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ASIEN/599: Nordkoreas Atomtest beflügelt Japans Militaristen (SB)


Nordkoreas Atomtest beflügelt Japans Militaristen

Taro Aso bereitet Japans Wiederaufnahme von Waffenexporten vor


In kaum einem anderem Land regen sich Politik und Medien über Nordkoreas jüngsten Test einer zweiten Atombombe und mehrerer Kurstreckenraketen mehr auf als in Japan. Die Aufregung hat weniger mit der von Nordkorea ausgehenden Bedrohung als vielmehr mit dem Wunsch reaktionärer Teile der japanischen Elite, sich der pazifistischen Verfassung zu entledigen, die dem Land der aufgehenden Sonne nach der verheerenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg von den USA auferlegt wurde, damit Japan auf der internationalen Bühne wieder als Großmacht auftreten kann. Durch das Ausspielen der nationalistischen Karte wollen Japans Militaristen von den großen wirtschaftlichen Problemen ihres Landes offenbar ablenken. Im ersten Quartal 2009 ist das Bruttosozialprodukt Japans um 4 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurückgegangen. Es handelt sich hier um den stärksten wirtschaftlichen Rückgang in Japan seit Beginn der entsprechenden statistischen Erhebungen 1955 und den größten aller Industrienationen in der aktuellen Krise. Allein die japanischen Exporte gingen in den ersten drei Monaten dieses Jahres um 24 Prozent im Vergleich zum letzten Quartal 2008 zurück.

Bereits 1998 hatte der Flug einer nordkoreanischen Rakete vom Typ Taepodong-1, die japanisches Staatsterritorium überquerte, bevor sie in den Pazifik stürzte, die Regierung in Tokio dazu veranlaßt, sich formell am Raketenabwehrsystem der USA zu beteiligen. Durch den Schulterschluß der Japaner konnte das Lieblingsprojekt von Amerikas Rüstungsfetischisten, das Milliarden von Dollar gekostet und trotzdem bei bisherigen Tests lediglich durch Mißerfolge geglänzt hat, vor dem Rotstift der demokratischen Regierung Bill Clintons gerettet werden. Unter dem Republikaner George W. Bush und dessen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wurde die Zusammenarbeit zwischen Japan und den USA im Bereich Raketenabwehr forciert und Tokio noch enger in die Containment-Politik Washingtons gegenüber der Volksrepublik China eingebunden.

Beim jüngsten Start einer nordkoreanischen Langstreckenrakete am 4. April - mit der die Verantwortlichen in Pjöngjang nach eigenen Angaben keinen Waffentest durchführen, sondern einen Kommunikationssatelliten ins All befördern wollten, nahmen die Reaktionen von Politik und Medien in Japan hysterische Züge an. Bereits Wochen vor dem Start berichteten die japanischen Medien über die Gefahr, daß Teile der Rakete auf Japan stürzen könnten. Es wurden sogar Raketenabwehrbatterien auf die Nordinsel Hokkaido und Kriegsschiffe in die nördlichen Küstengewässer verlegt, um notfalls größere herunterfallende Trümmerteile ab- bzw. kleinschießen zu können. Hier handelte es sich um eine rein symbolische Handlung, denn die Wahrscheinlichkeit, daß die aufgefahrenen Systeme die ihnen zugemutete Aufgabe hätten erfüllen können, lag nahezu bei null. Raketen sind in allererster Linie Offensivwaffen. Sich mit einer Rakete vor einer Rakete verteidigen zu wollen ist, als würde man versuchen sich mit einer Kugel vor einer Kugel zu schützen. In beiden Fällen ist die Geschwindigkeit des Projektils des Angreifers zu hoch und die Reaktionszeit des Verteidigers zu gering, als daß letzterer sich wirkungsvoll wehren könnte.

Für die Richtigkeit dieser These spricht die Wortwahl japanischer Militärexperten nach Nordkoreas zweitem - und zugleich erstem erfolgreichen - Atomtest am 25. Mai und seinen praktisch parallel durchgeführten Raketentests. In einem am 26. Mai erschienen Bericht der angesehenen US-Tageszeitung Christian Science Monitor, die seit einigen Monaten ausschließlich im Internet erscheint, verwies Peter Ford auf bezeichnende Äußerungen zweier einflußreicher Vertreter der japanischen Hardliner-Fraktion. Der ehemalige Verteidigungsminister und heutige Parlamentsabgeordnete Gen Nakatani hatte am selben Tag auf einer Sitzung der regierenden Liberal-Demokratischen Partei erklärt: "Unser Land sollte die Fähigkeit besitzen, Raketenbasen anzugreifen, um jeden Abschuß zu verhindern." Angesichts der jüngsten Schritte der Nordkoreaner im rüstungstechnologischen Bereich stoßen laut Ford Forderungen wie die Nakatanis nach einer japanischen "Erstschlagskapazität" innerhalb der LDP auf immer mehr Zustimmung. Ford zitierte zudem Toshiyuki Shikata, Juraprofessor an der Universität Teikyo und ehemaliger General der Selbstverteidigungskräfte Japans, wie folgt: "... wir sollten aktive Raketenabwehr ... Angriffe auf feindliche Stützpunkte in Erwägung ziehen. Und Japan sollte seine militärische Stärke noch schneller ausbauen."

Japans Streitkräfte sind mit rund 240.000 Mann zwar personell nicht besonders groß, gelten jedoch als die am besten ausgerüsteten nach denen der USA. Der Eine-Million-Mann-Armee Nordkoreas steht Südkorea mit 655.000 eigenen Soldaten, unterstützt von einem Expeditionskorps der USA mit 38.000 Mann, gegenüber. Japan und Südkorea stehen zudem als formelle Verbündeten der USA unter dem Schutz des amerikanischen Atomwaffenarsenals. Vor diesem Hintergrund sollte man das derzeitige Säbelrasseln auf der koreanischen Halbsinsel, nachdem Südkorea in Reaktion auf den Atomtest des Nordens angekündigt hat, der Proliferation Security Initiative (PSI) der USA beitreten zu wollen, und Pjöngjang im Gegenzug den seit 1953 geltenden Waffenstillstand aufgekündigt hat, nicht überbewerten.

Gegen Ende eines Artikels, der am 26. Mai bei der New York Times unter der Überschrift "Tested Early by North Korea, Obama Has Few Options" erschienen ist, verwendet der Reporter David Sanger, der als Multiplikator neokonservativer Kriegspropaganda einschlägig bekannt ist, einige Formulierungen, die klar erkennen lassen, wie sehr die Aufregung um Nordkoreas Atomtests aufgebauscht ist:

Doch wie japanische und südkoreanische Regierungsvertreter zugeben, machen sie sich weniger Sorgen wegen eines direkten Angriffs des Nordens - was mit ziemlicher Sicherheit eine verheerende, von den USA angeführte Reaktion nach sich zöge - als wegen der Tatsache, daß Nordkorea seine zweifach getestete Nuklearwaffentechnologie auf dem Schwarzmarkt verkaufen könnte, wie es seine Raketen- und Reaktortechnologie im Nahen Osten verkauft hat.

"Wir schlagen uns mit demselbem Problem herum, das Bush hatte. Die Gefahr besteht nicht darin, daß sie eine Atomwaffe abfeuern könnten, sondern daß sie nukleares Material verkaufen", sagte ein Geheimdienstvertreter.

Nordkorea verkauft seine Raketen nicht "auf dem Schwarzmarkt", sondern ganz regulär an Länder wie Syrien, die den USA die Gefolgschaft verweigern und deshalb von Washington als "Schurkenstaaten" gebrandmarkt werden. Bis heute gibt es auch keinen Beweis dafür, daß Nordkorea jemals Nukleartechnologie in den Nahen Osten exportiert hat, sondern lediglich die Behauptung der CIA, die bekanntlich nicht die verläßlichste aller Quellen ist, daß die israelische Luftwaffe im September 2007 bei einem "Überraschungsangriff" in Syrien einen geheimen, noch im Bau befindlichen, nordkoreanischen Atomreaktor in die Luft gejagt hätte. Syrien und Nordkorea bestreiten die an ihre Adresse seitens Tel Avivs und Washingtons gerichteten Vorwürfe vehement.

Doch ein anderer Aspekt der Sangerschen Berichterstattung in der altehrwürdigen NY-Times - von der übermäßigen Benutzung anonymer Quellen einmal abgesehen - gibt zu denken. Wenn der Export nordkoreanischer Rüstungstechnologie in den Nahen Osten oder andere fern von Ostasien liegende Teile der Welt eine größere Bedrohung für Japan und Südkorea als die Gefahr eines direkten Angriffs Nordkoreas darstellt, dann spricht das Bände darüber, wie gering die von Pjöngjang für Seoul und Tokio ausgehende Kriegsbedrohung tatsächlich ist. Alle drei Parteien sind ohnehin bis an die Zähne bewaffnet und halten sich damit gegenseitig in Schach. Des weiteren sorgen im Hintergrund die offiziellen Atommächte China, Rußland und die USA dafür, daß die Lage niemals völlig außer Kontrolle gerät.

Vor diesem Hintergrund muß es einen anderen Grund geben, warum in Japan die Vorgänge im kommunistischen Eremitenreich Kim Jong-ils für soviel Wirbel sorgen. Ein Artikel, den Leo Lewis, Asia Business Correspondent der Londoner Times, in nämlicher Zeitung am 25. Mai veröffentlicht hat und damit noch vor dem nordkoreanischen Atomtest verfaßt haben muß, läßt aufhorchen. Laut Lewis plant in Tokio Premierminister Taro Aso in diesem Sommer das Verbot, das sich Japan 1976 hinsichtlich des Waffenexports freiwillig auferlegt hat, aufzugeben. Der bisher einzige Bruch mit dieser Selbstverpflichtung war die 2005 erteilte Genehmigung Tokios für eine Reihe von japanischen Unternehmen, sich an der Entwicklung des Raketenabwehrschirms der USA zu beteiligen. Die Teilnahme am diesem umstrittenen Projekt hat sich Tokio bisher rund fünf Milliarden Dollar kosten lassen. Die kontroverse Entscheidung Asos, welche der japanischen Rüstungs- und High-Tech-Industrie gewaltige neue Perspektiven eröffnen würde, dürfte laut Lewis "auf den erbitterten Widerstand" der "meistens pazifistischen Mittelschicht" Japans stoßen. Daher die grellen Farben, mit denen derzeit Japans Medien im Dienste der Politik und des Großkapitals die nordkoreanische Bedrohung an die Wand malen.

28. Mai 2009