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DILJA/1288: Humanitäres Vakuum im Gazastreifen - Wer schützt die UN-Repräsentanten? (SB)


Erneuter Überfall auf ein UN-Sommerlager für palästinensische Kinder und Jugendliche im Gazastreifen

Keine internationalen Reaktionen auf Drohungen gegen UN-Verantwortliche


Eine Woche vor dem gewaltsamen Überfall der israelischen Marine auf Schiffe der Hilfsflottille "Free Gaza", bei der neun Menschen getötet wurden, ereignete sich im Gazastreifen ein Zwischenfall, der in der internationalen Medienberichterstattung auf einen äußerst geringen Widerhall stieß, während die offizielle Politik ihn nicht einmal zur Kenntnis nahm. Am 23. Mai 2010 drangen etwa 30 bewaffnete und maskierte Männer in ein UN-Sommerlager für Kinder ein. Sie überwältigten und fesselten einen Wachmann, zündeten mehrere Zelte an und zerstörten sanitäre Anlagen. Sie hinterließen einen an die Vereinten Nationen gerichteten Drohbrief, in dem diese aufgefordert wurden, auf ihr Programm für die rund 250.000 Kinder und Jugendlichen im Gazastreifen zu "verzichten". All dies berichtete John Ging, der Leiter des UN-Hilfswerks für die Palästinenser (UNRWA) im Gazastreifen. Internationale Reaktionen blieben aus, einzig die im Gazastreifen seit ihrem Wahlerfolg im Januar 2006 regierende Hamas verurteilte den Überfall und kündigte an, die Täter zu verfolgen.

Eine solche humanitäre Aktion zugunsten vieler der durch den Gazakrieg von 2008/2009 schwerst traumatisierten und infolge der seit 2007 verhängten Blockade - wie alle übrigen Bewohner des Gazastreifens - mangelversorgten palästinensischen Kinder und Jugendlicher erfordert jeglichen Schutz und jedwede Unterstützung, zu der die internationale Gemeinschaft kraft ihres erhobenen Anspruches, die Hüterin der Armen und Schwachen zu sein und mit weltweiter Wirkung für Frieden und das Wohlergehen aller Menschen einzutreten, nur fähig und willens sein kann. Darum ist es jedoch allem Anschein nach denkbar schlecht bestellt, ereignete sich doch in diesen Tagen ein weiterer Überfall auf ein UN-Sommerlager, der eine auffällige Ähnlichkeit zu dem vom 23. Mai aufweist. Am Montag, dem 28. Juni, drangen abermals bewaffnete Angreifer in ein solches Lager für Kinder und Jugendliche ein, wie Adnan Abu Hasna, ein Sprecher der Vereinten Nationen, mitteilte. Sie richteten Verwüstungen an, brannten Zelte nieder und verliehen damit der beim ersten Überfall hinterlassenen Morddrohung gegen UN-Mitarbeiter, sollten diese dieses Programm nicht beenden, eine weitere, bedrohliche Realität.

Es liegt auf der Hand, daß die UN-Sommerlager nicht ohne das beherzte Engagement aller an ihnen beteiligten Helfer und UN-Verantwortlichen vor Ort fortgesetzt werden können. Als Repräsentanten einer zivilen Organisation wie der der Vereinten Nationen, die als einziges internationales Gremium befugt sind, zur Wahrung des Friedens gegebenenfalls auch militärische Maßnahmen zu ergreifen, sind sie offensichtlich nicht imstande, sich selbst und die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen vor solchen Angriffen wirksam zu schützen. Auf den jüngsten Überfall erfolgten keinerlei internationale Reaktionen, um von Mahnungen an die Adresse der israelischen Regierung oder gar der Verhängung von Sanktionen ganz zu schweigen.

Zwar kann, da die Angreifer in beiden Fällen nicht identifiziert werden konnten, die israelische Regierung nicht unmittelbar verantwortlich gemacht werden, doch da sich diese Überfälle in Hinsicht auf die damit offensichtlich verfolgten Ziele, nämlich den Menschen im Gazastreifen das Leben dort noch unerträglicher zu machen, als ergänzende Maßnahme zu der Blockade-, um nicht zu sagen Aushungerungspolitik Israels bewerten lassen, wäre hier eine diplomatische Intervention der westlichen Verbündeten Tel Avivs durchaus angezeigt gewesen. Da diese nicht erfolgte, läßt sich mutmaßen, daß der neuerliche Überfall von seinen Drahtziehern als eine Antwort auf die jüngst laut gewordene, wenn auch nach wie vor verhaltene Kritik seitens der Europäer gedacht war.

Nach dem nicht schön zu redenden Massaker an den Freiwilligen der Gaza-Hilfsflottille, durch das auch die verheerenden Folgen der Gaza-Blockade in das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit gerückt worden war, hatten die europäischen Verbündeten nicht wenige Mühe, ihre ungebrochene Unterstützung Israels zu rechtfertigen. Um sich vor der naheliegenden Schlußfolgerung, für die katastrophalen Lebensverhältnisse der eineinhalb Millionen Menschen im Gazastreifen indirekt mitverantwortlich zu sein, zu schützen, hatten Regierung und Opposition im deutschen Bundestag beschlossen, von der israelischen Regierung zu verlangen, die Gaza-Blockade aufzuheben und Hilfslieferungen auf dem Seeweg zuzulassen. Wie die Süddeutsche Zeitung am 19. Juni berichtete, sieht ein gemeinsamer Entschließungsantrag von CDU/CSU und FDP, SPD und den Grünen dies vor. "Die Lebenslage der Zivilbevölkerung in Gaza muß dringend verbessert werden", hieß es zur Begründung.

Noch am selben Tag wurde der deutsche Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) daran gehindert, in den Gazastreifen einzureisen, wo er ein mit deutschen Geldern finanziertes Klärwerk besichtigen wollte. Niebel, Vizepräsident der deutsch-israelischen Gesellschaft, reagierte verschnupft und sprach von einem "großen außenpolitischen Fehler der israelischen Regierung". Niebel hätte auch mit Repräsentanten des UN-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA) sprechen wollen, hätte man ihn in den Gazastreifen einreisen lassen. Dessen Leiter, John Ging, hätte bei dieser Gelegenheit womöglich auch die gegen die UN-Mitarbeiter des Sommerlager-Projekts ausgestoßenen Morddrohungen zur Sprache gebracht.

Denkbar ist desweiteren, daß namentlich die UN-Repräsentanten, die im Gazastreifen vor Ort und aus eigener Anschauung Zeugnis ablegen (können) über die katastrophalen Auswirkungen der israelischen Blockadepolitik, der Regierung in Tel Aviv schon seit längerem ein Dorn im Auge sind. So hatte John Ging im vergangenen Winter zwei Wochen nach Beendigung des Gazakrieges die Weigerung Israels, der von UN-Verantwortlichen erhobenen Forderung nach einer Öffnung der Grenzen nachzukommen, als "eine Schande" bezeichnet. In einer Videokonferenz aus dem von Israel zerstörten Hauptquartier der UNRWA hatte Ging verlangt, daß die Tausenden Tonnen Hilfsgüter, die dringend an die Menschen im Gazastreifen weitergeleitet werden müßten, diese auch wirklich erreichen. Gings Angaben zufolge wurden statt der erforderlichen 600 Lastwagenlieferungen täglich jedoch nur etwa einhundert über die Grenze gelassen.

Im Februar 2009 wandte sich Ging abermals mit einem Hilfsappell an die internationale Öffentlichkeit und machte auf die katastrophale Situation im Gazastreifen nach dem Krieg aufmerksam. 60 Prozent der Schulkinder hätten, so klagte der UNRWA-Chef, noch immer keine Schulbücher, weil Israel die Einfuhr von Papier verhindere. Das sei "wirklich jenseits allen Fassungsvermögens", so Ging. Doch nicht nur die UN-Repräsentanten vor Ort, auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon kritisierte die Weigerung Israels, die Grenzen zum Gazastreifen zu öffnen, wo aus diesem Grund nur 30.000 Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt werden konnten, jedoch fast zwei Drittel der 1,5 Millionen Bewohner auf tägliche Hilfen angewiesen waren. Die Forderung nach einer Aufhebung der Blockade wurde seitens der Vereinten Nationen auch im Goldstone-Bericht, in dem die Verbrechen der israelischen Armee während des Gazakrieges dokumentiert wurden, erhoben.

John Ging, Leiter des UN-Hilfswerks für die Palästinenser, fuhr damit fort, auf der Basis seiner eigenen Arbeit schwerste Vorwürfe gegen die israelische Regierung zu erheben, womit er sich dort sicherlich keine Freunde gemacht haben wird. Laut Tagesspiegel (16.3.2010) hat er jedoch auch die Mitverantwortung westlicher Politiker angesprochen: "Gaza ist zum Synonym geworden für Verletzungen des internationalen Rechts und die Unmenschlichkeit gegen eine Zivilbevölkerung. So wird das in die Geschichtsbücher eingehen. Jeder westliche Politiker trägt hier eine Mitverantwortung." Dies gilt nicht minder für die massiven Drohungen, denen die UN-Repräsentanten im Gazastreifen derzeit ausgesetzt sind gerade dann, wenn sie in humanitärer Mission dort tätig sind. Überfälle auf Sommerlager, die die Vereinten Nationen palästinensischen Kindern und Jugendlichen anbieten, um ihnen wenigsten für eine befristete Zeit den Hauch einer Kindheit oder Jugendzeit zu ermöglichen, die unbeschwert ohnehin nicht sein können, bedürfen keiner weiteren Worte.

Wenn schon die Interessen der rund 250.000 palästinensischen Kinder und Jugendlichen, die von den Angriffen auf die UN-Lager betroffen sind, westlichen Politikern kein Wort der Erwähnung wert sind, ist auch die Frage, wer auf welche Weise den Schutz der direkt bedrohten UN-Mitarbeiter gewährleisten könnte, kein Thema, für das sich die führenden Repräsentanten der westlichen Staaten und internationaler Organisationen wie auch der direkt betroffenen Vereinten Nationen stark machen würden. Somit steht zu befürchten, daß ungeachtet marginaler Blockadelockerungen die Situation der Menschen im Gazastreifen noch weiter verschlechtert werden könnte, gäbe es doch andernfalls kaum einen triftigen Grund, der palästinensischen Jugend ein paar Ferienerlebnisse versagen bzw. mit den UN-Repräsentanten vor Ort einige der letzten internationalen Zeugen aus dem Gazastreifen vergraulen zu wollen.

1. Juli 2010