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DILJA/1134: Regierungssturz - an Tschechien könnte der EU-Reformvertrag scheitern (SB)


Regierungssturz in Tschechien könnte den EU-Reformvertrag kippen

EU-Parlamentarier offenbaren undemokratische Auffassungen


Form und Inhalt sind bekanntlich nicht voneinander zu trennen - in Hinsicht auf den sogenannten EU-Reformvertrag, mit dem nach der am Einspruch des Souveräns gescheiterten Durchsetzung eines "EU-Verfassung" genannten Ermächtigungswerkes ein starker, hierarchischer und militarisierter europäischer Staatenbund geschaffen werden sollte, stehen nicht nur dessen vertragliche Inhalte wegen ihrer Demokratiedefizite in der Kritik, sondern auch das undemokratische Vorgehen seiner Betreiber bei dem Versuch, dieses Machwerk auf Biegen und Brechen durchzubringen. Als am Dienstagabend wider Erwarten das fünfte in den zurückliegenden zwei Jahren gegen den tschechischen Ministerpräsidenten Mirek Topolanek gestellte Mißtrauensvotum zu seinem Sturz führte, weil 101 der 200 Abgeordneten gegen ihn stimmten, entstand in Brüssel einige Unruhe.

Vordergründig scheint dies der Tatsache gewidmet zu sein, daß die Regierung Topolanek seit 1. Januar 2009 die EU-Ratspräsidentschaft innehat und somit inmitten dieser bis zum 30. Juni andauernden Periode ohne demokratische Legitimation durch das eigene Parlament dasteht. Darin scheint jedoch weder auf tschechischer noch auf europäischer Seite ein Problem gesehen zu werden. Laut tschechischer Verfassung muß die Regierung Topolanek nun zurücktreten, während dem nicht per se europakritischen, jedoch dem EU-Hierarchisierungs- und Militarisierungsprozeß ablehnend gegenüberstehenden tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Klaus die Aufgabe zukommt, den Auftrag zur Regierungsbildung neu zu vergeben. Allerdings ist Klaus dabei nicht an bestimmte Fristen gebunden, so daß in Prag, auch wenn der Staatspräsident sich dazu bislang nicht geäußert hat, die Option für wahrscheinlich gehalten wird, daß Topolanek kommissarisch mindestens bis zum 30. Juni im Amt bleiben könnte.

Die politische Parteienlandschaft sieht in Tschechien so aus, daß von den 200 Mitgliedern der Kammer - das zweite parlamentarische Gremium ist der von den Konservativen dominierte Senat - 96 Abgeordnete den Parteien der bisherigen Mitte-Rechts-Koalitionsregierung angehören, nämlich Topolaneks Bürgerpartei (ODS), den Christdemokraten und den Grünen, während insgesamt 97 Mandatsträger der aus Sozialdemokraten und Kommunisten gebildeten Linksopposition angehören. Ausschlaggebend für das nun im fünften Anlauf gewonnene Mißtrauensvotum war das Abstimmungsverhalten der insgesamt sieben fraktionslosen Abgeordneten, von denen erstmals vier gegen Topolanek votierten. Topolaneks Gegenspieler auf seiten der Linksopposition ist der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Jiri Paroubek, der Topolanek unlängst "Mafiamethoden" vorwarf, nachdem ruchbar geworden war, daß der regierende Ministerpräsident die Ausstrahlung eines Beitrags im staatlichen Fernsehen über zwielichtige Geschäfte eines Abgeordneten aus dem Regierungslager zu verhindern versucht hatte.

Paroubek, der der Regierung Topolanek auch zum Vorwurf gemacht hatte, nichts gegen den Abschwung, also die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Tschechien, unternommen zu haben, stimmt einer Weiterführung der EU-Ratspräsidentschaft durch den soeben gestürzten Ministerpräsidenten voll und ganz zu. Danach solle es zu einem Zeitpunkt, auf den sich Staatspräsident, Regierung und Opposition noch nicht geeinigt haben, zu Neuwahlen kommen, wobei unklar ist, ob vorher - die Durchführung von Neuwahlen ist vor dem Sommer nicht möglich - eine Übergangsregierung eingesetzt werden solle oder nicht. All dies könnte getrost unter innertschechische Auseinandersetzungen abgeheftet werden, wie sie für parlamentarisch verfaßte Demokratien westlichen Zuschnitts keineswegs ungewöhnlich sein müssen; ebensowenig dürften sie in den Reihen derer Anlaß zur Sorge bieten, die ein vitales Interesse an dem Ausbau der EU in ein stark zentralistisches und im engsten Wortsinn schlagkräftiges Staatswesen haben.

Da in Brüssel ungeachtet der von der tschechischen Opposition keineswegs in Frage gestellten Zusicherung Topolaneks, die seinem Land obliegenden turnusgemäßen Aufgaben der EU-Ratspräsidentschaft uneingeschränkt zu erfüllen, eine nicht unerhebliche Nervosität festzustellen war, steht zu vermuten, daß nicht die derzeitige tschechische EU-Ratspräsidentschaft, sondern der durch den Sturz Topolaneks möglicherweise erschwerte Ratifizierungsprozeß des EU-Reformvertrages das eigentliche Problem sei. Tschechien gehört neben Deutschland, Irland und Polen zu den vier der insgesamt 27 EU-Staaten, die das Vertragswerk noch nicht vollständig ratifiziert haben. Die erste Hürde, die Abstimmung im Abgeordnetenhaus, konnte am 18. Februar wenn auch knapp genommen werden. Nun liegt der in Tschechien umstrittene Vertragsentwurf beim Senat, der im Herbst darüber entscheiden wird. Da Topolanek, ein eifriger Verfechter des Lissabon-Vertrages, als gestürzter Ministerpräsident keinen Einfluß mehr auf den Senat haben wird, rechnen nun viele mit einem ablehnenden Votum dieses Gremiums, in dem sich die Senatoren aus Topolaneks Bürgerpartei (ODS) nicht mehr an dessen Linie gebunden fühlen könnten.

Da der EU-Reformvertrag nur in Kraft treten kann, wenn er in allen EU-Staaten ratifiziert wird, wäre dies, von den "Problemländern" Irland, wo nach der eindeutigen Ablehnung durch die Wahlbevölkerung noch in diesem Jahr ein zweites Referendum zu derselben Frage durchgeführt werden soll, und Deutschland, wo mehrere gegen den Vertrag eingereichte Verfassungsbeschwerden den vollständigen Ablauf des Prozederes zumindest noch hinauszögern, abgesehen, womöglich das Aus und ein unrühmliches Ende der Bestrebungen, den europäischen Völkern eine politisch-militärische Ordnungsstruktur überzustülpen, mit der sie, wie die Abstimmungsniederlagen in der Vergangenheit gezeigt haben, keineswegs einverstanden sind.

"Beunruhigen Sie sich nicht", hatte Topolanek den Abgeordneten und sowie EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso im Straßburger Europaparlament zugerufen, doch deren Unruhe bezüglich des EU-Reformvertrages wird der soeben gestürzte tschechische Ministerpräsident kaum beschwichtigen können. Dabei wäre ein Nein aus Prag zu diesem Vertrag, sollte der Senat ihn ablehnen, das Ergebnis demokratischer und parlamentarischer Verfahren und dürfte, so in einem demokratischen Europa die demokratische Entscheidung eines nicht minder demokratischen Mitgliedslandes schon aufgrund eines grundsätzlichen Demokratieverständnisses respektiert werden müßte, nicht mit einer einzigen Silbe geschmäht werden. Davon sind die Altvorderen in Brüssel jedoch meilenweit entfernt. Hans-Gert Pöttering, CDU-Politiker und Präsident des Europaparlamentes, rief denn in brüskierender Direktheit den tschechischen Senat dazu auf, den Ratifizierungsprozeß fortzusetzen, nicht ohne vor dem Straßburger Parlament in brutaler Offenheit hinzuzufügen: "Wir brauchen diesen Vertrag."

Dieser Vertrag stößt jedoch in vielen der kleineren und mittleren EU-Staaten gerade deshalb auf Kritik und Ablehnung, weil in ihm ein Instrument gesehen wird, mit dem die vier größten EU-Staaten, Deutschland, Frankreich, Britannien und Italien, die bei Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages zu viert über ein Stimmengewicht von 53 Prozent verfügen würden, ihre Vormachtstellung gegenüber den übrigen 23 EU-Staaten festigen und ausbauen würden. Insbesondere auch im Verhältnis zu Tschechien haben etliche EU-Parlamentarier Beispiele und Anhaltspunkte für eine kritische Haltung geliefert, die nicht die europäische Integration schlechthin, wohl aber die Verfestigung der Dominanz der Kern-EU-Staaten ablehnt.

Wenige Tage vor der im Februar mit knapper Mehrheit im tschechischen Parlament errungenen Zustimmung für den EU-Reformvertrag hatte Topolanek den französischen Präsidenten Sarkozy in ungewöhnlich scharfer Form kritisiert, nachdem dieser von Topolanek als protektionistisch bezeichnete Äußerungen gegen ins Ausland verlagerte Produktionsstandorte gemacht hatte. Da gerade in Tschechien wie auch in der Slowakei die Perspektiven auf eine positive wirtschaftliche Entwicklung nicht unwesentlich an die im Land produzierenden französischen Autobauer Peugeot und Citröen gebunden werden, erklärte Topolanek, auf Sarkozy gemünzt: "Wollte jemand ernsthaft die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags bedrohen, hätte er keinen besseren Anlaß und Zeitpunkt suchen können."

In Straßburg wurden unterdessen Töne laut, die einen völligen Mangel an einem grundlegenden Demokratieverständnis offenbaren. So erklärte Jo Leinen, Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europaparlament, daß die EU durch die Regierungskrise in Tschechien nicht "in Geiselhaft genommen" werden dürfe. Der deutsche EU-Politiker nahm nicht zum ersten Mal eine solche, von der völligen Nichtakzeptanz des Votums eines parlamentarischen Gremiums gekennzeichnete Haltung ein. Im Dezember vergangenen Jahres hatte er behauptet, das "Nein" der irischen Bevölkerung bei ihrem (ersten) Referendum sei kein wirkliches Nein, sondern nur eine "flatterhafte" Äußerung gewesen.

Doch nicht nur Irland, auch Tschechien gilt in Brüssel schon lange als Risikofaktor, was die Durchsetzung dieses Machwerks betrifft. So hieß es in einem Papier der einflußreichen bundesdeutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), daß der tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus "rein rechtlich" die Möglichkeit habe, die Ratifizierung des Vertrags durch die Vorenthaltung seiner Unterschrift zu verhindern. Es sei, laut SWP, "vor dem Hintergrund seiner wiederholten Agitation gegen den Reformvertrag" nicht auszuschließen, daß er von diesem Recht auch Gebrauch machen könnte. Kurz vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Tschechien verstieg sich der SPD-Europaparlamentarier Martin Schulz sogar zu der Erklärung, er werde "als sozialdemokratischer Fraktionschef" der tschechischen Regierung "die Grenzen politischer Art aufzeigen". Vaclav Klaus bezeichnete er als den "Spiritus Rektor der Anti-Europäer in der Europäischen Union" und als einen Mann, "der für die Europäische Union in der jetzigen Situation nicht ungefährlich ist", über den die Politik der EU langfristig jedoch "hinweggehen" werde.

Sollte es in Tschechien zum endgültigen Aus für den EU-Reformprozeß unabhängig vom zweiten Referendum in Irland kommen, könnten Äußerungen wie diese maßgeblich dazu beigetragen haben, weil sie immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen, wie begründet die Argumente der Vertragskritiker sind. In die Liste derjenigen EU-Parlamentarier, die auf diese Weise, wenn auch unfreiwillig, dazu beigetragen haben könnten, den Lissabon-Vertrag zu Fall zu bringen, dürfte sich auch der Grünen-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit eingetragen haben. Er brüskierte Klaus bei einem Treffen von Europaabgeordneten mit einer diesem als "Präsent" überreichten EU-Flagge, was als offene Provokation, um nicht zu sagen Beleidigung des wohl populärsten Vertragskritikers zu verstehen war. Klaus beendete daraufhin das Treffen. Einen solchen Umgang habe man in Prag seit Jahrzehnten nicht erlebt, hieß es von dort, während Cohn-Bendit die Provokation noch fortsetzte durch die gegenüber der deutschen Presse zu dem Vorfall abgegebene Erklärung, Klaus habe sich "paranoid" verhalten.

Wohl nicht von ungefähr wurde mit dem fünften Mißtrauensvotum in Prag ein tschechischer Politiker gestürzt, der im Gegensatz zu Klaus bestrebt war, die Ratifizierung des EU-Reformvertrags in Tschechien über die Bühne zu bringen, und so sind die Befürchtungen der EU-Parlamentarier, ihr Selbstermächtigungspapier könnte, wenn schon nicht an der irischen, so doch an der tschechischen Ablehnung scheitern, sehr wohl begründet, wobei jeder weitere Schritt seitens der EU, den "Druck" auf Prag zu erhöhen, das zu vermutende Nein nur noch weiter bestärken wird.

24. März 2009