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DILJA/1234: Gesundheitsversorgung in den sozialistischen Staaten Lateinamerikas (SB)


Ist der Mensch bloße Verfügungsmasse oder hat der Staat für sein Wohlergehen zu sorgen?

Die Gesundheitssysteme lateinamerikanischer Staaten geben aus kapitalistischer Sicht unangenehme Antworten


"Eine gute Gesundheitsversorgung kostet ihren Preis." So sprach dieser Tage Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP), um klarzustellen, daß es unter der neuen Bundesregierung Kostensteigerungen im Gesundheitswesen geben wird, die den Versicherten aufgebürdet werden. Eine ersatzlose Abschaffung der Praxisgebühr wird es ebenfalls nicht geben. Im Koalitionsvertrag, so Rösler, sei vereinbart worden, die "Lenkungswirkung" der Praxisgebühr zu überprüfen, desweiteren solle, darauf aufbauend, ein "unbürokratisches Erhebungsverfahren" erarbeitet werden. Nun sind Mitteilungen dieser Art eigentlich nicht der Erwähnung wert, offenbart doch schon das kleine Wort "Preis", das hier endgültig etwas zu einer Ware gemacht worden ist, das als "Gesundheitsversorgung" zu bezeichnen sich schlichtweg verbietet, da dieser Begriff im landläufigen Verständnis suggeriert und unterstellt, daß von gesundheitlichen Problemen betroffene Menschen in medizinischer, aber auch sozialer Hinsicht, was die Bewältigung möglicher, durch Krankheit (mit-)verursachter Folgekosten betrifft, versorgt werden.

Tatsächlich wurde, zumindest in kapitalistisch organisierten Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland, der Verfügungszugriff längst auf den sogenannten Gesundheitsbereich ausgeweitet, was sich konkret am sukzessiven Abbau der einst als Solidargemeinschaft der Versicherten konzipierten Gesundheitssysteme nachzeichnen läßt. Inzwischen trägt der sogenannte Gesundheitsbereich längst die harte Handschrift einer Verfügungs- und Verwertungsordnung, die den Menschen als Rohmasse ihres Zugriffs konzipiert und insofern durchaus ein spezifisches Interesse aufweist an einem Reparaturbetrieb, wie ihn die aus dem Zusammenflicken von Kriegsverletzten und -versehrten entstandene medizinische Wissenschaftsdisziplin anzubieten bestrebt ist. Die Leistungen, die dieses System heute zu erbringen imstande ist, stehen, was wohl niemand mehr zu bezweifeln können vorgibt, in einem proportionalen Verhältnis zu seinem gesellschaftlichen Wert, ergo zu dem Nutzen, den die herrschenden Kräfte und Interessen aus seiner bestmöglichen Gesund- und Am-Leben-Erhaltung ziehen zu können glauben.

Daß arme Menschen früher sterben und einen insgesamt schlechteren Gesundheitszustand aufweisen, wird keineswegs bestritten, jedoch in die vorherrschende Bezichtigungspropaganda integriert durch eine generelle Schuldzulastung an die Betroffenen, die nicht nur ihre vergleichsweise schlechte körperliche Verfassung, sondern nicht minder ihre prekäre soziale Lage logischerweise selbst verursacht und damit verschuldet haben müssen. Diese Herrschaftsratio hat sich wie ein schleichendes Gift so sehr in das Denken und Fühlen vieler Menschen eingenistet, daß die massive Schlechterstellung sehr vieler Menschen im sogenannten Gesundheitswesen, die selbstverständlich Hand in Hand geht mit der materiellen Verelendung durch Hartz IV, kaum ein Protestpotential wachzurufen imstande ist.

Angesichts dieser Lage kann ein Blick weit über den Tellerrand bundesdeutscher, aber auch insgesamt EU-staatlicher Grenzen hinaus überaus Aufschlußreiches und Widerspruchsförderndes ins Blickfeld kritischer Analysen und Fragestellungen rücken. Die bloße Tatsache, daß Leistungen des Gesundheitssystems heute in etlichen Staaten Lateinamerikas für die gesamte Bevölkerung kostenlos zugänglich sind, muß für von Mangelversorgung, Verunsicherung, Ausgrenzung und Bezichtigung betroffene oder bedrohte Menschen in den reichen Industriestaaten nahezu unglaublich erscheinen. Wie kann ein Staat wie Bolivien, der nicht nur im Vergleich wirtschaftlicher Daten zwischen Europa und Lateinamerika schlecht abschneidet, sondern sogar innerhalb Südamerikas zu den ärmsten Ländern gehört, Leistungen erbringen, die den Bürgern westlicher Staaten wie Ausgeburten sozialer Utopien bar jeder Realitätsanbindung vorkommen müssen?

Selbstverständlich hat die westliche Welt gute Gründe dafür, die Errungenschaften ihrer Widersacher auf diesem wie auch auf anderen Gebieten nicht an die große Glocke zu hängen, da sie unweigerlich Fragen nach sich ziehen würden, warum in kapitalistischen Staaten zwar das Recht auf Zugang zu Gesundheitsversorgung garantiert wird, nicht jedoch die Gesundheitsversorgung selbst. "Das Recht auf Zugang" heißt unverklausuliert, daß für medizinische und sonstige Leistungen Gegenleistungen erbracht werden müssen. Keineswegs erhält jeder Mensch von seiten des Staates einen Anspruch auf gesundheitliche Versorgung, wie es in etlichen Staaten Lateinamerikas, so zum Beispiel Kuba, Venezuela und Bolivien, der Fall ist. Kuba stellt zudem in doppelter Hinsicht eine blanke Provokation westlicher Suprematie dar, weil der kleine mittelamerikanische Inselstaat seit Jahren über die eigenen Landesgrenzen hinweg solidarische Hilfe im Gesundheitsbereich leistet und damit eine Realität geschaffen hat, der kein noch so vollmundiges westliches Versprechen etwas entgegensetzen kann.

Seit fünfeinhalb Jahren entsendet das sozialistische Kuba im Rahmen der "Operación Milagros" (Operation Wunder) Augenärzte nach Venezuela, Argentinien, Paraguay und Bolivien, aber auch in außersüdamerikanische Staaten wie Pakistan, Haiti und Portugal. Sie leisten für die Betroffenen unentgeltliche Hilfe und haben weltweit bislang bereits 1,5 Millionen Menschen augenärztlich behandelt. Ein "Wunder" ist dies keineswegs, auch wenn es von vielen Menschen so erlebt wird. Die kubanischen Augenärzte verstehen sich denn auch nicht als Entwicklungshelfer, sondern als Internationalisten. Mit westlicher Entwicklungshilfe, der sie vorwerfen, die bestehende Armut noch zu vertiefen, haben sie nichts gemein. In Bolivien, wo das Programm nach dem Wahlerfolg des heutigen Präsidenten Evo Morales mit voller Unterstützung der neuen Regierung anlaufen konnte, wurden von den kubanischen Internationalisten bereits fast 400.000 Menschen behandelt. Da die Betroffenen ohnehin die Dienste der niedergelassenen Ärzteschaft nicht hätten in Anspruch nehmen können, beschränkte sich der Widerstand der Ärztekammer darauf, daß die solidarische Hilfe an den Mittellosen die Zunft in ein schlechtes Licht rücke.

In Bolivien erhalten inzwischen Millionen Menschen, die zuvor niemals zu einem Arzt hätten gehen können, kostenlose medizinische Hilfen. Nachweisbare Resultate blieben nicht aus, zählt doch das heutige Bolivien zu den sieben Staaten der Welt, in denen die Kindersterblichkeit in den zurückliegenden fünf Jahren am stärksten reduziert werden konnte. Daß die sogenannte internationale Gemeinschaft, als welche sich die führenden westlichen Staaten gern bezeichnen lassen, aus nachvollziehbaren Gründen kein Interesse dafür aufbringen kann, die positiven Entwicklungen in den Linksstaaten Lateinamerikas im Gesundheitsbereich öffentlich bekannt zu machen und hierzulande einer Diskussion über Gesundheitsreformen anheimzustellen, heißt jedoch nicht, daß sie das politische Bedrohungspotential nicht längst erkannt hätte.

Namentlich von seiten der USA wird dieser Prozeß zu torpedieren versucht, worauf der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez in diesem Herbst in seiner vor der 64. Vollversammlung der Vereinten Nationen gehaltenen Rede hingewiesen hat [1]:

Fidel [Castro, der frühere kubanische Staatspräsident, Anm. d. SB-Redaktion] hat in einer seiner Reflexionen ein Unternehmen mit weltweit anerkannter Präsenz angeklagt, das medizinische Geräte herstellt und vertreibt, und das in diesem und im letzten Jahr Verpflichtungen nicht erfüllt hat, die es mit den Regierungen von Kuba und Venezuela eingegangen ist. Sie schicken die Ersatzteile von Hunderten medizinischen Geräten nicht, die beide Regierungen erworben haben, um unseren Völkern kostenlose und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu bringen. Dabei geht es um Tomographen, Elektrokardiographen, die jetzt in den Armenvierteln von Caracas stehen. Dort, wo die Indios sind, gibt es medizinische Einrichtungen, wir haben dort 30000 kubanische Ärzte. Kostenlose und hochwertige Gesundheitsversorgung für das Volk. Wie heißt das Unternehmen noch gleich? Philips. Wir haben geschwiegen und Lösungen gesucht, aber nein, das Unternehmen weigert sich, die Ersatzteile für die Hightechgeräte zu liefern. Warum? Weil Druck ausgeübt wird. Von wem? Von der Regierung der Vereinigten Staaten.

Ungeachtet dieser Probleme hat das Beispiel dieser Länder in Lateinamerika längst Schule gemacht. 2006 gewann Rafael Correa in Ecuador die Präsidentschaftswahlen mit der Ankündigung, wie in Venezuela ein Programm für einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" einzuführen, wozu unter anderem auch eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle gehört. Jetzt, nicht erst morgen, sei eine Revolution vonnöten, um eine echte Demokratie zu schaffen, erklärte Correa im Frühsommer dieses Jahres und versprach "unseren vollen revolutionären Einsatz, damit nie wieder ein Kind ohne Schule bleibt, damit Wohnung, Gesundheitsversorgung, Arbeitsplätze und somit ein angemessener Lebensstandard für alle Realität werden."

In Nicaragua wurde nach der Rückkehr des Linkspräsidenten Daniel Ortega die Gesundheitsversorgung ebenfalls für alle Bürger zugänglich gemacht, und so gesellten sich die unbestreitbaren Erfolge sozialistischer oder auch nur von sozialistischen Ideen angeregter Regierungen im Gesundheitsbereich zu dem Bedrohungsszenario, das der kapitalistische Westen in dieser Entwicklung längst ausgemacht hat. Auch in Paraguay ist der Zugang zum Gesundheitssystem seit dem 25. Dezember 2009 für alle Bürger kostenfrei. In Honduras scheint nicht nur der Versuch, eine Verfassungsgebende Versammlung auf dem dafür vorgesehenen Weg herbeizuführen, zum Militärputsch gegen den rechtmäßig gewählten Präsidenten Manuel Zelaya geführt zu haben, sondern auch dessen Vorgehen gegen Pharmakonzerne, die jahrzehntelang das Geschäft mit Krankheit und Tod dominiert und zum eigenen Gewinnutzen betrieben hatten.

Anmerkung

[1] Komm zur Achse des Bösen. Dokumentiert. Rede des Präsidenten der Bolivarischen Republik Venezuela, Hugo Chávez, bei der 64. Vollversammlung der Vereinten Nationen, junge Welt, 5.10.2009, S. 10

31. Dezember 2009