europäische Exporteure gesenkt oder gar abgebaut werden. Darunter leidet die nicht-subventionierte landwirtschaftliche Produktion in den Ländern des Südens, was zur Folge hat, daß die Menschen dort verarmen. Nicht selten, daß ganze Familien Geld sammeln, um wenigsten einem aus der Verwandtschaft, zumeist einem kräftigen jungen Mann, die Überfahrt auf irgendeinem Seelenverkäufer nach Europa zu bezahlen.

Durch solche und weitere "bewährte" Maßnahmen (wie das Zinssystem, aufgrund dessen der zu leistende Schuldendienst afrikanischer Staaten die ursprüngliche Kredithöhe regelmäßig bei weitem übersteigt) gelingt es den wirtschaftlich stärkeren Staaten Europas, das Wohlstandsgefälle gegenüber Afrika aufrechtzuerhalten.

Hier wird Wachstum zu Lasten anderer generiert, und gewiß kann es für die afrikanischen Staaten kein Trost sein, daß sich das Wohlstandsgefälle zwischen den Anrainerstaaten nördlich und südlich des Mittelmeeres in den letzten Jahren anscheinend wieder annähert. Nicht etwa als Folge zunehmenden Wohlstands in Afrika, sondern weil EU-Peripheriestaaten wie Portugal, Spanien und Griechenland zugunsten kerneuropäischer Staaten wie Deutschland in die Verarmung gezwungen werden.


Fußnote:

[1] http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0127.html

13. Februar 2015


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