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DILJA/1401: Verkehrte Welten (SB)


Obdachlosigkeit in der EU - Betroffene wandern in die "Dritte Welt" aus



Mit einer Selbstverständlichkeit, die der scheinbaren Unhinterfragbarkeit des Alphabets oder des Kleinen Einmaleins nicht nachsteht, werden in den reichen Ländern des Nordens Begriffe wie Entwicklungs- oder Dritte-Welt-Länder für all die Regionen der Erde verwendet, die im Vergleich zu den hochindustrialisierten Staaten als arm gelten. Verschiedene Welten zu postulieren, so als würden die damit bezeichneten Staatengruppen so beziehungslos nebeneinander existieren, als wenn sie sich auf verschiedenen Planeten befänden, stellt keineswegs nur eine sprachliche Ungenauigkeit dar. Der Entstehungszusammenhang des Begriffs "Dritte Welt" ist ohne den sogenannten Kalten Krieg, also die das vorige Jahrhundert beherrschende Systemauseinandersetzung zwischen dem kapitalistischen Westen und dem realsozialistischen Ostblock, nicht nachzuvollziehen, begann doch die Zählung vermeintlich verschiedener Welten mit diesen beiden antagonistischen Blöcken.

In einer vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen 1961/62 formulierten Definition wurden, wie im vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) herausgegebenen Journalisten-Handbuch "Entwicklungspolitik 89/90" angeführt, als "Erste Welt" all jene Staaten benannt, deren Volkswirtschaften hauptsächlich durch ihre Marktorientierung bestimmt sind, während als "Zweite Welt" all jene Staaten galten, deren Volkswirtschaften im wesentlichen eine zentrale Planung aufweisen. Als "Dritte Welt" definierte das UN-Gremium Staaten mit überwiegenden Tauschwirtschaften. Unerwähnt und unberücksichtigt, und das ganz sicher nicht ohne Grund, blieb in dieser Gemengelage pseudoneutraler Definitionsversuche das Erbe einer Kolonialisierung, die mit der formalen Entlassung zahlreicher Kolonien in eine De-facto-Unabhängigkeit in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts keinen tatsächlichen Schlußpunkt, sondern einen wesentlichen Qualifizierungssprung erfahren hatte.

Die Schuldknechtschaft, in der sich die jungen Staaten des Trikont, wie die Armutsregionen der angeblich ehemaligen Kolonien westlicher Okkupanten in Afrika, Asien und Lateinamerika in jener Zeit auch genannt wurden, alsbald wiederfanden, sollte sich im Vergleich zu der vorherigen direkten und räuberischen Inbesitznahme als ein wesentlich effizienteres Gängelband herausstellen, da ausländische Soldatenstiefel und Fremdherrscher durch ihre bloße Existenz weit eher zu Widerspruch und Widerstand reizten als die nun geltend gemachten, vermeintlich wirtschaftspolitisch begründbaren Notlagen und Abhängigkeitsverhältnisse. Von einer Ersten, Zweiten, Dritten, Vierten und wieviel weiteren "Welten" auch immer zu sprechen, offenbart die Zugriffsabsichten einer Interessenallianz, die die im Zuge der Kolonialisierung durchgesetzte Aufteilung der Welt aufrechterhalten und verfestigen möchte, indem das Gegeneinander von Räubern und Beraubten, von Ausbeutern und Ausgebeuteten, von Kolonialstaaten und Kolonien auf eine scheinbar neutrale Stufe gehoben wird.

Zur Klarstellung der historischen Zusammenhänge darf allerdings an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß die Staaten der "Dritten Welt" - einem Begriff, der heute noch von sehr vielen Menschen mit den Armutsregionen der Erde synonym gesetzt wird - diesem einst eine eigene Deutung gaben. Am 14. August 1952 hatte der französische Demograph Alfred Sauvy den Begriff Dritte Welt (auf französisch: Tiers Monde) in einem Artikel des L'Observateur verwendet in Anlehnung an den Dritten Stand, wie zu Zeiten der Französischen Revolution die von den ersten beiden, von allen Steuern befreiten Ständen, dem Klerus und dem Adel, ausgebeutete Bevölkerung bezeichnet worden war. Sauvy übertrug dieses Begriffsverständnis auf die Mehrheit der Weltbevölkerung, die sich in der Weltpolitik in einer dem Dritten Stand des französischen Absolutismus vergleichbaren Lage befand.

Am 18. April 1955, auf einer Konferenz in Bandung, griffen die anwesenden 29 afrikanischen und asiatischen Staaten den Begriff der "Dritten Welt" auf und reklamierten ihn für sich, wollten sie sich doch als ein Zusammenschluß armer Staaten verstanden wissen, die sich explizit gegen Kolonialismus und Rassismus stellen und nicht bereit sind, sich einer der beiden Großmächte anzuschließen oder, wie es wohl präziser formuliert wäre, zu unterwerfen. Aus diesem Verständnis sollte wenige Jahre später die Bewegung blockfreier Staaten, offiziell 1961 in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad gegründet, erwachsen. In diesem Zusammenhang bedeutete der Begriff "Dritte Welt" keineswegs, so wie in dem heute verflachten Wortverständnis, arme und unterentwickelte Staaten, sondern bezeichnete einen vorwiegend von afrikanischen und asiatischen Ländern gegründeten, militärisch neutralen dritten Block, der sich für ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben aller Völker ebenso einzusetzen suchte wie für Abrüstung zwischen den beiden Großmächten zur Abwendung der Gefahr eines dritten Weltkrieges. Noch heute umfaßt die Bewegung blockfreier Staaten 118 Staaten, in denen zusammengenommen rund 55 Prozent der Weltbevölkerung leben.

Im Zuge der Verschärfung sozialer wie politischer Widersprüche, die verharmlosend oft als Weltwirtschaftskrise bezeichnet werden, ist es in vielen Staaten des reichen Nordens zu Entwicklungen und Verwerfungen gekommen, die das Nord-Süd-Gefälle als ebenso fragwürdig erscheinen lassen wie die Beibehaltung von Bezeichnungen, die, nach welchen Definitionskriterien auch immer, vermeintlich unterschiedliche Welten numerisch ordnen. In Hinsicht auf Griechenland, aber auch andere EU-Staaten wie Spanien oder Portugal ist es durchaus üblich geworden, von bereits eingetretenen oder doch zumindest drohenden "Dritte-Welt-Verhältnissen" zu sprechen, um deutlich zu machen, welch katastrophalen Stand die Armutsentwicklung in diesen Ländern bereits erreicht hat.

Eine solche Sicht offenbart eine gewisse Ignoranz all denjenigen Staaten gegenüber, die in den Regionen des Südens einen eigenständigen sozialen und politischen Entwicklungsweg eingeschlagen und dabei in einer Kürze nachweisbare und unbezweifelbare Fortschritte erzielt haben, die nur diejenigen erstaunen können, die den Versprechen der einstigen Kolonialmächte, durch Entwicklungshilfe und Wirtschaftsförderung ihren ehemaligen Kolonien auf die Sprünge helfen zu wollen, Glauben geschenkt haben. Auf leisen Sohlen und von der vorherrschenden Medienwelt weitgehend unberücksichtigt könnte es insofern längst zu einer Umkehrung der Verhältnisse gekommen sein, zu der Entwicklung eines Süd-Nord-Gefälles. Dies ließe sich womöglich darüber definieren, daß in einer Vielzahl von Staaten des Trikont die Bemühungen um die Realisierung sozialistischer oder auch sonstiger Ideen und Gesellschaftsutopien bereits zu sozialen Verhältnissen geführt haben, die für die Bevölkerungen der jeweiligen Länder in ihrer Gesamtheit weitaus günstiger und sicherer sind als die von Armut, Obdachlosigkeit, mangelnder Gesundheitsversorgung und Bildung geprägte Lage, in der sich in einem rasant anwachsenden Tempo immer mehr EU-Bürgerinnen und -Bürger befinden.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Regierung Ecuadors hat den spanischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt, weil sie die Rechte eines in Spanien lebenden Landsmannes verletzt sieht, der einen hohen Kredit bei einer spanischen Bank aufgenommen hatte, um sich ein Haus zu kaufen, und dann, als er die Raten nicht mehr zahlen konnte, den Kredit nicht abtreten konnte. Er verlor seine Unterkunft und behielt seine Schulden, die er bis an sein Lebensende nicht wird abtragen können. So wie ihm geht es in Spanien sehr vielen Menschen. Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise wurden auf Antrag der Banken, die zum Teil allein durch Steuergelder am Leben erhalten werden, über 300.000 Zwangsräumungen durchgeführt mit der Folge, daß Hunderttausende Menschen obdachlos wurden.

Als der Außenminister Ecuadors, Ricardo Patiño, in der vergangenen Woche in Spanien zu Besuch war, lud er seine dort lebenden Landsleute ein, nach Hause zu kommen. Die Lage in Ecuador habe sich in den vergangenen Jahren so sehr verbessert, daß die Regierung nun in der Lage sei, Menschen aufzunehmen, die vor der Krise Zuflucht suchten. 15.000 der rund 400.000 aus Ecuador stammenden Menschen sollen direkt von der sogenannten Hypothekenkrise betroffen sein. Die ersten 300 von ihnen werden, wie "junge Welt" am 23. Januar berichtete, nach Angaben Patiños mit Hilfe der Regierung in den kommenden drei Monaten nach Ecuador zurückkehren.

Auf der Basis der vorherrschenden Weltordnung und ihrer Begrifflichkeiten vielleicht unerklärlich, aber wahr: Menschen aus dem sich reich wähnenden Norden nehmen Zuflucht in einem Staat, der den dominierenden Weltmächten als "Entwicklungsland" gilt. Aus Sicht Ecuadors ist dies kein Manko, arbeitet doch die Regierung von Präsident Correa erklärtermaßen und mit Erfolg an der sozialen Entwicklung des Landes. In entgegengesetzter Richtung ausgedrückt könnte formuliert werden, daß die Armuts- und Elendsverhältnisse, die die einstigen kolonialen bzw. neokolonialen Staaten in den übrigen, sich inzwischen emanzipierenden Regionen der Erde hinterlassen haben, längst im Begriff stehen, auf die Kernstaaten des fest im Griff neoliberaler Wirtschaftskonzepte stehenden, aus Sicht seiner Eliten noch immer reichen Nordens zurückzuschlagen und Bevölkerungen zu treffen, die sich - wie in Griechenland, Spanien und weiteren "Krisenstaaten" der EU - zunehmend gezwungen sehen, sich ihrer Haut zu erwehren.


28. Januar 2013