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DILJA/1291: Krieg in Afghanistan - Besatzungstruppen stehen militärisch unter Druck (SB)


Aufmunterungsversuch des deutschen Kriegsministers bei der kämpfenden Truppe fehlgeschlagen

Das Feldlager der deutschen Besatzungstruppen in Kundus muß mit schwersten Waffen verteidigt werden


Schon zum vierten Mal seit seinem Amtsantritt vor einem knappen Dreivierteljahr stattete der deutsche Verteidigungs- oder vielmehr Kriegsminister Karl-Theodor zu Guttenberg den am Besatzungskrieg internationaler Truppen in Afghanistan beteiligten deutschen Soldaten einen, wie es heißt, Überraschungsbesuch ab. Hinter diesem Begriff verbirgt sich allerdings die wohl mit der militärischen Lage zu begründende Notwendigkeit, den hohen Besuch aus Deutschland aus Sicherheitsgründen bis zur letzten Minute geheimzuhalten. Am heutigen Freitag traf der bei den Soldaten, die im fernen Afghanistan in einem angeblich zur Verteidigung Deutschlands geführten Krieg ihr Leben riskieren, hochverehrte Minister mit wenn auch 16stündiger Verspätung im Hauptquartier der internationalen "Schutztruppe" (ISAF) im nordafghanischen Masar-i-Scharif ein.

Diese Verspätung wurde mit einer Flugzeugpanne in Kiew begründet und hatte zur Folge, daß ein ursprünglich in Kundus geplantes Treffen des deutschen Ministers mit dem neuen Oberbefehlshaber der ISAF-Truppen, US-General David Petraeus, abgesagt werden mußte. Stattdessen konnte zu Guttenberg in Masar-i-Scharif der Indienststellung von 40 US-Helikoptern für die im Norden des Landes agierenden Besatzungstruppen beiwohnen. Diese Fluggeräte stellen eine enorme Entlastung auch für die hier tätige Bundeswehr dar, da diese nur über wenige eigene Helikopter verfügt. Da die Hubschrauber vornehmlich für den Transport verwundeter (und getöteter) Soldaten benötigt werden, läßt sich schon anläßlich dieser Verstärkung erahnen, wie schlecht es, aus Sicht der Besatzungstruppen, um die militärische Lage bestellt ist.

Bundesminister zu Guttenberg hatte unmittelbar vor seiner Abreise klargestellt, daß in diesem Sommer im Afghanistan-Krieg mit weiteren gefallenen deutschen Soldaten gerechnet werden muß. Dies stellt ein dankenswert offenes Eingeständnis dar, so wie es zu Guttenberg auch zugutezuhalten ist, im Unterschied zu seinen Amtsvorgängern anstelle von einer mit Waffengewalt geschützten Wiederaufbauhilfe unumwunden von Krieg zu sprechen: "Ich spreche seit geraumer Zeit von Krieg und lasse mich von dieser Begrifflichkeit auch nicht abbringen." [1] Wie auch, könnte man versucht sein, ihm entgegenzuhalten, schließlich sprechen allein die Zahlen der getöteten ISAF-Soldaten eine unmißverständliche Sprache. "Der Einsatz wurde von Anfang an verharmlost", ließ der Minister desweiteren wissen, auch er habe die Situation am Hindukusch lange unterschätzt.

"Die Situation" weist ungeachtet aller Einschätzungen beteiligter Verantwortungsträger in Militär und Politik harte Fakten auf. So befand sich der Minister schon im Anflug per Helikopter nach Baghlan, ein als "Unruheprovinz" geltendes Kampfgebiet im Norden Afghanistans, in dem deutsche Elitesoldaten der Schnellen Einsatztruppe im Einsatz sind. Es hätte dies der erste Truppenbesuch zu Guttenbergs bei Soldaten außerhalb der Feldlager werden sollen. Doch aus diesem aus Gründen der Disziplin und Motivation sicherlich zweckdienlichen Aufmunterungsbesuch wurde nichts. Der Helikopter mit dem Minister an Bord mußte in der Luft kehrtmachen, nachdem der Kommandeur der Einsatztruppe diesen darüber informiert hatte, daß die dortigen Soldaten kurz zuvor in heftige Gefechte mit radikal-islamischen Taliban, wie die kämpfenden Besatzungsgegner genannt werden, verwickelt worden seien. "Sicherheit geht vor, auch für die Männer vor Ort" [1], beschied zu Guttenberg, dem sicherlich nicht vorzuwerfen ist, auch seine eigene Sicherheit mitberücksichtigt zu haben.

So flog der Minister weiter zum Feldlager in Kundus, um sich, wie es hieß, vor Ort am gefährlichsten Einsatzort der Bundeswehr über die Lage zu informieren. Die Information, daß die gegnerischen Angriffe in den vergangenen Wochen auch auf Bundeswehrsoldaten weiter zugenommen haben, dürfte ihm auch schon vor seiner Abreise zugekommen sein, und so ist anzunehmen, daß der eigentliche Zweck seiner Reise darin besteht, die Bereitschaft der in diesem Kriegseinsatz befindlichen deutschen Soldaten, auch weiterhin ihr Leben einzusetzen - von einem "auf's Spiel zu setzen" kann angesichts der vielen Toten nicht die Rede sein - zu festigen. Er sei nach Afghanistan gekommen, "um den Soldaten die Unterstützung der Bundesregierung zu übermitteln" [1], erklärte zu Guttenberg, wohl nicht ahnend, daß er deren Eindruck, fern der Heimat in Kriegshandlungen verstrickt zu werden, die von der deutschen Bevölkerung weder wahrgenommen noch gewollt werden, damit nicht entkräftet. Daß die Bundesregierung, die diesen Einsatz schließlich initiiert und durchgesetzt hat, die Soldaten vor Ort nach Kräften unterstützt, liegt auf der Hand, doch das schale Gefühl der Soldaten in Kundus, daß sich zu Hause niemand für sie, wohl aber für die Nationalmannschaft, interessiert, ist damit nicht zu kurieren.

Bundesminister zu Guttenberg zeigte sich im Feldlager Kundus besorgt darüber, daß die Aufständischen "immer professioneller" [1] vorgingen. Damit scheint er die zunehmende militärische Stärke der gegnerischen Kräfte andeuten zu wollen. So sind im vergangenen Monat im Afghanistan-Krieg 102 ISAF-Soldaten getötet worden. In den Sommermonaten liegen die Gefallenenzahlen wegen der verstärkten Kampfhandlungen stets höher als im Winter, doch in diesem Jahr wurden neue "Rekorde" aufgestellt. Seit Kriegsbeginn im Spätherbst 2001 kamen einer fortlaufenden Zählung des US-Senders CNN zufolge [2] insgesamt rund 1600 Soldaten der US-geführten Besatzungstruppen ums Leben. Seit 2009 übersteigen die Zahlen getöteter Soldaten im Afghanistankrieg die der Irak-Besatzung. So wurden allein im vergangenen Jahr 520 Gefallene verzeichnet, wobei die Tendenz in diesem Jahr noch weiter nach oben zeigt.

Diesen Ergebnissen nach zu urteilen hat die Aufstockung der Truppen die Kampfhandlungen und damit auch die Zahlen eigener Toter angeheizt, so daß sich jetzt schon feststellen läßt, daß die strategische Kalkulation, durch eine Verstärkung der eigenen Kampfverbände eine Wende der militärischen Lage herbeiführen zu können, auf einer Fehlannahme beruht. Die Maßgabe, bis 2011 mit dem Truppenabzug zu beginnen und bis dahin die prowestlichen afghanischen Streitkräfte soweit auszubilden und in die Besatzungsaufgaben einzuweisen, daß diese ihnen mehr und mehr überlassen werden können, scheint der heimlichen Einsicht geschuldet zu sein, diesen Besatzungskrieg früher oder später zu verlieren, verbunden mit einem Ansehensverlust, den die NATO-Staaten um jeden Preis verhindern wollen werden.

Als Hamid Karsai, der "Präsident" Afghanistans, zum großen Entsetzen der ISAF im April dieses Jahres rund 1500 Stammesältesten in der Region Kandahar versprach, er würde gegen die im Juni geplante US-Offensive sein Veto einlegen, sollten die Ältesten Bedenken vorbringen, saß der inzwischen geschaßte ISAF-Oberkommandierende, US-General Stanley McChrystal, betreten schweigend dabei. Was hätte er auch sagen sollen angesichts des verzweifelten Versuchs Karsais, den landesweiten Unmut gegen Besatzer und Besatzungskrieg zu entkräften durch Versprechen, die er selbstverständlich nicht würde einlösen können? Karsai beschuldigte bei dieser Gelegenheit die westlichen Truppen, daß sie sich in seinem Land wie Invasoren benähmen und damit den Taliban und anderen Aufständischen die Legitimität "einer nationalen Befreiungsbewegung" [3] gäben. Umfragen, durchgeführt von westlichen Instituten oder auch direkt vom Pentagon beauftragt, zeichnen ein dementsprechend düsteres Bild hinsichtlich der mehrheitlich mangelnden Akzeptanz ausländischer Truppen. Die afghanische Bevölkerung wünscht politische Verhandlungen und möchte, daß die fremden Soldaten schnellstens verschwinden. Das größte Problem des Landes, Armut und Arbeitslosigkeit, könnten diese nach Auffassung einer Mehrheit ohnehin nicht lösen.

Wenn es stimmt, daß jeder Krieg auch ein Krieg der Medien und Meinungen ist, haben die ISAF-Truppen in Afghanistan schon verloren. Das immer wieder als neue Strategie ausgegebene Vorgehen, die ausländischen Soldaten sollten versuchen, die Hirne und Herzen der afghanischen Bevölkerung zu gewinnen, indem sie eine möglichst freundliche "Präsenz" zeigten und am besten Patrouillen im offenen Jeep fahren, ist so gänzlich gescheitert, wie ein solcher Widersinn nur scheitern kann. Die meisten der getöteten ISAF-Soldaten sind improvisierten Sprengsätzen, zumeist Straßenminen, zum Opfer gefallen, und so gibt es kaum etwas, was die in Afghanistan stationierten Soldaten mehr fürchten müssen als die ihnen befohlenen Patrouillenfahrten in Gebieten, die von ihnen keineswegs kontrolliert werden können.

Die hohe Beliebtheit zu Guttenbergs bei den deutschen Bundeswehrsoldaten dürfte auf der simplen Tatsache beruhen, daß seit seinem Amtsantritt mit der vorherigen Zurückhaltung, das deutsche Feldlager in Kundus mit schweren Waffen zu bestücken, gebrochen wurde. Dies war zuvor tunlichst vermieden worden, um nicht den Eindruck zu erwecken, die deutschen Kontingente befänden sich im Krieg. Bei seinem heutigen Besuch im Feldlager ließ Minister zu Guttenberg es sich nicht nehmen, sich die beiden neuen Panzerhaubitzen vorführen zu lassen, mit denen das Lager nun vor Angriffen der Besatzungsgegner geschützt wird. Am vergangenen Wochenende sind diese schweren Artilleriegeschütze erstmals zum Einsatz gekommen. Mit diesen 155-Millimeter-Kanonen können Ziele in bis zu 40 Kilometer Entfernung mit einer Genauigkeit von 30 Metern angegriffen werden. Gegen die Aufständischen wird dies kaum eine wirkungsvolle Waffe sein, sie wird jedoch dazu beitragen, das Sicherheitsgefühl der im Feldlager befindlichen Soldaten zu erhöhen.

Anmerkungen

[1] Erneuter Überraschungsbesuch in Afghanistan, von Thomas Latschan, Deutsche Welle, 16.07.2010,
http://www.dw-world.de/dw/article/0,,5808201,00.htm

[2] Blutige Rekorde. Verluste der westlichen Kriegskoalition in Afghanistan steigen steil an. US-Militärs: Es kommt noch schlimmer, von Knut Mellenthin, junge Welt, 2.2.2010, S. 3

[3] Karsai droht dem Westen, von Rainer Rupp, junge Welt, 6.4.2010, S. 1

16. Juli 2010