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DILJA/1093: Palästina - Soll der Hungerkrieg 2009 die Vertreibung vollenden? (SB)


"Transfer" - Will Israel die besetzten palästinensischen Gebiete von Palästinensern entvölkern?

Israels Hungerkrieg 2009 gegen die Bewohner des Gazastreifens könnte auf deren restlose und endgültige Vertreibung abzielen


Es ist kein Krieg, es gibt keine sich gegenüberstehenden Heere. Es ist ein Morden. Es handelt sich nicht um eine Repressalie, es sind nicht die selbstgebastelten Raketen, die erneut auf israelisches Territorium fielen, sondern es ist die zeitliche Nähe zum Wahlkampf, die den Angriff ausgelöst hat. Es ist nicht die Antwort auf das Ende des Waffenstillstandes, denn während dessen Geltungsdauer hat die israelische Armee die Blockade von Gaza noch verschärft und ihre tödlichen Operationen nicht eingestellt, 256 Tote in den sechs Monaten einer vermeintlichen Feuerpause, mit der zynischen Rechtfertigung, daß ihr Ziel immer nur die Mitglieder der Hamas seien. Als ob die Mitgliedschaft in der Hamas den vom Einschlag eines Geschosses zerfetzten Körper seiner menschlichen Eigenschaft entkleide, und als ob selektiver Mord nicht immer noch Mord bleibe.

Es ist keine Explosion der Gewalt. Es handelt sich um eine geplante und seit geraumer Zeit von der Besatzungsmacht angekündigte Offensive. Ein weiterer Schritt bei der Vernichtung des Widerstandswillens der palästinensischen Bevölkerung, die im Westjordanland der täglichen Hölle der Besatzung unterworfen ist und im Gazastreifen einer Aushungerung, deren letzte Episode nun das Gemetzel ist, das die Bildschirme mitten in freundlichen und festlichen Weihnachtsbotschaften füllt.
(...)

So beginnt eine von den Literaturnobelpreisträgern José Saramago und Pilar del Río sowie weiteren Kulturschaffenden und Publizisten gegen den Krieg Israels im Gazastreifen veröffentlichte Stellungnahme [1]. Während der internationalen Presse noch relativ viele Berichte und Stellungnahmen zu entnehmen sind, in denen die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen thematisiert und angeprangert wird, sind Zeugnisse dieser Art, in der in keiner Weise die israelische Rechtfertigungspropaganda übernommen und akzeptiert wird, rar gesät. Bei einer solch kompromißlosen Stellungnahme liegt es nahe, sich über die vorgeblichen und tatsächlichen Kriegsziele der israelischen Regierung Gedanken zu machen und diesbezügliche Spekulationen anzustellen. Israel selbst führt zur Begründung dieses am 27. Dezember mit Bombardierungen aus der Luft begonnenen und am 3. Januar 2009 in einen Bodenkrieg übergeführten militärischen Feldzugs gegen eine nahezu wehrlose Bevölkerung wahlweise an, es solle die den Gazastreifen kontrollierende und 2006 als Regierung aller Palästinenser gewählte Hamas gestürzt und/oder der aus dem Gazastreifen erfolgende Raketenbeschuß auf israelisches Territorium unterbunden werden.

Diese Gründe sind mehr als fadenscheinig und offensichtlich darauf angelegt, die Akzeptanz des israelischen Vorgehens in der westlichen Welt auch über einen längeren Zeitraum hinweg - erklärtermaßen rechnet die israelische Armee mit einem "harten und langen Kampf" - abzusichern. Forderungen der europäischen Verbündeten nach einer sofortigen Waffenruhe werden von der israelischen Regierung ebenso strikt wie stereotyp abgelehnt; zuletzt mit der von Außenministerin Zipi Livni vorgetragenen Begründung, Israel "bekämpfe den Terrorismus" und werde "keine Absprachen mit dem Terrorismus treffen". Damit bewahrheitet sich einmal mehr, daß es entgegen des in den westlichen Medien erweckten Eindrucks die israelische Seite ist, die in diesem hocheskalierten Konflikt absolut nicht bereit ist, mit der anderen Seite zu sprechen.

Dies nährt den sich ohnehin aufdrängenden Verdacht, daß Israel nicht nur, wie in der von den Literaturnobelpreisträgern verfaßten Erklärung nahegelegt wird, den "Widerstandswillen der palästinensischen Bevölkerung" vernichten, sondern die Palästinenser aus dem Gazastreifen und in einem zweiten Schritt sicherlich auch aus dem Westjordanland endgültig vertreiben will. Läge es in der Absicht der israelischen Regierung, dauerhaft ein Zusammenleben mit den Palästinensern zu organisieren - und sei es unter den Bedingungen einer Bantustan-Existenz, bei der die israelische Regierung ihre Besatzungspolitik festschreibt und wie bisher den Palästinensern nicht mehr als ein Leben in Armut unter der militärischen De-Facto-Hoheit Israels zubilligt -, hätte sie nicht nur mit der Fatah und ihrem Wunschpräsidenten Abbas, sondern auch mit der Hamas handelseinig werden können.

Die Behauptung, die Hamas würde den Staat Israel auslöschen und alle Juden ins Meer werfen wollen, ist eine gezielt kolportierte Falschdarstellung. Tatsache ist, daß der 2006 gewählte palästinensische Ministerpräsident Ismail Hanija Israel schon damals ein umfassendes Verhandlungsangebot gemacht hatte. Sollte sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückziehen, so stellte Hanija in Aussicht, würden die Palästinenser "auf lange Jahre einen Waffenstillstand einhalten". Im Mai desselben Jahres hatte der Chef der Hamas, der im Exil in Syrien lebende Chaled Meschaal, Israel ebenfalls angeboten, über einen langfristigen Waffenstillstand zu verhandeln. Die "Antwort" Israels bestand darin, Meschaal offen mit seiner Ermordung zu drohen. Im Juni 2006 begann die israelische Luftwaffe, den Gazastreifen zu bombardieren, Ende des Monats rückten zum zweiten Mal nach dem Abzug der Israelis im September 2005 Bodentruppen gewaltsam in den Gazastreifen ein.

Es erfolgte eine Großoffensive Israels, die vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan als "unverhältnismäßige Gewalt" kritisiert wurde. Der palästinensische Ministerpräsident Hanija rief beide Seiten am 8. Juli 2006 zu einem Waffenstillstand auf, Israels Ministerpräsident Olmert lehnte ab. Israel verschärfte die Offensive im Gazastreifen und zielte darauf ab, die Infrastruktur der Palästinenser zu zerstören. Wenig später begann Israel, ohne die Offensive im Gazastreifen zu beenden oder auch nur abzuschwächen, mit dem Krieg gegen den Libanon. Unter den Bedingungen fortgesetzter militärischer Angriffe durch Israel sowie einer internationalen Blockade sah sich die gewählte Hamas-Regierung am 13. September 2006 schließlich zum Rücktritt genötigt in der Hoffnung, durch eine gemeinsam mit der Fatah gebildete Regierung der nationalen Einheit die Not der Bevölkerung lindern zu können. Dies war die entscheidende Weichenstellung für eine Spaltung der Palästinenser, und keineswegs wurden die Versprechungen erfüllt, um derentwillen die Hamas in ihre eigene Teilentmachtung eingewilligt hatte.

Der jetzige Krieg ist im Vergleich zu den Angriffen im Sommer 2006 noch weitaus verheerender, was die Opferzahlen unter den Palästinensern sowie die massiv eingeschränkten Überlebensmöglichkeiten der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens betrifft. Angesichts des Nachdrucks, den die israelische Regierung in die Eskalation dieses Krieges legt und ganz offensichtlich aufgrund der ihr gewährten Unterstützung durch die führenden westlichen Staaten auch legen kann, ist schwer nachzuvollziehen, warum die von Israel ausgegebenen Kriegsziele nicht deutlicher in Frage gestellt werden. Da die Hamas immer und immer wieder Verhandlungs-, wenn auch keine Kapitulationsbereitschaft signalisiert, was von israelischer Seite brüsk zurückgewiesen wird, liegt auf der Hand, daß Israel auf ihren Sturz hinarbeitet. Dies wird von israelischen Politikern auch durchaus zum Ausdruck gebracht.

Die tatsächlichen Hintergründe dieses Krieges könnten jedoch noch weit über den Sturz der demokratisch gewählten Regierung eines anderen Volkes hinausgehen. In Israel gibt es seit langem die wenn auch in aller Öffentlichkeit nur von der Rechten vertretene Position, die Palästinenser auch aus den besetzten Gebieten zu vertreiben und auf diese Weise das Problem zu "lösen". Als der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Sharon 2004 gegen den zum Teil wütenden Protest der Siedler den Beschluß faßte, die im Gazastreifen befindlichen israelischen Siedlungen vollständig aufzugeben und auch das Militär aus dem Gazastreifen abzuziehen, wurde im Schattenblick folgende Vermutung angestellt [2]:

Einige tausend Siedler aus dem Gazastreifen zu evakuieren könnte, sollte Sharon diese Ankündigung tatsächlich wahrmachen, ungeachtet der massiven Proteste der Siedler, des Likud-Blocks sowie der beiden kleineren, ultranationalisten Koalitionspartner, der Vorbote einer gegen die Palästinenser gerichteten militärisch-wirtschaftlichen Offensive sein, deren strategischer Nutzen darin läge, die Siedler in dem größten Freiluftgefängnis der Welt buchstäblich aus der Schußlinie zu nehmen, um dann umso reibungsloser den gewaltsamen Exodus der Palästinenser - besagte "Abnutzungsschlacht" - vorantreiben zu können.

Die Siedlungen wurden aufgegeben, und die seitdem geführten Kriege sowie die systematische Strangulations- und Blockadepolitik gegen die Bevölkerung des Gazastreifens könnten ohne weiteres als eine "militärisch-wirtschaftliche Offensive" bewertet werden. Es ist allerdings wenig plausibel anzunehmen, daß die israelische Regierung die "Lösung" des Palästinenserproblems in der Ausschaltung der Hamas sehen könnte, da sich angesichts der extremen Bedingungen, unter denen sich insbesondere die Gazastreifenbevölkerung zu leben gezwungen sieht, der palästinensische Widerstand gegen Ghettoisierung, Blockade, Aushungerung und Krieg schnell auf andere Weise artikulieren und organisieren würde. Das Konzept des "Transfers", wie die gewaltsame Vertreibung einer ganzen Bevölkerung euphemistisch genannt wird, ist in Israel nur vordergründig ein Tabuthema.

Im Wahlkampf von 2003 - Ariel Sharon gewann am 28. Januar die Parlamentswahlen - hatten die ultrarechten Parteien Moledet, Bethenu und Tekuma die "Deportation" der Palästinenser nach Jordanien oder in einen anderen arabischen Staat offen zum Wahlkampfthema gemacht. Der US-amerikanische Krieg gegen den Irak stand kurz bevor und wurde, so zumindest berichtete die israelische Zeitung Ha'aretz im Februar 2003, von der israelischen Regierung herbeigesehnt, weil sie im Zuge dessen eine Chance sah, "die Abnutzungsschlacht mit den Palästinensern zu gewinnen". Jürgen Hogrefe, früherer Spiegel-Korrespondent in Israel, will einem Bericht der Wochenzeitung "Freitag" vom 21. März 2003 zufolge in Erfahrung gebracht haben, daß der israelische Geheimdienst beim deutschen vorstellig geworden wäre um zu erfahren, ob die Deutschen protestieren würden, sollte die israelische Regierung während des Irak-Krieges anfangen, die Palästinenser zu vertreiben.

Allem Anschein nach wurde die Frage damals (noch?) mit Ja beantwortet. Im Wahlkampf 2003 standen auf vielen Plakaten, die die israelischen Behörden keineswegs entfernen ließen, Parolen wie "Keine Araber, kein Terror", "Palästinenser nach Jordanien" und "Transfer bedeutet Frieden und Sicherheit". Schon im April 2002 hatte Martin van Crefeld, ein als regierungskritisch geltender israelischer Militärhistoriker, auf die Frage, ob "ein Plan für die Deportation der Palästinenser existiert", zur Antwort gegeben, daß dies der Grund sei, warum Sharon den Konflikt mit den Palästinensern immer weiter hochkochen lassen würde. Felicity Arbuthnot, eine britische Journalistin, die als profunde Nahost-Expertin gilt, hatte gegenüber der "World Socialist Website" am 18. März 2003 unter anderem auch von einem unbewohnten Gebiet namens Ashraqin im östlichen Jordanien berichtet, das von den USA zur Errichtung eines Lagerplatzes für vertriebene Palästinenser vorbereitet worden sei.

Im Jahre 2004 hatte die Akzeptanz des Transfer-Projektes innerhalb Israels deutlich zugenommen. Umfrageergebnissen zufolge hatte diese noch im Jahre 1991 bei lediglich sieben bis acht Prozent der Bevölkerung gelegen. 2004 sollen bereits 45 Prozent der Israelis der Vertreibung der Palästinenser zur "Lösung" des Nahostproblems zugestimmt haben. Der frühere General, Tourismusminister und Vorsitzende der Vaterlandspartei, Rehavam Zeevi, hatte öffentlich den "Transfer" der Palästinenser gefordert. Als der damalige israelische Ministerpräsident Yitzhak Shamir ihn 1991 in sein Kabinett holen wollte, erhob Benjamin Begin, Mitglied der Knesset und Sohn Menachim Begins, wütende Einwände. Der Eintritt dieser Partei in die Regierung sei ein profunder politischer, moralischer und sozialer Makel für Israel. Wer eine solche Partei in die Regierung aufnehme, so Begin, bestätige die UN-Resolution, in der Zionismus als eine Form des Rassismus bezeichnet wird.

Rehavim Zeevi wurde im Oktober 2001 getötet, wofür die "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) die Verantwortung übernahm. Auf Geheiß des Erziehungsministeriums wurde an allen Schulen Israels das Gedenken an Zeevi hochgehalten. Zeevi stand mit seiner Position, die Vertreibung der Palästinenser offen zu propagieren, keineswegs so allein dar wie es die Annahme, diese Forderung würde nur von der äußersten Rechten erhoben werden, vermuten lassen könnte. Moshe Ya'alon, seinerzeit stellvertretender Generalstabschef, hatte am 17. November 2000 gegenüber Ha'aretz erklärt, daß ein Krieg gegen den Irak für Israel eine gute Gelegenheit wäre, "die zweite Hälfte von 1948" zu vollziehen. Wenige Monate später, am 13. April 2001, erklärte Sharon in einem von der Ha'aretz und Maariv veröffentlichten Interview bedeutungsschwer, daß der "Unabhängigkeitskrieg" Israels "noch nicht beendet" sei.

Da es nicht den geringsten Anhaltspunkt für die Vermutung gibt, der jetzige Ministerpräsident Ehud Olmert würde nicht ungeschmälert der von Sharon eingeschlagenen Linie folgen, kann keineswegs ausgeschlossen werden, daß die Vollendung der "zweiten Hälfte von 1948" mittels des derzeitigen Krieges längst im Gange ist. Für diese aus dem derzeitigen Geschehen wie der diesem Krieg vorausgehenden und ihn vorbereitenden systematischen Blockade des Gazastreifens ableitbaren Annahme spricht auch die Tatsache, daß die Regierung Olmert im Herbst 2006 Avigdor Lieberman von der rechtsnationalistischen Partei "Israel Beitenu" ins Kabinett aufgenommen hat. Lieberman, der der extremen Rechten zugeordnet wird, vertritt seit Jahren offen das "Transfer"-Konzept. Er wurde zum Vizeministerpräsidenten ernannt und als "Minister für die Abwehr strategischer Bedrohungen" mit besonderen Aufgaben betraut. Lieberman schlug denn auch im Kabinett gleich vor, die Israels sollten mit den Palästinensern so umgehen wie die Russen mit den Tschetschenen. Zuvor hatte dieser Politiker bereits die Todesstrafe gegen arabische Knesset-Mitglieder gefordert, die mit der Hamas Gespräche geführt (!) hatten.

[1] zitiert aus: Stellungnahme "Verbrechen und Scham" der Literaturnobelpreisträger José Saramago und Pilar del Río sowie weiterer Publizisten und Kulturschaffender zum Krieg gegen die Palästinenser in Gaza, veröffentlicht in junge Welt, 6.1.2009, S. 1

[2] zitiert aus: Israel - Siedlungsstopp in "Abnutzungsschlacht" integriert, vom 4. Februar 2004, Schattenblick - POLITIK\MEINUNGEN: DILJA/645

7. Januar 2009