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DILJA/1309: Venezuela am Scheideweg - Radikalisierung oder Rückschritt (SB)


Poder popular - Alle Macht dem Volke?!

Bei den Parlamentswahlen in Venezuela stehen gesellschaftspolitische Fragen von menschheitsgeschichtlicher Relevanz zur Disposition


Während des venezolanischen Wahlkampfs, der offiziell am Mittwoch beendet wurde und der weit über die Landesgrenzen hinaus Wellen geschlagen hat, ließen es sich auch US-amerikanische Medien nicht nehmen, den amtierenden Präsidenten Hugo Chávez sowie die venezolanischen Staatsprojekte des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" sowie den "Bolivarianische Revolution" genannten gesellschaftlichen Transformationsprozeß des Landes nach Kräften zu diskreditieren. Den weltweit renommierten urugayischen Schriftsteller Eduardo Galeano veranlaßte dies zu einer kritischen Stellungnahme, erklärte er doch gegenüber der spanischen Zeitung "El Pais" [1]:

Es ist ein Dämonisierungsprozess gegen Chávez im Gange. (...) Es ist skandalös, dass heute in jeder Minute drei Millionen Dollar für militärische Angelegenheiten ausgegeben werden. Und dafür braucht man Feindbilder. Im Theater von Gut und Böse sind solche Konzepte von Zeit zu Zeit austauschbar, wie im Fall von Saddam Hussein, einem Heiligen des Westens, der zum Satan gemacht wurde.

Der Anlaß dieser Kampagne liegt auf der Hand, steht doch mit den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag eine der wenigen Gelegenheiten bevor, die die nationalen wie internationalen Gegner des heutigen Venezuelas noch in der Hand zu haben glauben, um den ihnen so verhaßten Prozeß zu torpedieren und wenn irgend möglich auf den absoluten Nullpunkt zurückzuführen. Das Mittel eines Militärputsches wurde im Jahre 2002 nicht nur vergeblich, sondern aus Sicht der hinter ihm stehenden Interessengruppen sogar mit einem Negativergebnis durchgeführt, da der zunächst gestürzte Präsident buchstäblich vom Volk zurückgeholt wurde, wodurch der eingeschlagene Entwicklungsweg gleichzeitig einen qualitativen Sprung erfuhr. Es war offensichtlich geworden, daß die Anhänger des Präsidenten und der Bewegung zur V. Republik nicht nur bei diesen ihre Kreuze machten, weil sie sich von diesem Politik- und Regierungswechsel etwas versprechen konnten, was die von ihnen mandatierten Volksvertreter nachweislich unmittelbar nach ihrem ersten Wahlsieg auch einzulösen begannen.

Der tatsächliche Qualitätssprung bestand in der aktiven Teilnahme der ärmeren Bevölkerungsteile, die sich "ihren Präsidenten" zurückholten und nicht mehr bereit waren, sich der Macht der Gewehre in diesem Land mit seiner an gewaltsamen Putschen und Militärdikaturen keineswegs armen Geschichte widerstandslos zu beugen. In der Folge thematisierte Präsident Chávez offensiver denn je das von ihm und seiner Regierung, aber auch den Basisbewegungen favorisierte Ziel einer sozialistischen Entwicklung. Damit wurde in einem lateinamerikanischen Land, das infolge seiner Einnahmen aus dem Erdölgeschäft in der Lage war, nicht nur umfangreiche Sozial- und Bildungsprogramme zugunsten der in der gesamten Geschichte des Landes bis dahin ausgegrenzten, arm gehaltenen Menschen aufzulegen, sondern auch noch eine Entwicklung zunehmender Bürgerbeteiligung einleitete, eine unsichtbare rote Linie überschritten.

Um dies zu erläutern, muß das Rad der historischen Erinnerung noch ein wenig weiter zurückgedreht werden bis zur vermeintlichen Zeitenwende der Jahre 1989/1990. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als einstiger Schutzmacht der realexistierenden sozialistischen Staatenwelt glaubte die kapitalistische Führungselite, sich des verhaßten Systemgegners ein für alle Mal entledigt zu haben. In Hinsicht auf die Macht- bzw. Gewaltfrage, wie sie sich zu jener Zeit darstellte, mag dies eine überaus plausible Annahme gewesen sein, hatte sich doch mit der westlichen Welt unter der kaum umstrittenen Führung der USA eine der beiden "Supermächte" durchgesetzt und ihren Widersacher auf wundersam anmutenden Wegen zur Selbstauflösung gebracht mit weitreichenden, um nicht zu sagen verheerenden Folgen auch für kleinere, sich als sozialistisch definierende Staaten oder auch nur politische Bewegungen, die sich von der Sowjetunion direkten Schutz oder auch nur eine allgemeine, internationale Stärkung der Linken erhoffen zu können glaubten.

Die Siegerseite hingegen konnte ihren Triumph kaum verhehlen und begann umgehend, da sie sich nur nicht nur sicher, sondern auch nahezu unangreifbar wähnte, "ihr wahres Gesicht" zu zeigen. Den Vorschlägen und Hoffnungen vieler Menschen, nun doch auch die westliche Welt abzurüsten und die NATO aufzulösen, da ihr weit und breit kein potentieller Gegner mehr gegenüberstand, wurde eine brüske Abfuhr erteilt. Warum, so mochten die damaligen Strategen der westlichen Führungsstaaten und -institutionen gedacht haben, sollten wir uns jetzt, am Zenit unseres Weltmachtstrebens, mit unserer militärischen Potenz ausgerechnet der Mittel entledigen, die uns auf unabsehbare Zeit die (militärische) Kontrolle sichern würden?

Wohlwissend, daß der Macht der Gewehre die Macht der Ideen, zivilen Entwicklungen und gesellschaftlichen Strömungen durchaus Schwierigkeiten machen können, weil einfach nicht auf jeden widerborstigen Spatz mit Kanonen geschossen werden kann, wurde der geschlagen geglaubte Gegner auch ideengeschichtlich und mittels der Geschichtsschreibung verteufelt. Dem geschlagenen Gegner wurde keineswegs, wie es unter Boxern üblich sein mag, die Ehre erwiesen. Nein, ganz im Gegenteil wurde die Sowjetunion und damit der von ihr beanspruchte und repräsentierte "Sozialismus" nachträglich auf dieselbe Ebene diktatorischer Systeme wie der sogenannte Faschismus gestellt und mehr denn je diskreditiert. Am liebsten, so darf geargwöhnt werden, wäre es den Apologeten der sich als "frei" nennenden Welt nun gewesen, hätte nicht nur die Geschichtsschreibung des Sozialismus, sondern der Begriff an sich, und Artverwandtes wie Kommunismus oder Anarchismus gleich mit, in den Strudel eines gezielten Vergessens oder vielmehr Vergessenmachens gestürzt werden können.

Doch was hat all dies mit dem heutigen Venezuela zu tun? Weitaus mehr, als die meisten Menschen zunächst annehmen würden, spielt sich doch in diesem mit rund 28 Millionen Einwohnern keineswegs großen und immer noch mit seiner Armut kämpfendem Land eine Auseinandersetzung ab, bei der die hier angedeuteten, wenn man so will menschheitsgeschichtlich relevanten Fragen zum Tragen kommen. Das vergleichsweise kleine und auch wirtschaftlich im Vergleich zu den USA oder der EU unbedeutende Venezuela hat sich, wie auch immer die landesgeschichtliche Entwicklung hin zur V. Republik und ihrer bolivarischen Revolution erklärt werden mag, die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben. Dies stellt nicht im mindesten eine militärische, jedoch eine immense ideengeschichtliche Herausforderung dar, weil, was aus Sicht der alteingessenen Hegemonialmächte und selbsternannten Weltpolizisten noch erschwerend hinzukommt, es längst nicht mehr bei bloßen Ideen geblieben ist.

Über die Errungenschaften und Erfolge, aber auch die Mängel und Fehlleistungen dieses Entwicklungsprozesses sind schon viele Worte gesprochen und Zeilen geschrieben worden, wobei auf der Hand liegt, daß die Protagonisten, Unterstützer und Befürworter eines solchen Gesellschaftsexperiments die positiven Seiten hervorzustreichen bemüht sind, während dessen Gegner und erbitterte Feinde jeden noch so abwegigen Argumentationsstrang bemühen, um das gesamte Konzept in Bausch und Bogen zu verdammen. Selbstverständlich läßt sich dies, in der einen oder anderen Form, auch an dem aktuellen Wahlkampf in Venezuela ablesen, der mit den entsprechenden Vorgängen in europäischen Staaten wie auch der Bundesrepublik, bei denen keine echten Alternativen zur Wahl stehen, nicht viel gemein hat.

"Am Sonntag steht alles auf dem Spiel: Es geht um die gesamte Revolution", lautete die Stellungnahme von Carolus Wimmer von der mitregierenden Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV). Seiner Meinung nach muß der eingeleitete Prozeß entschieden vorangebracht werden: "Die Macht gehört in die Hand der Arbeiterklasse, derzeit ist sie aber noch in der Hand des Präsidenten." Bei CNN werden aus Venezuela entflohene politische Straftäter beglückwünscht, der "schrecklichen Diktatur" [2] von Chávez entronnen zu sein. In der westlichen Presse, so beispielsweise der Wiener Zeitung, wird behauptet, daß die Wahlerfolge im heutigen Venezuela durch eine "Übermacht an Unterdrückung und ein ausgeklügeltes Wahlsystem" zustandekommen würden und daß Chávez das Land zugrunderichten würde. In Venezuela selbst werden nicht wenige Menschen, die sich nicht wünschen und vorstellen können, das Rad der Geschichte noch einmal zurückzudrehen zu "Vor-Chávez-Zeiten", genau wissen, warum sie wo am Sonntag ihr Kreuz machen.

Einer von ihnen ist Juan Contreras, der sich als Ersatzkandidat der Allianz von PSUV und PCV in Caracas selbst zur Wahl stellte und Mitglied im "Coordinadora Simón Bolívar" im Stadtviertel "23 de Enero" von Caracas ist. Er bringt in wenigen Worten auf den Punkt, warum das heutige Venezuela der westlichen, kapitalistischen Welt so verhaßt ist und warum man dort in der Tat das in diesem Land geschaffene Beispiel zu fürchten meint. In einem Interview erklärte er auf die Frage nach einem zu verändernden Wirtschaftsmodell [5]:

Es gibt kein Rezept zum Aufbau des Sozialismus im Kapitalismus. Man muß im Prozeß schauen, was zu machen ist. Wir müssen eine Wirtschaft aufbauen, die die Bedürfnisse befriedigen kann. Wir wissen jetzt in etwa, wie es funktioniert, die Menschen sozial zu organisieren. Jetzt kommt es darauf an zu lernen, wie wir den Prozeß ökonomisch vorantreiben können.



Anmerkungen

[1] US-Medienkampagne gegen Chávez. Vor den Wahlen in Venezuela nimmt die negative Berichterstattung in den internationalen Medien zu. Von Eva Golinger, Übersetzung: Klaus E. Lehmann, chavezcode.com/amerika21.de, 24.09.2010,
http://amerika21.de/analyse/14550/us-medienkampagne-gegen-chavez

[2] Venezuela: Kampf der kleinen Parteien. KP wird im Bündnis mit Chávez' PSUV in Nationalversammlung einziehen. Von Helge Buttkereit, Caracas, amerika21.de, 24.09.2010,
http://amerika21.de/nachrichten/2010/09/14548/venezuela-kampf-der-kleinen-p

[3] Bei den Parlamentswahlen in Venezuela stehen alle Zeichen auf einen klaren Sieg der Vereinten Sozialisten. Chavez schon vor der Wahl im Siegestaumel, Wiener Zeitung, 23.09.2010,
http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=3856&Alias=wzo&cob=518827

[4] "Die wichtigsten Wahlen der letzten zehn Jahre". In Venezuela diskutiert die Basis die Gesetze, die im Parlament beschlossen werden sollen. Gespräch mit Juan Contreras, Interview: Helge Buttkereit, Caracas, junge Welt, 24.09.2010, S. 3

24. September 2010