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DILJA/1366: Todbefreiung - Wer schützt Libyen vor seinen "Befreiern" und "Beschützern"? (SB)


Ohne Rücksicht auf Verluste soll der letzte Widerstand gebrochen werden


Seit einem halben Jahr beschützt das Nordatlantische Verteidigungsbündnis (NATO) die libysche Bevölkerung vor dem libyschen Militär. So zumindest lautet die offizielle Deklaration eines Krieges, dessen humanitäre Zweckbemäntelung sich ebenso schnell abgenutzt hat wie die ihrer Vorläufer in all den übrigen Kriegen, die die westliche Wertegemeinschaft in von Schauplatz zu Schauplatz leicht variierenden Koalitionen in den zurückliegenden Jahren begonnen hat. So ist es keine Frage eines mangelnden Erinnerungsvermögens, sondern direkte Folge einer willfährigen Unterordnung unter das Diktat des Stärksten, daß kaum noch die entlarvende und deshalb peinliche Frage nach den US-amerikanischen Kriegslügen gestellt wird, die den Sturmmarsch auf den Irak einläuteten, um durch Krieg und anschließende Besetzung in militärischer wie globalhegemonialer Absicht im Zweistromland einen weiteren westlichen Stützpunkt in der Region des Nahen und Mittleren Ostens zu schaffen.

Seit dem 17. März 2011, dem Tag, an dem die kriegsrechtfertigende UN-Resolution 1973 mit zehn zu fünf Stimmen vom sogenannten Weltsicherheitsrat verabschiedet wurde, führt die NATO nun in Libyen Krieg zum Wohle des libyschen Volkes. Beinahe ebenso peinlich, weil nicht minder entlarvend, ist schon heute die Erinnerung an den genauen Wortlaut dieser Resolution, beinhaltet sie doch die Errichtung einer Flugverbotszone (und nicht mehr!) ausschließlich zu dem Zweck, die libysche Bevölkerung vor Luftangriffen der libyschen Armee zu schützen. Tatsächlich konnte die libysche Luftwaffe binnen kurzem ausgeschaltet werden, die NATO kontrolliert faktisch seit Kriegsbeginn den gesamten Luftraum Libyens. Da in diesem wie in jedem Weltordnungskrieg die vorgebliche von der tatsächlichen Kriegsabsicht fein säuberlich getrennt werden muß, erübrigt sich die Frage, ob sich die NATO nicht binnen kurzem hätte vollständig zurückziehen müssen, da der durch Resolution 1973 legitimierte Kriegszweck - die libysche Bevölkerung vor Luftangriffen der eigenen Armee zu schützen - erreicht worden war.

Daß der tatsächliche Kriegsgrund im Sturz der Ghaddafi-Regierung wie auch der Einsetzung einer "Regierung" besteht, die im Gegenzug für ihre Inthronisierung bereit ist, sich zum Erfüllungsgehilfen bei der Durchsetzung der Interessen der führenden westlichen Staaten machen zu lassen, zeichnete sich spätestens Ende August in aller Deutlichkeit ab, als die sogenannten "Rebellen" durch die Luftunterstützung der NATO in der Lage waren, weite Teile des Landes unter ihre bzw. die Kontrolle der NATO zu bringen. Da dies auch für die Hauptstadt Tripolis zutraf, gilt die Regentschaft Ghaddafis seitdem - zumindest aus Sicht des Westens und der quasi als dessen Fußsoldaten fungierenden "Rebellen" - als beendet.

So ungeklärt der Verbleib des zum Diktator dämonisierten Regenten, mit dem die angreifenden NATO-Staaten zum Teil noch kurz vor Kriegsbeginn in geschäftlichen und politischen Verbindungen standen, ist auch die tatsächliche militärische Lage, von der sich in Hinsicht auf die vergangenen Wochen und Tage vor allem eines sagen läßt: Der Widerstand gegen die neuen Herrscher und ihre westlichen Verbündeten konzentriert sich auf zwei Städte: die Küstenstadt Sirte, deren Vorort Kasr Abu Hadio als Geburtsstätte Ghaddafis gilt, sowie die 150 Kilometer südlich von Tripolis gelegene Stadt Bani Walid.

Am 3. Oktober zog NATO-Generalsekretär Rasmussen ungeachtet der Tatsache, daß der Widerstand der als Ghaddafi-loyal bezeichneten Widersacher des von den NATO-Rebellen aufgestellten Nationalen Übergangsrates (NTC) bislang keineswegs gebrochen werden konnte, eine erste (Erfolgs-) Bilanz. Der "Einsatz" in Libyen - welch ein Narr, der dies als "Krieg" bezeichnen wollte - sei, so Rasmussen, ein "großartiger Erfolg". Als Manko benannte er keineswegs die rund 50.000 Menschen, die nach Angaben der Ghaddafi-Gegner im Zusammenhang mit den sich zuspitzenden Kampfhandlungen bislang getötet wurden, ebensowenig schlugen die 30.000 Verwundeten in seiner Bilanz negativ zu Buche. Der NATO-Generalsekretär monierte lediglich, daß sich während dieses Einsatzes technische Schwächen des Bündnisses in puncto Überwachung und Aufklärung gezeigt hätten.

Damit mag Rasmussen, wenn auch in verklausulierter Form, zum Ausdruck bringen wollen, daß die NATO mit dem gegenwärtigen Stand der Widerstandsbekämpfung nicht zufrieden ist. Namentlich der libysche Revolutionsführer Muammar Ghaddafi, der in Libyen, aber auch in der arabischen Welt wie auch der Afrikanischen Union mit dem anhaltenden Widerstand gegen den Nationalen Übergangsrat identifiziert wird, hat sich dem Zugriff der Invasoren bzw. mit der NATO verbündeten bzw. von ihr instrumentalisierten Milizen bislang entziehen können. Sein Aufenthaltsort ist ungewiß, und so darf spekuliert werden, daß die intensivierten Anstrengungen, den Widerstand Ghaddafi-loyaler Kräfte mit allen Mitteln zu brechen, auch dem Zweck geschuldet sind, den faktisch gestürzten Revolutionsführer in die Gewalt zu bekommen; möglicherweise ist ihm dasselbe Schicksal wie dem ebenfalls von einer willigen Koalition gestürzten früheren irakischen Präsidenten Saddam Hussein zugedacht.

Als vor knapp zwei Wochen, am 24. September, die als Ghaddafi-Hochburg behandelte Küstenstadt Sirte von NATO-Kampfflugzeugen angriffen wurde, während zeitgleich Truppen des Übergangsrates in die Stadt vorrückten, hieß es im Brüsseler Hauptquartier der NATO, daß in Sirte Ghaddafi-treue Truppen "brutal" gegen die Bewohner vorgingen. Mit dieser Erklärung, die sich nicht verifizieren läßt, da sich keine unabhängigen Berichterstatter in der Stadt aufhalten (können), versucht die NATO augenscheinlich, Anleihen zumindest am Inhalt der Resolution 1973 zu nehmen, derzufolge es bei diesem Militäreinsatz um den Schutz der libyschen Bevölkerung gehen sollte. Es mehren sich jedoch Hinweise darauf, daß es in Sirte und möglicherweise auch in Bani Walid, der zweiten Stadt, die als Widerstandshochburg gilt, zu einer für die gesamte Bevölkerung lebensbedrohlichen Lage gekommen ist, die dem erklärten Zweck der NATO-Intervention absolut Hohn spricht.

Seit längerem wird Sirte von der NATO bombardiert. Seit dem 1. Oktober kommt die Belagerung der Stadt durch die pro-westlichen Aufständischen hinzu. Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes ist die humanitäre Lage in der eingekesselten Stadt katastrophal. Menschen sterben, weil es den Ärzten in den Krankenhäusern an Medikamenten und Sauerstoff fehle, um die vielen Verletzten zu versorgen. Nach Angaben von Bewohnern, denen es gelungen ist, die Stadt zu verlassen, fehlt es dort auch an Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff. Das "Angebot", in einer zweitägigen Feuerpause die Stadt zu verlassen, ist unschwer als Androhung zu verstehen, beim Verbleib als feindlicher Kämpfer behandelt zu werden. Viele Bewohner, denen schlicht der Treibstoff fehlt, um dieser Aufforderung Folge leisten zu können, laufen Gefahr, durch die Luftangriffe der NATO oder die Gefechte zwischen den verfeindeten Truppen bzw. Milizen ums Leben oder zu Schaden zu kommen.

Von einer ernstzunehmenden Evakuierung der Bevölkerung kann nicht im mindestens die Rede sein. Die rigorose Abriegelung der Stadt durch die Truppen des Nationalen Übergangsrates verschärft nicht nur die Mangelversorgung der Bewohner, sondern läßt befürchten, daß an den als widerständisch geltenden Menschen ein Exempel statuiert werden soll, um im neuen Libyen klarzustellen, daß die Anhänger des alten Systems hier nicht nur keine Zukunft, sondern schärfste Repressionen zu erwarten haben. Kämpfer des Übergangsrates sollen sogar, wie inzwischen berichtet wurde [1], Versorgungskonvois des Internationalen Roten Kreuzes mit Waffengewalt zur Umkehr gezwungen und nicht nach Sirte hineingelassen haben. Bemühen sich NATO oder Weltsicherheitsrat, solchen Hinweisen nachzugehen und Aufklärung darüber zu leisten, was buchstäblich unter dem Bombenhagel der NATO-Flugzeuge geschieht?

Ebenfalls wurde berichtet, daß viele Verletzte in der Stadt wegen der anhaltenden Luftangriffe nicht einmal in die Krankenhäuser gebracht werden können. Dabei bieten die Krankenhäuser keinerlei Schutz vor weiteren Angriffen. Nach Angaben von Flüchtlingen sollen durch die NATO-Bomben in Sirte zivile Einrichtungen wie Schulen, Wohnhäuser und eben auch Krankenhäuser getroffen und zerstört worden sein [2]. Verifizieren lassen sich auch diese Angaben nicht. Ihnen stehen die Beteuerungen der Anti-Ghaddafi-Koalition gegenüber, eine große Zahl ziviler Opfer vermeiden zu wollen. Doch was bedeutet eine "große" Zahl in diesem Zusammenhang anderes, als die Inkaufnahme ziviler Opfer, die eben nur nicht ein bestimmtes oder vielmehr unbestimmtes Maß übersteigen möge?

Da die Angaben über die tatsächliche Lage in den bombardierten und belagerten Städten sich nicht bestätigen, aber ebensowenig widerlegen lassen, wären sofortige Anstrengungen des Weltsicherheitsrates, wenn er denn einer sein wollte, für einen bedingungslosen Waffenstillstand und eine Versorgung der notleidenden Bevölkerung Sirtes das Gebot der Stunde. Auf einen solch absurden Gedanken ist innerhalb der NATO allem Anschein nach noch niemand gekommen, und so müssen sich das Bündnis bzw. die politisch Verantwortlichen der NATO-Staaten fragen lassen, wie sie den behaupteten und im März in Resolution 1973 manifestierten Zweck, die libysche Bevölkerung vor Luftangriffen schützen zu wollen, aufrechterhalten wollen, wenn nun die allergrößte Gefahr für Leib und Leben der Libyer von ihren eigenen Kampffliegern auszugehen scheint. Wer rettet, anders formuliert, die libysche Bevölkerung vor einer Militärallianz, die im Verbund mit einheimischen Kämpfern die politischen Verhältnisse in Libyen neu ordnen will und dazu die humanitäre Karte gezogen hat mit der Behauptung, als Beschützer und Befreier ins Land gekommen zu sein?

Anmerkungen

[1] Großangriff auf Sirte. Neue Kämpfe nach Waffenstillstand. Von Simon Loidl, junge Welt, 06.10.2011, S. 6

[2] Das Massaker in Sirte. Von Patrick O'Connor, World Socialist Web Site, 4. Oktober 2011; im Schattenblick in MEDIEN\ALTERNATIVPRESSE: GLEICHHEIT/3863


6. Oktober 2011