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LAIRE/1351: Verteilung - wenn wir über Armut sprechen ... (SB)



Ein kurzes Resümee zum "Tag für die Beseitigung der Armut" am 17. Oktober 2019: Weltweit hungern rund 820 Millionen Menschen, über zwei Milliarden sind mangelernährt. Offensichtlich sind diese Menschen zu arm, um sich gesund zu ernähren oder überhaupt zu ernähren, denn Nahrung wird das letzte sein, auf das sie verzichten. Die meisten Armen leben in den Ländern des Globalen Südens, insbesondere in Afrika, doch auch innerhalb von Wohlstandsländern wie den USA und Deutschland nimmt die Einkommensspreizung und damit die Armut zu. Das hat konkrete Folgen: Hierzulande leben die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung durchschnittlich zehn Jahre länger als die ärmsten fünf Prozent.

Die Berichte "Right to Food and Nutrition Watch" (z. Dt.: Recht auf Nahrung und Ernährungsbeobachtung) werden seit 2008 jedes Jahr vom Evangelischen Entwicklungsdienst Brot für die Welt und der Menschenrechtsorganisation FIAN International, die Teil eines weltweiten Netzwerks von Organisationen zu diesem Thema sind, herausgegeben. Es geht darin um eine Bestandsaufnahme, inwiefern auf globaler, regionaler, nationaler und lokaler Ebene von den Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft das Recht auf Nahrung eingelöst wird. Außerdem geht es darum, Menschen, die um eben dieses Recht kämpfen, eine Stimme zu verleihen.

Dem jüngsten, im Oktober 2019 erschienenen Bericht zufolge ist die Zahl der Menschen, die unter Hunger und "mittlerer oder schwerer Ernährungsunsicherheit" leiden, zwischen 2014 und 2018 um 300 Millionen auf über zwei Milliarden angestiegen. Wörtlich heißt es: "Die anhaltende Abhängigkeit von quantitativen Daten kann die strukturellen Auswirkungen, Hungerursachen und globalen Ungleichheiten nicht berücksichtigen und verstärkt einen 'business as usual'-Ansatz und nicht den radikalen Wandel, der erforderlich ist, um sie anzugehen." [1]

Unübersehbar zögen sich die Weltmächte von ihrer historischen Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte zurück: "Alle Länder weltweit, im Norden wie im Süden, haben im Berichtszeitraum einen Anstieg von Hunger, Unterernährung und Ernährungsunsicherheit erfahren. Damit einher ging ein weltweiter Trend zu einer regressiven Sozialpolitik, in Richtung fremdenfeindlicherer und autoritärerer Regierungen, die häufig den Sozialstaat durch eine Politik der Austerität und Technokratie ersetzen."

Im Gegensatz zu den hier geschilderten Trends wird in einer Untersuchung des Instituts für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig behauptet und rechnerisch dargelegt, daß in den letzten 30, 40 Jahren die Armut weltweit dramatisch zurückgegangen ist. Dr. Alexander Fink vom Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig, antwortete auf die Frage, wie sich die Zahl der Menschen, die weltweit unter der Armutsgrenze leben, entwickelt hat: "Sehr positiv, sowohl relativ als auch absolut. Lebten 1981 knapp über 42 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut, waren es 2018 nach Schätzungen der Weltbank noch 8,6 Prozent." [2]

Die nominellen volkswirtschaftlichen Kenndaten spiegeln anscheinend nicht die sozioökonomische Lebenswirklichkeit der hungernden und mangelernährten Menschen wider. Anders gesagt, am heutigen Tag zur Beseitigung der Armut wird das genaue Gegenteil dessen betrieben, wofür dieser Gedenktag steht. Ausreichende und qualitativ gute Nahrung gibt es nur für die Reichen und allenfalls noch den (allgemein schrumpfenden) Mittelstand, nicht jedoch für die Armen. Auch wenn sie durchschnittlich mehr als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben, was von der Weltbank als Grenze zur Armut festgelegt wurde, weiß laut der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, rund jeder vierte Mensch nicht, ob er am nächsten Tag etwas zu essen hat, das qualitativ einigermaßen nahrhaft ist. [3]

Warum die Qualität der Nahrung bei der Bewertung der Ernährungssicherheit ein Kriterium sein muß, wird an einem krassen Beispiel klar: Auf Haiti haben die Überlebenden des schweren Erdbebens vom 12. Januar 2010 mit rund 300.000 Todesopfern angefangen, Lehm zu Fladen zu formen und in der Sonne zu trocken, weil sie ansonsten nichts zu essen hatten. Solche Lehmfladen sind kein bißchen nahrhaft und führen bei anhaltendem Verzehr zu schwerwiegenden Mangelerscheinungen.

Die Verwirklichung der 17 SDGs, der "Nachhaltigen Entwicklungsziele", die unter anderem vorsehen, bis 2030 das Recht auf Nahrung für alle Menschen zu verwirklichen, und zu denen sich die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen verpflichtet haben, wird besonders in Hinsicht auf Hunger- und Armutsbekämpfung absehbar nicht erfüllt. Ist doch die internationale Staatengemeinschaft nicht im entferntesten bereit, die fundamentalen Voraussetzungen der Armutsentstehung zu beseitigen, nämlich die Bereicherung.

Solange die hinter diesem Widerspruch steckende Eigentumsfrage nicht gestellt wird, können Menschen, Institutionen und Regierungen nicht einfach nur Eigentum anhäufen, dessen Nutzen und Zweck darin besteht, die freie Verfügbarkeit von Grund und Boden, Wasser, Nahrungsmitteln, produzierten Gütern, etc. einzuschränken und andere Menschen von deren Gebrauch abzuhalten, sondern darüber hinaus auch andere Menschen in die Verschuldung treiben, so daß sie für sie arbeiten.

Diejenigen Länder, in denen der Anteil an armen Menschen besonders hoch ist, insbesondere in Afrika südlich der Sahara, sind auch hoch verschuldet und müssen einen erheblichen Teil ihrer Staatshaushalte in den Schuldendienst stecken. Volkswirtschaftlich wird das Geld erarbeitet, aber es handelt sich um Arbeit, deren Ergebnis dem Land entzogen wird. Das bringt die Schuldherrn in eine komfortable Situation, denn so können sie die Politik dieser Staaten diktieren.

Ein aktuelles Beispiel hierfür ist Ecuador. Der südamerikanische Staat hat sich beim Internationalen Währungsfonds über die Aufnahme eines Kredits in Höhe von 4,2 Mrd. Dollar verschuldet und versucht, dessen Auflage zu erfüllen und die staatliche Subventionierung von Benzinpreisen aufzuheben. Weil das nicht nur auf einen Schlag den Treibstoffpreis verdoppelt, sondern unverzüglich zur Verteuerung unter anderem von Grundnahrungsmitteln geführt hat, waren Unruhen ausgebrochen. Ecuadors Präsident Lenin Moreno hat das umstrittene Gesetz wieder zurückgezogen und damit den Druck seitens der Bevölkerung wieder abgeschwächt. Aber der IWF ist nicht dafür bekannt, klein beizugeben, und wird von Moreno einen Preis für seinen Rückzieher fordern.

Die Sicherung des Eigentums ist eine zentrale Aufgabe der vorherrschenden staatlichen Ordnung weltweit. In der Praxis zeigt sich, daß das Recht auf Nahrung dem fundamentalen Recht auf Eigentum nachgeordnet wird. Menschen, die im Überfluß leben, während andere verhungern, wissen das Recht auf ihrer Seite. Man könnte sogar sagen, daß es eine wichtige Funktion von Recht ist, diese Diskrepanz zu legitimieren. Es handelt sich folglich bei der Etablierung von Recht um ein Mittel der Gewalt, ansonsten wäre schwer erklärlich, warum Menschen, die hungern oder von Hunger bedroht sind, nicht nach dem überbordenden Eigentum anderer greifen, was gemeinhin als "vergreifen" bezeichnet wird.

Welcher der beiden oben genannten Einschätzungen man auch folgt, also entweder davon ausgeht, daß die Menschheit in den letzten Jahrzehnten schon viel erreicht hat, oder eine Armutszunahme konstatiert - in beiden Fällen bleiben die Eigentumsordnung und die hinter dem Recht subsumierten (Wohl-)Verhaltensnormen unangetastet. Das ist der Grund, weswegen Hunger und Armut nicht das Ergebnis einer unkorrigierbaren geschichtlichen Entwicklung sind, sondern ständig neu produziert werden.


Fußnoten:

[1] https://www.righttofoodandnutrition.org/files/state-rtfn-report_2019_eng.pdf

[2] http://idw-online.de/de/news725294

[3] http://www.fao.org/3/ca5162en/ca5162en.pdf

17. Oktober 2019


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